Der Bruch zwischen den Naturbegriffen Goethes undder Moderne

I. Einleitung

Über Goethe ist so viel gesagt und geschrieben worden, daß man den Eindruck haben muß, es gäbe bei diesem einzigartigen Menschen nichts Neues zu entdecken. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Wer sich näher mit dem Naturwissenschaftler Goethe beschäftigt und wer dabei völlig vorurteilsfrei vorgeht und sich nicht von der 200 Jahre alten Rufmordkampagne der herrschenden Naturwissenschaft gegen Goethe irre machen läßt, der wird in dessen natur­wissenschaftlichen Schriften einen bisher weitgehend unbekannten Kontinent des Denkens entdecken. Gemeint ist der Begriff Goethes von der Natur, der uns modernen Menschen fremd und unverständlich geworden ist und der sich von unserem modernen Naturverständnis grundsätzlich unterscheidet. Die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Goetheschen und dem modernen Naturbegriff wird erkennbar, wenn die Goethesche und die moderne Naturwissen­schaft gegenübergestellt werden.

Der englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton, der hundert Jahre vor Goethe lebte, begründete eine neue Art von Naturwissenschaft, die sich heute „moderne Naturwissen­schaft“ nennt, und in der Folge auch ein neues Zeitalter, welches sich ebenfalls „modern“ nennt und in geistiger und materieller Hinsicht auf den Schultern dieser Wissenschaft steht. Die neue Naturwissenschaft, deren Aufkommen Goethe selbst miterlebte, unterscheidet sich grundlegend von der Naturwissenschaft, wie sie Goethe verstanden und betrieben hat. Diese neue Naturwissenschaft krankt an einer maßlosen Selbstüberschätzung und behauptet bis zum heutigen Tag, daß sie die einzig richtige und daher die einzig mögliche wäre. Dies ist jedoch ein Irrtum.

II. Die geistigen Grundlagen der modernen Naturwissenschaft

Die geistigen Grundlagen der modernen Naturwissenschaft wurden während eines historisch extrem kurzen Zeitraums im 17. Jahrhundert gelegt. Dieser Zeitraum, in dem eine regelrechte Explosion auf geistigem Gebiet stattfand, wird als „wissenschaftliche Revolution“ bezeichnet. Die vier Männer, die diese Revolution hervorriefen, waren Francis Bacon, René Descartes, Galileo Galilei und Isaac Newton, sie gelten als die Gründungsväter der modernen Naturwissenschaft. Bacon gab die Parole aus: „Wissen ist Macht!“ und forderte die Wissen­schaftler auf, die Natur auf die Folter zu spannen, um sie zur Preisgabe ihrer Geheimnisse zu zwingen; als Ziel der neuen Wissenschaft wird die Beherrschung der Natur durch den Menschen definierti

Der Beitrag von Descartes an dieser Entwicklung bestand in der analytischen oder zerglie­dernden Denkmethode, wonach Gedanken und Probleme, die sich als Ganzes einer Bear­beitung entziehen, in Teile zerlegt und diese in ihrer logischen Ordnung aufgereiht werden können.ii

Galilei führte das Experiment in die Wissenschaft ein und lenkte die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die quantifizierbaren Eigenschaften der Materie. Sein Credo: „Zu messen, was man messen könne, und meßbar zu machen, was man noch nicht messen könne“, ist zu einem methodischen Grundaxiom der modernen Naturwissenschaft ge­wordeniii

Newton veröffentlichte im Jahre 1687 sein epochemachendes Werk Philosophiae naturalis principia mathematicaiv (Mathematische Prinzipien der Naturlehre) und legte damit die Grundlagen für eine neue Art von Naturwissenschaft, die sich heute als „modern“ bezeichnet; die wissenschaftliche Revolution erreichte damit ihren Gipfelpunkt und fand gleichzeitig ihren Abschluß. Newton war es erstmals in der menschlichen Geschichte gelungen, ein für ganz unterschiedliche physikalische Phänomene gültiges Prinzip in eine mathematische Form zu bringen. Die nach ihm benannten Gesetze der Mechanik stellten die erste geschlossene mathematische Theorie der Welt dar, mit ihrer Hilfe wurde es möglich, alle damals bekannten Phänomene der terrestrischen und Himmelsmechanik mathematisch zu beschreiben und einer Voraussage zugänglich zu machen.

Angesichts der triumphalen Erfolge seiner Theorie glaubte Newton der neuen Wissenschaft den Weg mit den Worten weisen zu können: „Lasset die substantiellen Formen und die ver­borgenen Qualitäten beiseite und führt die Natur auf mathematische Gesetze zurück.“v Dieses Credo, dem sie bis heute folgt, hat die neue Wissenschaft zu einem zentralen Dogma erhoben; danach ist nur das existent und erkennbar, was analysiert, gemessen und mathematisch be­schrieben, was „objektiviert“ werden kann. Durch die Erfolge, welche die moderne Naturwissenschaft und die von ihr hervorgerufene Technik bei der Beherrschung der Natur errungen haben, hat sich dieses Credo zu einem zentralen Dogma verfestigt; dieses Dogma stellt das geistige Fundament dar, auf dem sich die neue Wissenschaft von der Natur gründet.

Die von der modernen Naturwissenschaft verwendete zergliedernde oder analytische Methode führt immer auf Phänomene, die sich messen und mathematisch beschreiben lassen, mit anderen Worten, diese Methode führt immer auf materielle, objektivierbare Phänomene. Alles das, was das Lebendigsein, was das Sinnliche und was das Geistige ausmacht, wird durch die Zergliederung aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß ausgeschlossen. So kommt es, daß die moderne Naturwissenschaft bis zum heutigen Tag noch nicht zu der Er­kenntnis vorgestoßen ist, daß zwischen einem Stein und einem Menschen ein wesentlicher Unterschied, d. h. ein Unterschied im Wesen besteht. Da diese Wissenschaft mit ihrer Metho­dologie immer wieder auf materielle Phänomene stößt, behauptet sie, daß es in der Realität ausnahmslos nur materielle Phänomene gibt und andersartige Phänomene reine Gedankenge­spinste sind, die in der Wissenschaft nichts zu suchen haben. Dies ist kurz gesagt der Inhalt des materialistischen Weltbildes der modernen Naturwissenschaft.

