Der Begründer der Kunstgeschichte feiert 300. Geburtstag. Das Genie Johann Joachim Winckelmann

Johann Joachim Winckelmann © Wikipedia, Gemeinfre

Genies von Weltrang gibt es nicht viele. Johann Joachim Winckelmann war einer davon. Er gab nicht nur einer ganzen Epoche die Kunstmaximen an die Hand, sondern erwies sich als ästhetischer Moralist und ausgewiesener Kenner antiker Kunst.

„Edle Einfalt, stille Größe“ – in diesen vier Worten versammelt sich eine ganze Welt, die vom antiken Griechenland über die Klassik bis in die moderne Archäologie und Kunstgeschichte hineinstrahlt. Kaum einer hat das europäische Kunstverständnis so nachhaltig geprägt wie der größte Sohn der Stadt Stendal in der Altmark. Vor 300 Jahren, am 9. Dezember 1717, wurde Johann Joachim Winckelmann geboren.

Winckelmann war Genie, Archivar, Bibliothekar, Poet, Salonlöwe, ein grandioser Schriftsteller von Weltrang und ein Selfmade-Aufsteiger. Aus ärmlichsten Verhältnissen entsprungen, durchbrach er peu à peu die Ständegesellschaft und avancierte so zum angesagten Kultureuropäer, der Fürsten, Geistliche, Könige und selbst den Papst gleichsam verzauberte. Winckelmann hatte den Esprit und die Gabe eines Magiers, anders wäre die Karriere vom einfachen Schustersohn zum Präfekten der römischen Altertümer, zum obersten Antikenaufseher im Vatikan und einem der einflussreichsten Deutschen im damaligen Italien kaum denkbar.

Seine deutschen Wurzeln hatte er schnell gegen Athen und Sparta eingetauscht. Die griechische Bildhauerei, die “Regel der Schönheit”, die “Nachahmung der Natur” und der griechische Geschmack waren fortan seine Leidenschaft, das akribische Studium der Antike inbegriffen. Rom war ihm das neue Arkadien, das Elysium. Hier kam die nordische Natur in das Land vollkommener Seligkeit, hier vollendete sich Winckelmann selbst zum Kunstwerk. Inmitten der römischen Barockmetropole rebelliert Winckelmann gegen diese monströse Ästhetik und deklassifiziert sie als Ungeist, als ungeheuer und als moralisches Vehikel, das vollkommen korrupt sei. Die Kultur des Barock und des Rokoko sei vom ethischen Standpunkt betrachtet Zeichen einer absolutistischen Kultur, die sich im Niedergang befindet. Dagegen wird er seine Vision vom elysischen Zeitalter setzen, von der Hirtenidylle am Peleponnes. Winckelmann fordert eine Renaissance der Gesellschaft genau aus diesem Geiste – ein Zurück zum klassischen Ideal.

Der Genius als Brückenbauer

Platonisch im Geist, sinnlich in der Lebensführung verknüpfte Winckelmann elegant die Bande zwischen dem Empirischen und dem Intellekt, der Ideenlehre Platons samt ihrem ästhetischen objektiv-gültigen Geltungsanspruch. Mit Goethe war er Analytiker und wie Schiller Idealist. So verdanken ihm die beiden Heroren der Weimarer Klassik Unendliches: Goethe verklärte die griechische Klassik zum Ideal und rebellierte gegen die Grotesken des Barock und die ausufernde Romantik des Herzleides. Schiller verlegte seine Stoffe immer wieder in die Antike. Und gleichwohl Goethe und Schiller ihre Kunst nicht als bloße Reproduktion im Sinne des Klassikers der Kunstgeschichte und Archäologie verstanden, die sich allein im Geschichtlichen, in der puren Mimesis, erschöpft, wurde Winckelmanns Antikenbild zum Vorbild einer Epoche aus dem Geist der Aufklärung.