Das materia­listische Zentraldogma der modernen Wissenschaft ist am eindeutigsten von Albert Einstein formuliert worden. In der Rede, die Einstein zum 60. Geburtstag von Max Planck gehalten hat, heißt es:

… die allgemeinen Gesetze, auf die das Gedankengebäude der theoretischen Physik ge­gründet ist, erheben den Anspruch, für jedes Naturgeschehen gültig zu sein. Aus ihnen sollte sich auf dem Wege reiner gedanklicher Deduktion … die Theorie eines jeden Naturprozesses einschließlich der Lebensvorgänge finden lassen. Und weiter heißt es dann: Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist.vi

Die Anwendung der von Newton und seinen Nachfolgern aufgefundenen physikalischen Ge­setze in der Technik war der Beginn eines beispiellosen Siegeszuges der modernen Natur­wissenschaft und dieser Siegeszug wiederum war und ist der Grund für den kritiklosen Glauben der modernen Gesellschaften, daß die von dieser Wissenschaft verwendeten Methoden, die von ihr eingeführten Begriffe und das von ihr propagierte Weltbild richtig sind. Die Denkweise der modernen Naturwissenschaft hat längst Besitz ergriffen von Wirtschaft, Politik, Bildungswesen und zunehmend von der ganzen Kultur. Symptomatisch ist das dem Newtonschen Credo geschuldete und inzwischen allgegenwärtige Totschlagargument: „Es muß sich rechnen“.

Erst in letzter Zeit hat die moderne Naturwissenschaft mit zunehmenden Akzeptanz­problemen zu kämpfen, der Grund ist die beispiellose Zerstörung der Natur und damit der Lebensgrundlage des Menschen durch die von keiner Selbstbeherrschung gezügelten Beherr­schung der Natur durch den Menschen. Und genau hier kommt der Naturwissenschaftler Goethe ins Spiel.

III. Goethes Kritik an den geistigen Grundlagen der Newtonschen Naturwissenschaft

Goethe hat die Losung „Wissen ist Macht“ sowie das dreiteiliges Credo der sich heute „modern“ nennenden Naturwissenschaft Newtons, wonach nur das existiere, was sich analy­sieren, messen und mathematisch beschreiben läßt, in allen seinen Teilen in Frage gestellt. Im Zentrum Goetheschen Denkens steht sein Credo: „Der Mensch gehört mit zur Natur!“ (WA IV 48, S. 169). Das Wort „Mitwelt“, welches Goethe anstelle des heutigen Wortes „Umwelt“ benutzte, erhellt schlaglichtartig den Unterschied seines Denkens zum Denken von uns „modernen“ Menschen.

Der von Bacon geforderten Herrschaft über die äußere Natur hat Goethe die Forderung entgegengesetzt, daß diese Herrschaft die Herrschaft des Menschen über sich selbst einschließen müsse. Voraussetzung dafür ist die durch die Naturwissenschaft zu leistende Selbsterkenntnis des Menschen. Der herrschenden Naturwissenschaft hat Goethe den Satz: „Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich“ (WA I 42b, S. 174) ins Stammbuch geschrieben.

Unmissverständlich hat Goethe die seit Descartes übliche einseitige Anwendung der Analyse in der Naturwissenschaft angeprangert. In der Schrift Analyse und Synthese aus dem Jahre 1829 heißt es: „Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft“ (WA II 11, S. 70/71). Die ausschließliche Anwendung der analytischen Methode in der Naturwissen­schaft ist für Goethe geistiger Kretinismus; er sagt: „Da wir vorher mit dem Ganzen als Riesen standen, sehen wir uns als Zwerge gegen die Teile.“vii

Auch gegen den seit Galilei und Newton aufgekommenen Irrglauben der herrschenden Naturwissenschaft, wonach nur das existiere, was sich quantifizieren und mathematisch erfassen läßt, ist Goethe Sturm gelaufen. Er sagt dazu:

Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißraucht, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existiere, wenn es sich mathematisch beweisen läßt (WA V 5, S. 331).

Wenn man die Kritik Goethes an den geistigen Grundlagen der zur Alleinherrschaft gelangten Newtonschen Naturwissenschaft mit einem Wort zusammenfassen will, so ist es die „Einseitigkeit“, die Goethe dieser Wissenschaft vorwirft, und die Tatsache, daß sie immer wieder den „Teil für das Ganze“ setzt. Er fordert Erkenntnissuche nicht nur nach außen, sondern auch nach innen; Anwendung nicht nur der Analyse, sondern auch der Syntheseviii; nicht nur das Meßbare, Berechenbare und Objektivierbare gehören zur Natur, sondern auch das Unmeßbare, Unberechenbare und Subjektive.

Für die rein materialistische Sicht der vielschichtigen Welt durch die herrschende Naturwissenschaft hat Goethe nur Verachtung übrig gehabt, er spricht von einer grauen, totenhaften und gespenstischen Schauderwelt (WA I 28, S. 68). In der Kampagne in Frank­reich schreibt er über sich, er sei „unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellt“ (WA I 33, S. 195/6). Den materialistischen Naturbegriff Newtons, der sich in desses Credo widerspiegelt, hat Goethe als „Newtonischen Irrtum“ (WA II 5b, 215) bezeichnet.

IV. Die Beziehungen zwischen Goethes Urphänomenen und der Seelenlehre des Aristoteles

Worin besteht die gedankliche Leistung Goethes auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, die er noch vor seiner Leistung als Dichter gewürdigt wissen wollte? (WA II 6, S. 126). Grundlage für diese Leistung war ein ungeheurer Erfahrungsschatz, zu erwähnen sind seine intensiven Studien unter anderem auf botanischem, insektenkundlichem und knochenkundlichem Gebiet, die ihn zu Erkenntnissen über die Metamorphose der Pflanzen und Tiere führten. Bekannt ist auch seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens, womit er nachwies, daß der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nicht auf organische Unterschiede zurück­zuführen ist, wie bis dahin angenommen.

Goethe ist nicht bei Einzelphänomenen stehen geblieben, sondern zu immer größeren Verallgemeinerungen vorgedrungen, bis zu den Fragen: „Was macht die Pflanze eigentlich zur Pflanze, das Tier zum Tier und den Menschen zum Menschen?“ In einem ungeheuren Ab­straktionsprozess hat er alle existierenden Pflanzen zusammengedacht und dafür den Begriff „Urpflanze“ geprägt, umgekehrt betrachtet er jede existierende Pflanze als einen Sonderfall der Urpflanze. An die Frau von Stein schreibt er, daß die Urpflanze nur gedacht werden, in Wirklichkeit aber nicht existieren könne (WA IV 8, S. 232).

Goethe hat dem rein Materiellen und Unbelebten in der Natur insgesamt drei Ur­phänomene des Lebendigen gegenübergestellt, die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und die jeweils den Typus einer ungeheuren Vielzahl von Einzeldingen repräsentieren. Die drei, nicht aufeinander reduzierbaren Urphänomene sind die „Urpflanze“, das „Urtier“ und das „Urphänomen Mensch“. Mit dem Postulat der drei Urphänomene vollzieht Goethe den Schritt von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie.

Die drei Goetheschen Urphänomene erscheinen sofort in einem helleren Licht, wenn man zu ihrer Veranschaulichung die Seelenlehre des Aristoteles heranzieht.ix Goethe hat sich mehrfach auf Aristoteles berufen, so in der Farbenlehre, der Poetik und Ästhetik. Mir ist jedoch kein Hinweis bekannt, daß er die Seelenlehre des Aristoteles im einzelnen gekannt hat; es scheint eher so, daß er über Dritte in Umrissen von dieser Lehre Kenntnis erhieltx. Die vier Stufen der Natur, die Goethe in seinen Morphologischen Schriften unterscheidet, deuten darauf hin: die vier Stufen sind „das Unorganische, das Vegetative, das Animale und das Menschliche“ (WA II 6, S. 446). Die folgenden zwei Zeugnisse weisen darauf hin, daß Goethe Nachholbedarf in Bezug auf die aristotelische Naturphilosophie verspürte: „Stünden mir jetzt, in ruhiger Zeit jugendlichere Kräfte zu Gebot, so würde ich mich dem Griechischen völlig ergeben, trotz aller Schwierigkeiten, die ich kenne; die Natur und Aristoteles würden mein Augenmerk sein“ (WA IV 42, S. 104) und: „Aristoteles hat die Natur besser gesehen als irgend ein Neuerer“ ( WA V 6, S. 329).

Nach Aristoteles hat jedes Lebewesen etwas, was ein unbelebtes Ding nicht hat; er nennt dieses „Etwas“ Seele. In seiner Seelenlehre definiert Aristoteles die „Seele“ als das „Prinzip der belebten Wesen“xi; die Seele ist diesen Wesen eigen und nicht von einer höheren Macht geliehen oder verliehen, d. h. Seele ist etwas Natürliches und nicht etwas Übernatür­liches. Die aristotelische Seele ist somit etwas völlig anderes, als das, was uns durch die christliche Dogmatik unter der Bezeichnung „Seele“ überliefert wurde.

Die Seele kann nach Aristoteles aus mehreren Teilen bestehen. Der Seelenteil, den ausnahmslos alle Lebewesen im Gegensatz zu den unbelebten Dingen besitzen, wird als „vegetative Seele“ oder „Vitalseele“ bezeichnet; die vegetative Seele verleiht den Lebewesen die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme, zum Wachstum und zur Fortpflanzung. – Nun hat aber das einfachste Tier etwas, was keine der Pflanzen, auch nicht die am höchsten stehende besitzt; es scheint also so, als ob Tiere mehr Seele besitzen als Pflanzen.xii Dieses „Mehr“ an Seele rührt nach Aristoteles von einem Seelenteil her, den die Tiere zusätzlich zur vegetativen Seele besitzen, dieser Seelenteil wird als „sensitive Seele“ bezeichnet. Aristoteles nennt das, was die Tiere, nicht aber die Pflanzen besitzen, „ein Mittleres“xiii; heute sagen wir dazu „zentrales Nervensystem“, dieses ist für die niedere Gehirntätigkeit und das niedere oder geistlose Bewußtsein der Tiere und Menschen verantwortlich. – Und schließlich hat der Mensch etwas, was keines der Tiere, auch nicht das am höchsten stehende Tier besitzt. Der Mensch scheint damit wiederum mehr Seele zu besitzen als ein Tier; dieses „Mehr“ ist der als „Geistseele“ bezeichnete Seelenteil, der ausschließlich dem Menschen zukommt. Die Geist­seele ist Ursprung der höheren Gehirntätigkeit und des höheren oder geistigen Bewußtseins des Menschen; sie verleiht dem Menschen, und nur ihm, die Fähigkeit des durch Sprache und Schrift vermittelten begrifflichen Denkens. – Nach Aristoteles stellt die Reihe vegetative Seele – sensitive Seele – Geistseele eine Rangfolge dar, d.h. der ranghöhere Seelenteil herrscht über den rangniedereren.xiv

Die Grundbegriffe der Goetheschen Naturphilosophie, „Urpflanze“, „Urtier“, „Ur­phänomen Mensch“, sind völlig zwanglos mit denen der Aristotelischen Naturphilosophie, „vegetative Seele“, „sensitive Seele“, „Geistseele“, in Beziehung zu setzen. Man kann diese Beziehungen in Form symbolischer Gleichungen ausdrücken:

Urpflanze = (materieller) Körper + vegetative Seele;
Urtier = Körper + vegetative Seele + sensitive Seele;
Urphänomen Mensch = Körper + vegetative Seele + sensitive Seele + Geistseele.

Anschaulicher ist eine pyramidenförmige Darstellung, aus der unmittelbar hervorgeht, daß die höherrangigen Prinzipien oder Seelenteile über die niederrangigen herrschen. Das Leben baut sich danach wie eine Stufenpyramide auf, von den niederen zu den höheren Stufen; die Pyramide besteht bei den Pflanzen aus zwei, bei den Tieren aus drei und bei den Menschen aus vier Stufen. Die unterste Stufe besteht jeweils aus dem (materiellen) Körper des jeweiligen Lebewesens.

Goethe spricht von Aristoteles als von einem Baumeister, der sich das Natur­gebäude pyramidenartig in die Höhe gebaut denkt (WA II 3, S. 141). Schiller benutzt im Blick auf den Naturwissenschaftler Goethe ebenfalls das Bild vom Baumeister, wenn er 1794 in seinem Geburtstagsbrief an Goethe kurz nach der denkwürdigen „freundlichen Begegnung“ in Jena schreibt:

Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen […] Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee (SNA, Bd. 27, S. 25).

Schiller hat wie kein noch so prominenter Vertreter der modernen Naturwissenschaft die wahre Bedeutung der Goetheschen Naturwissenschaft erkannt, die den Menschen als Teil der Natur ansieht und deren höchstes Ziel es ist, Auskunft über den Menschen zu erlangen.

Dem ganzheitlichen Weltbild Goethes und Aristoteles' steht das Weltbild der modernen Naturwissenschaft gegenüber. Diese Wissenschaft geht davon aus, daß alle natürlichen Dinge eine materielle Grundlage haben. Sie interpretiert den richtigen Satz „Alles in der Natur ist auch materiell“ um und behauptet: „Alles in der Natur ist nur materiell“. Durch das Wörtchen „nur“ wird die Sicht auf die Welt grundlegend verändert. Die von dem ganzheitlichen Weltbild beschriebene vielschichtige Wirklichkeit wird plattgewalzt auf eine materielle Teilwirklichkeit. Der Stufenaufbau der natürlichen Dinge wird negiert, Unbelebtes, Pflanzen, Tiere und Menschen sollen sich nicht mehr prinzipiell (d.h. hinsichtlich der Art und Anzahl der obwaltenden Prinzipien), sondern allein hinsichtlich ihrer Komplexität unter­scheidenxv. Diese Behauptung, die von der modernen Naturwissenschaft allgemein akzep­tiert worden ist, wurde aufgestellt, bevor es diese Wissenschaft auch nur ansatzweise versucht hat, einen Komplexitätsgrad zu definieren, um damit Nichtleben von Leben, die Pflanze vom Tier, das Tier vom Menschen unterscheiden zu können.

V. Goethe kontra Newton in der Farbenlehre

Eine Würdigung des Naturwissenschaftlers Goethe wäre Stückwerk, wollte man nicht auf das Gebiet eingehen, auf dem die dramatischste und für Goethe folgenschwerste Auseinander­setzung mit der herrschenden Naturwissenschaft und ihrem Gründungsvater Newton stattfand. Ein Gebiet, in welches Goethe nach eigenen Bekundungen „die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt“ hat (WA V 6, S. 56), mit dem er „eine Bresche in die Festung“ (WA II 1, S. XIII) der Newtonschen Wissenschaft schlagen, den „Newtonschen Irrtum ein für allemal aus der Welt schaffen“ (WA II 5b, 215) und „Epoche in der Welt“ (WA V 5, S. 74) machen wollte; die Rede ist von der Farbenlehre.

Newton war ja nicht nur der Begründer der klassischen Mechanik, sondern hat auch auf dem Gebiet der Optik Bahnbrechendes geleistet. In seinem berühmten „Prismenversuch“ wird ein ausgeblendeter weißer Lichtstrahl in ein Farbenspektrum aufgefächert. Das Ergebnis seiner optischen Untersuchungen veröffentlichte Newton in einem dreibändigen Werkxvi, dessen übersetzter Titel lautet: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichtsxvii. Aus seinen Beobachtungen zieht Newton die folgenden Schlüsse:

Weiß ist eine Mischung aus allen Farben (und, als Resümee seiner Versuche) Die Lehre von den Farben wird eine ebenso sichere mathematische Theorie, wie irgend ein anderer Teil der Optik, insoweit nämlich die Farben von der Natur des Lichts abhängen und nicht durch die Einbildungskraft […] hervorgebracht oder geändert werden.xviii

Während Newtons Theorie der Mechanik nur mit einigen mathematischen Vorkenntnissen verstanden werden kann, ist das Phänomen Farbe der unmittelbaren Erfahrung und damit auch Nichtmathematikern zugänglich, zu denen sich Goethe zählte. Er schreibt: „Hier tritt er in eine Welt ein, die wir auch kennen, in der wir seine Verfahrensart und seinen Sukzeß zu beurteilen vermögen“ (WA II 4, S. 97). Im polemischen Teil der Farbenlehre wird deutlich ausgesprochen, welches der Streitpunkt mit Newton und den Newtonianern ist:

Jedoch nach der Newtonschen Lehre sollen ja die Farben im Lichte stecken, sie sollen daraus entwickelt werden. Schon der Titel seines Werkes deutet auf diesen Zweck hin. Schon dort werden wir auf die Colours of Light hingewiesen, auf die Farben des Lichtes, wie sie denn auch die Newtonianer bis auf den heutigen Tag zu nennen pflegen (WA II 2, S. 48).

Goethe wendet sich vehement dagegen, daß die Farben im Lichte stecken sollen und die Newtonsche Optik den Anspruch erhebt, auch eine Farbenlehre zu sein. Um die Gründe für Goethes Widerspruch verständlich machen zu können, müssen wir weiter ausholen und die beiden Hauptleistungen Goethes in der Farbenlehre kurz erläutern sowie die dabei benutzten Begriffe in den heutigen Sprachgebrauch übersetzen.

Der eigentliche Durchbruch Goethes zur Farbenlehre erfolgte mit der Entdeckung der physiologischen Farben im Zeitraum 1793/94 und dem Nachweis, daß diese Farben im Sehorgan des Menschen hervorgerufen werden und keine Produkte der Einbildungskraft sind, sondern strengen Gesetzen unterliegen. Diese Farben bilden nach Goethe das Fundament der ganzen Lehre“ (§ 1 der Farbenlehre, WA II 1, S. 1), sie entsprechen nach heutigem Sprach­gebrauch Farbempfindungen. Die Entdeckung der physiologischen Farben war die eine Vorbedingung für den Ausbau der Farbenlehre zu einer Wissenschaft. Die zweite Vorbe­dingung war die Einordnung der unüberschaubaren Vielfalt von Farbphänomenen in drei Kategorien, die Goethe im Jahre 1798 mit intensiver Mitwirkung von Schillers philo­sophischen Sachverstand vornahm. Außer den physiologischen Farben gibt es noch zwei weitere Erscheinungsweisen der Farben, die Goethe als physische und chemische Farben be­zeichnete. Nach heutigem Sprachgebrauch sind unter physischen Farben Lichtfarben (dazu gehören die prismatischen Farben) und unter chemischen Farben Körperfarben (dazu gehören die Pigmentfarben) zu verstehen. Lichtfarben als auch Körperfarben sind keine Farb­empfindungen, sondern von außen auf das Auge wirkende Farbreize.

Bei der Erforschung des Phänomens „Farbe“ stellt sich unabweislich die Frage, welche Beziehung zwischen Licht bzw. Farbreiz einerseits und Farbempfindung andererseits besteht. Im seinem Gedankenaustausch mit Goethe über die Farbenlehre stellt Schiller ebendiese Frage in zugespitzter Form, wenn er in dem Brief an Goethe vom 16. 2. 1798 schreibt:

Bei dem Moment der Qualität müßte, deucht mir, die wichtige Frage beantwortet werden, ob nicht die Q u a l i t ä t der Farbe (Farbempfindung) unabhängig vom Licht existiert (SNA Bd. 29, S. 206).

Die eigentliche Kern des Farbenstreits zwischen Goethe und Newton (bzw. den Newtonianern) wird sichtbar, wenn man die Antworten gegenüberstellt, welche die beide Antipoden auf diese Kardinalfrage gegeben haben.

Die Erfahrung, auf der Newton seine Farbentheorie aufgebaut hat, gründete er aus­schließlich auf Experimente mit Farbreizen (prismatische Farben und Pigmentfarben); seine Farbenlehre ist somit eine Lehre von den Farbreizen. Farbreize werden erzeugt durch Licht­strahlung, nach heutigem Erkenntnisstand eine elektromagnetische Wellenstrahlung, die mit mathematischen Mitteln beschrieben werden kann. Die Lehre von den Farbreizen ist somit Teil einer mathematischen Optik, wie von Newton behauptet.

Newton hat selbst bemerkt, daß er mit der Gleichsetzung von „Farbe“ und „Licht“ (Farbreiz) in eine Zwickmühle geraten ist. Einerseits weist er bereits im Titel der Optik auf die „Farben des Lichts“ hin, andererseits muß er zugestehen, daß die Lichtstrahlen im wissen­schaftlichen Sinn nicht gefärbt sind, sondern daß „in ihnen lediglich eine Macht oder Disposition liegt, die Empfindung dieser oder jener Farbe zu erregen.“xix Die Auflösung dieses Widerspruchs hat Newton im dritten und letzten Buch seiner Optik versucht, in dem er alle Spekulationen und Hypothesen, die er nicht wissenschaftlich begründen konnte, die er aber Nachfolgern als Anregung hinterlassen wollte, als Fragen (Quaries) formuliert hat. Newtons Meinung über das Verhältnis zwischen Licht und Farbensehen geht aus Frage 12 hervor:

Erregen nicht die Lichtstrahlen, wenn sie auf den Hintergrund des Auges fallen, Schwingungen auf der Netzhaut, die sich entlang der festen Fasern der Sehnerven bis zum Gehirn verbreiten und dort den Eindruck des Sehens hervorrufen?xx

Newton nimmt eine aus Schwingungen bestehende Kausalkette an, ausgehend vom Farbreiz (Licht), der auf die Netzhaut wirkt, bis zum Gehirn, in welchem die Farbempfindung hervor­gerufen wird. Mit anderen Worten: die Farbempfindung ist mit dem Farbreiz fest verkoppelt und kann nicht unabhängig vom Farbreiz existieren. Das heißt aber auch: Eine vom Farbreiz (Licht) unabhängige Farbempfindung ist ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft und daher nicht real.xxi Die Kardinalfrage Schillers wird von Newton negativ beantwortet: Farbreiz und Farbempfindung sind von gleicher Qualität, unterliegen den gleichen Gesetzen der physikalischen Optik und brauchen terminologisch nicht getrennt werden, beide Er­scheinungen sind „Farbe“. Die Behauptung Newtons, daß die Farben im Lichte stecken und ihnen keine eigene Qualität zukommt, hat Goethe als den „Newtonischen Irrtum“ in der Farbenlehre bezeichnet. Er schreibt: „Der Newtonische Irrtum steht so nett im Conversations-Lexikon, daß man die Oktavseite nur auswendig lernen darf um die Farbe fürs ganze Leben los zu sein“ (WA II 11, 112).

Im Gegensatz zu Newton hat Goethe die Frage Schillers positiv beantwortet: Farbreiz und Farbempfindung sind von verschiedener Qualität und unterliegen ganz verschiedenen Gesetzen. Für die Farbempfindungen ist nicht die Physik, sondern eine ganz andere Wissenschaft zuständig, die Goethe „Farbenlehre“ nannte.

Durch Beobachtungen und Experimente hatte Goethe erkannt, daß die alltäglichen Erfahr­ungen, die der Mensch mit Farben macht, beispielsweise daß eine Mohnblüte bei ihm die Farbempfindung „Rot“, eine Wiese die Empfindung „Grün“ auslöst, nicht geeignet sind, ihm bei der Suche nach den Gesetzen der Farbempfindungen weiterzuhelfen, da die Farb­empfindung für gewöhnlich an den Farbreiz gekoppelt und von diesem nicht zu trennen ist. In seinem 1810 erschienenen Werk Zur Farbenlehre (WA II 1-4) gibt Goethe zahlreiche Ver­suche zur Beobachtung nichtalltäglicher Farbphänomene an, bei denen die Farbempfindung nicht mit dem Farbreiz verkoppelt ist und in quasi freier Form existiert.xxii Es sind nun gerade diese eigentümlichen Farbphänomene, die auf die eigentlichen Gesetze des Farbensehens hinführen und den Nachweis gestatten, daß Farbe eine Qualität und keine Quantität ist. Jeder farbentüchtige Mensch ist in der Lage, unter der Anleitung Goethes die durch einen sechsteiligen Farbenkreis symbolisierten Farbengesetze selbst aufzufinden, es bedarf dazu keinerlei Messungen, keinerlei Kenntnisse der Physik und Mathematik, es bedarf nur des Gebrauchs der eigenen Sinne (Veröffentlichung in Vorbereitung). Ohne die Versuche mit „freien“ (vom Farbreiz abgekoppelten) Farbempfindungen unter der Anleitung Goethes nach­empfunden zu haben, ist es gar nicht möglich, im Farbenstreit Goethe-Newton ein fundiertes Urteil zu fällen.

Der sich an die Veröffentlichung von Goethes Farbenlehre anschließende Farbenstreit wäre gar nicht zustande gekommen, wenn die von Newton begründete und zur Vorherrschaft gelangte Naturwissenschaft, die sich heute als „modern“ bezeichnet, die von Goethe ge­forderte Unterscheidung von Farbreiz und Farbempfindung zur Kenntnis genommen, die Trennung von Optik und Farbenlehre vollzogen und immer dazu gesagt hätte, was sie mit „Farbe“ meint: einen Farbreiz oder eine Farbempfindung. Als Beispiel für die Fruchtlosigkeit des Farbenstreits sei die Kontroverse über Newtons Behauptung: „Weiß ist eine Mischung aus allen Farben“xxiii angeführt. Diese Behauptung ist nur richtig für die zu den Farbreizen zählenden Lichtfarben (z. B. prismatische Farben), sie ist jedoch falsch, wenn man wie Goethe unter Farbe eine Farbempfindung versteht. Die Erfahrung, daß eine Mischung von Farbempfindungen entweder die Empfindung einer Mischfarbe oder die Empfindung von Grau, niemals jedoch von Weiß ergibt, veranlaßte Goethe zu dem bekannten Spottvers aus den venezianischen Epigrammen: „Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben. Gar manches hat er euch weis gemacht, das ihr ein Säkulum glaubt“ (WA I 1, S. 325).

Die moderne Naturwissenschaft beharrt auf ihrem Urteil, daß Newton in der Farben­lehre recht und Goethe unrecht hatte, ohne dafür stichhaltige Beweise beigebracht zu haben. Sie beruft sich allein auf ihr zentrales Dogma, wonach nur das existent und erkennbar ist, was analysiert, gemessen und mathematisch beschrieben, was „objektiviert“ werden kann. Freie, nicht an einen Farbreiz gekoppelte Farbempfindungen, die das Erfahrungsfundament von Goethes Farbenlehre darstellen, können nach der Lehrmeinung der modernen Wissenschaft gar nicht existieren, da sie mit keinerlei Apparaten nachzuweisen, durch keinerlei äußere Mittel festzuhalten sind. Diese fundamentalistische Wissenschaft verstößt dabei gegen das von ihr selbst aufgestellte und für jeden Wissenschaftler verbindliche wissenschaftliche Ethos, zu dessen Geboten die Imperativsätze „Sei undogmatisch!“ und „Argumentiere symmetrisch (d.h. prüfe die Alternative zu der von dir bevorzugten Hypothese mit derselben Sorgfalt)!“ gehören.xxiv

VI. Goethes Vision von einer ganzheitlichen Naturwissenschaft

Goethe hat die einfache oder gestaltlose Natur von der höheren oder gestalteten Natur unter­schieden und dementsprechend gibt es innerhalb einer ganzheitlichen Wissenschaft zwei Teil­wissenschaften. Für die einfache Natur gibt es eine Wissenschaft vom Stoff, von der Materie; diese nennt sich heute fälschlicherweise „moderne Naturwissenschaft“, ist aber gemäß der aristotelischen Definition von einer „Wissenschaft im strengen Sinne“xxv eine Materiewissen­schaft, da sie ausschließlich nach Prinzipien für das Materielle sucht. Den augenfälligsten Beweis, daß die Wissenschaft Newtons nur eine für die gestaltlose Natur zuständige Teil-Naturwissenschaft ist, hat Goethe selbst mit seiner Farbenlehre geliefert.

Für die spezifischen Phänomene der höheren Natur gibt es eine Wissenschaft von der Form, der Morphe: die Morphologie. In seiner Betrachtung über Morphologie überhaupt schreibt Goethe, daß er „in der Morphologie eine neue Wissenschaft aufzustellen gedenkt, zwar nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigne Gestalt geben muß als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat“ (WA II 6, S. 293). Und es folgt eine Definition der neuen Wissenschaft: „Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten; sie gehört daher zu den Natur­wissenschaften.“ Auf Grund der Vielschichtigkeit der höheren Natur (Vegetatives, Sensitives, Geistiges) ist die Morphologie nicht als Einzelwissenschaft, sondern als ein Wissenschafts­komplex zu verstehen, der sich aus Biologie, Psychologie und Geisteswissenschaften zu­sammensetzt.

Goethe gibt auch Auskunft, wie er das Verhältnis zwischen seiner neuen Wissenschaft „Morphologie“ und der vorhandenen, herrschenden Naturwissenschaft sieht. Er schreibt, „daß sich die Morphologie als eine besondere Wissenschaft legitimiert“ und „daß sie mit keiner Lehre im Widerstreite steht, daß sie nichts wegzuräumen braucht, um sich Platz zu schaffen“ (WA II 6, S. 298). Wenn man seine Ausführungen zur Morphologie im Gesamtzusammen­hang sieht, so können sie nur so verstanden werden, daß er die herrschende Naturwissenschaft nicht „wegräumen“ will, er bestreitet aber deren Anspruch, eine vollkommene Naturwissen­schaft zu sein, er sieht in ihr nur eine Teilnaturwissenschaft, die erst zusammen mit der von ihm skizzierten Morphologie zu einer wahren, ganzheitlichen Wissenschaft von der Natur vervollständigt wird.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief, den Goethe an Alexander von Humboldt richtete; dort heißt es: „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen“ (WA IV 10, S. 271). Goethe hat hier eine wünschenswerte Begegnung der Gestaltwissenschaft, der Morphologie, mit der Elementwissenschaft, d.h. der Wissenschaft von der Materie, vor Augen. Nach Goetheschem Verständnis ist die sich heute „modern“ und „objektiv“ nennende Naturwissenschaft in Wirklichkeit eine „Elementwissenschaft“, eine Materiewissenschaft, die einen Alleinvertretungsanspruch erhebt und nicht bereit ist, die Gestaltwissenschaft als gleich­berechtigten Partner anzuerkennen.

VII. Goethes Stellung zu Wahrheit und Irrtum

Wohl kaum jemand hat dem Menschen so auf den Grund seines Wesens zu schauen vermocht wie Goethe. Für den modernen Menschen ist der Maßstab für die Wahrheit die moderne Naturwissenschaft, also ein geistiges Produkt des Menschen. Als Kriterium fürdieseWahr­heit wird der Erfolg angesehen, den die moderne Naturwissenschaft in der Beherrschung der Natur erzielt hat. Aber schon der römische Geschichtsschreiber Livius wußte, daß der „Erfolg der Lehrmeister der Toren“ ist. Für Goethe ist der Maßstab für die Wahrheit ein ganz anderer: nicht ein geistiges Produkt des Menschen, sondern die Natur selbst ist dieser Maßstab. 1829 sagt er zu seinem Vertrauten Eckermann:

Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich jedoch die Menschen nie kennengelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen An­schauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie des Verstandes, den Charakter­schwächen und -stärken nicht so nachkommen, es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend und lässt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen (WA V 7, S. 16).

Goethe hat sich, wie wohl kein anderer, Gedanken gemacht über die Quelle, aus der grund­sätzliche Irrtümer entspringen. In seinen Maximen und Reflexionen sagt er: „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt“ (WA I 42b, S. 390). Bei den Tieren erfolgt der Übergang von den Sinneseindrücken zur Interpretation dieser Eindrücke im Gehirn unmittelbar, ohne eine Zwischenstufe. Anders beim Menschen. Bei ihm ist zwischen Sinneseindruck und Interpre­tation des Sinneseindrucks das begriffliche Denken dazwischengeschaltet, und hier genau liegt eine schier unerschöpfliche Quelle des Irrtums durch Verwendung falscher, d.h. nicht der Wirklichkeit entsprechender Begriffe. Das fatalste Beispiel dafür ist der Begriff „Moderne Naturwissenschaft“.

Goethe hat als großer Menschenkenner nicht nur erkannt, daß die Quelle grundsätz­licher Irrtümer auf der geistigen Ebene zu suchen ist, er ist noch einen Schritt weiter ge­gangen. Er hat auch erkannt, daß innerhalb der menschlichen Gesellschaft es das Genie ist, das in besonderer Weise Gefahr läuft, dem Schmeichler „Irrtum“ zu verfallen, indem es die seinem Geist gezogenen Grenzen nicht anerkennt und negiert. In seinen Maximen und Reflexionen sagt Goethe:

Die Wahrheit widerspricht unserer Natur, der Irrtum nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: die Wahrheit fordert, daß wir uns für beschränkt erkennen sollen, der Irrtum schmeichelt uns, wir seien auf ein- oder die andere Weise unbegrenzt (WA I 42b, S. 151).

Die folgende Aussage hat Goethe auf das Genie Newton gemünzt: „Das Genie […] hat seiner Natur nach den Trieb, über Gegenstände zu gebieten, […] sie seiner Art zu denken […] zu unterwerfen“ (WA II 5a, S. 163). Wenn man sich die Vielzahl von Nobelpreisträgern ver­gegenwärtigt, die im Angesicht einer spektakulären Entdeckung ihre eigene Beschränktheit verleugnet haben und den Geltungsbereich ihrer Entdeckung, der sich immer nur auf einen Teilbereich der Natur erstreckt, in spekulativer Weise, d. h. ohne den geringsten Beweis, auf das Ganze der Natur ausgedehnt haben, so trifft diese Goethesche Aussage wohl auf die meisten Genies zu, welche die moderne Naturwissenschaft hervorgebracht hat.

Als Beispiel, das sich beliebig vervielfältigen ließe, sei Albert Einstein genannt, der in seiner oben erwähnten Rede zum 60. Geburtstag von Max Planck den Anspruch der theore­tischen Physik erhebt, daß die von ihr aufgefundenen Gesetze für jedes Naturgeschehen gültig sind, und die These aufstellt, daß sich aus diesen Gesetzen die Theorie eines jeden Natur­prozesses einschließlich der Lebensvorgänge finden lassen sollte.xxvi Einstein hat sich in diesem Bekenntnis nicht als Wissenschaftler geäußert, dessen Leistungen bewundernswert und einzigartig sind, sondern als Spekulant und Wahrsager, der die Grenzen seines Fach­gebiets überschreitet und damit negiert. Man stelle sich Einstein vor versehen mit dem Er­fahrungsschatz Goethes in Bezug auf die höhere Natur (Botanik, Insektenkunde, Osteologie), versehen mit der Skepsis Goethes dem eigenem Ich gegenüber und dessen Anfälligkeit gegenüber Irrtümernxxvii, und versehen mit dem Wissen Goethes um die Gefährlichkeit des Übergangs von einem Naturbereich in den anderenxxviii, ein solches Bekenntnis wäre nie über seine Lippen gekommen.

VIII. Fazit und Schlußwort

Die einmalige und bisher fast unbeachtete Leistung des Naturwissenschaftlers Goethe läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen:

1. Mit seiner Kritik an der von Newton begründeten modernen Naturwissenschaft und an deren falschen Natur- und Menschenbegriff hat Goethe den Punkt bezeichnet, wo der in die Modernexxix führende Weg des menschlichen Denkens eine falsche Richtung einschlug.

2. Mit seinem eigenen ganzheitlichen Natur- und Menschenbegriff, dokumentiert in seinen morphologischen Schriften, in der Farbenlehre und darüber hinaus in seinem gesamten Werk, hat Goethe den geistigen Weg gewiesen, der den Menschen in eine zukunftsfähige Zivilisation führen kann.

Das letzte Wort soll ein Schriftsteller und Poet haben, dem der Autor die Hinführung zum Naturwissenschaftler Goethe verdankt: Hanns Cibulka. In seinem Hiddenseetagebuch Sand­dornzeit schreibt er: „In Goethes Morphologischen Schriften fand ich die entscheidende Ergänzung zu dem naturwissenschaftlichen Denken unserer Zeit“. Und weiter: „In der Art und Weise, wie wir heute die Natur erkennen, fällen wir den Richtspruch über uns selbst, über unsere eigene Existenz, über unser Schicksal. Was wir heute durch die moderne Wissenschaft nach außen hin gewinnen, darf nach innen nicht verloren gehen. Die Beantwortung einer solchen Frage berührt schlechthin unsere gesamte Kultur.“xxx

iLiteratur:

Goethe-Bibliographie: WA = Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (Sophienausgabe). 143 Bände, Weimar, 1887-1914. Abt. I: Werke, Abt. II: Naturwissenschaftliche Schriften, Abt. III: Tagebücher, Abt. IV: Briefe, Abt. V: Gespräche..

 Francis Bacon: Novum organum scientiarum, 1620.

ii René Descartes: Discours de la méthode, 1637.

iii Galileo Galilei: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, 1632.

iv Isaac Newton: Philosophiae naturalis principia mathema­tica. London, 1687.

v Zitiert nach Otto Westphal: Die Weltgeschichte im Spiegel von Goethes Farbenlehre. Stuttgart 1957, S. 88.

vi Carl Seelig (Hsg.): Albert Einstein. Mein Weltbild. Frankfurt/M. 1989, S. 109.

vii Goethes Werke in zwölf Bänden, hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur. Berlin, Weimar 1974, Bd. 7, S. 570.

viii Goethe verstand unter „Synthese“ nicht nur die chemische Synthe­se, sondern auch die „höhere Synthese“. In seinem Aufsatz Analyse und Synthese heißt es: “ Was ist höhere Synthese als ein lebendiges Wesen“ (WA II 11, S. 71).

ix Aristoteles: De anima. Die Zitate sind der Übersetzung von O. Grigon, Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst. Zürich 1950 entnommen.

x Über das Verhältnis Goethes zu Aristoteles vgl. A. Zastrau. (Hsg.): Goethe- Handbuch, Bd. 1; Stuttgart 1961, S. 374-379.

xi Aristoteles: De anima I, 1, 402.

xii Aristoteles: Historia animalium VIII 1, 588a – 589a.

xiii Aristoteles: De anima II, 12, 424a, b.

xiv Ebd., II, 3, 414b.

xv Bernd-Olaf Küppers: Der Ursprung biologischer Information. München 1990, S. 195.

xvi Isaac Newton: Opticks: Or a Treatise of of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light. London 1704.

xvii Isaac Newton: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts. Übers. u. hrsg. von William Abendroth. Braunschweig 1983.

xviii Ebd., S. 159. (Zweites Buch der Optik, Abschnitt Bemerkungen zu den vorhergehenden Beobachtungen).

xix Ebd., S. 81. ( Erstes Buch der Optik, zweiter Teil, Definition).

xx Ebd., S. 227. (Schluß des dritten Buches der Optik, Frage 12).

xxi s. Anm. 18.

xxii Goethe hat die Hervorrufung „freier Farbempfindungen“ im Sehorgan des Betrachters, die heute als „farbige Nachbilder“ bezeichnet werden, ausführlich in der ersten Abteilung „Physiologische Farben“ des didaktischen Teils seiner Farbenlehre (WA II 1, 1), insbesondere im Abschnitt „Farbige Bilder“ (§ 48 – § 61) beschrieben. Die Farben von Bild und Nachbild eines Gegenstandes sind komplementär und stehen in einem Verhältnis gleich dem von Positiv- und Negativbild in der vordigitalen Farbfotografie. Normalerweise wird das Nachbild eines Gegenstandes vom Betrachter nicht wahrgenommen.

xxiii s. Anm. 18.

xxiv Hans Mohr: Biologische Erkenntnis – Ihre Entstehung und Bedeutung. Stuttgart 1981, S. 194.

xxv Aristoteles: Analytica posteriora I 27, 87a.

xxvi s. Anm. 6.

xxvii „Warum ich zuletzt am liebsten mit der Natur verkehre, ist, weil sie immer recht hat und der Irrtum bloß auf meiner Seite sein kann“; WA II 9, S. 225.

xxviii Naturlehre: fingierter, aus Neapel datierter Antwortbrief (10. Jan. 178*) Goethes auf einen Brief Knebels, im dem Eisblumen mit Vegetabilien, Vogelfedern und -schwingen verglichen wurden. Im „Teutschen Merkur“ veröffentlicht. Gefährlichkeit des Übergangs von einem Naturbereich in den anderen. WA II 13, 427 – 431.

xxix In einem Tagebucheintrag vom Juni 1831 (WA III 13, 98) schreibt Goethe: „Ich laß in Galilei´s Werken. […] Er starb in dem Jahre, da Newton geboren wurde. Hier liegt das Weihnachtsfest unserer neueren Zeit“. Goethe hat wohl als erster erkannt, daß Newton nicht nur eine neuartige Wissenschaft begründet hat, sondern auch ein neues Zeitalter, daß sich heute – wie die Newtonsche Wissenschaft – „modern“ nennt.

xxx Hanns Cibulka: Ostseetagebücher. Leipzig 1990, S. 63.

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