Schönheit bleibt der „höchste Endzweck und Mittelpunkt der Kunst“

Für Aufsehen in der intellektuellen Welt sorgten Winckelmanns “Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst” von 1755. Hier legte er den Grundstein für seine hellenistische Idealwelt, hiermit begründete er seinen Ruhm als Erfinder des deutschen Klassizismus. Die Darstellung der Schönheit bleibt der „höchste Endzweck und Mittelpunkt der Kunst.“ Und die Nachahmung der Griechen das Kunstideal schlechthin. „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen.“

Das Gute, Wahre und Schöne

“Die Kunst ist lange bildend, ehe sie schön ist”, hatte Goethe einst formuliert und Winckelmann lieferte der Kunst jene Maximen, die sie objektiv und ewiglich machten. Die Antike als Vorbild, die griechische Kunst als Ausdruck des Kunstschönen und Kunstwahren, an ihr sollte sich der Künstler messen, an ihr reifen, um sich letztendlich moralisch zu veredeln. Damit ist und bleibt Winckelmann nicht nur der Begründer der Kunstgeschichte schlechthin nach Vasari, die er in Epochen und Kunststile klassifizierte und damit einen objektiven Weg aller Kunst zeichnete, sondern erweist ich zugleich als Brückenbauer zwischen Sinnlichkeit, Ästhetik und Moral. Das Gute, Wahre und Schöne sind exemplarisch für ein Kunstverständnis, das zur Tugendhaftigkeit erzieht, das das schöne Kunstwerk für die Seele anfassbar und bedeutend werden lässt, so das Kunst zur Moralität erzieht. Dies gelingt allein der griechischen Kunst, da sich durch sie das Göttliche zur Anschauung bringt.

Idealische Kunst ist göttliche Wesenschau, Verweis auf den metaphysischen Grund, der durch die Sinne zur Vernunft spricht. Nur dieser vernünftigen Kunst obliegt eine erzieherische Funktion! Und die höchste Form der Kunst sind die weißen Plastiken und die menschliche Figur, in denen das klassische Ebenmaß von Würde und Größe sich vollkommen zur Darstellung bringen. „Die höchste Schönheit ist in Gott, und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und der Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet“, heißt es in den „Gedancken“. Die Kunst der Griechen letztendlich obsiegt der Natur, sie ist eine edlere, „schöne Natur“, eine, die durch den Verstand perfektioniert wurde.

Edle Einfalt, stille Größe“ ist die Kunstmaxime Winckelmanns

„Edle Einfalt, stille Größe“ ist die Kunstmaxime Winckelmanns, und er schreibt: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. (…).“

Laokoon als Ideal

Exemplarisch für diese stille Größe und Erhabenheit wird ihm die „Laokoon-Gruppe“. Nicht wie einst Vergil vermag er darin den gesteigerten Ausdruck eines unendlichen Schmerzes zu erkennen, sondern das Seufzen des „Laokoon“ deutet für ihn auf eine überzeitliche Wirklichkeit hin, in der sich der wahre „Charakter der Seele“ im Zustand der Ruhe und Vollkommenheit entfaltet, in der Beherrschung der Leidenschaften und der Triebe.

„Laokoon“ schlägt nicht um sich, schreit nicht – im höchsten Moment des Schmerzes strahlt die Skulptur Ruhe und Konzentration aus. Und damit zeigt sich exemplarisch die Essenz menschlicher Existenz, die nicht nur in der stoischen Annahme ihres Schicksals über die bloße Natur siegt, sondern an der Grenze zwischen Leben und Sterben ihre Würde und Vollendetheit zum Ausdruck bringt.

Schönheit, so resümiert Winckelmann, der wegen seiner Kunstbeschreibungen später oft in die Kritik geriet, bedarf nicht nur der vollkommenen Regeln der Kunst, sondern ist in der Gestalt der weißen Marmorplastik Darstellung des Erhabenen. Im „Apollo von Belvedere“ sieht er dann auch sein Ideal der Kunst in Stein gegossen. Der Körper ist entsexualisiert, die Transformation des sokratischen Eros vollzogen. Was in seiner Reinheit übrig bleibt, wird in Winckelmanns Augen zum Repräsentanten der „innersten Seele der Schönheit“.

Am 8. Juni 1768 wurde Winckelmann abrupt aus dem Leben gerissen. Der Genius des Wahren, Guten und Schönen wurde Opfer eines banalen Raubmordes. Was aber bleibt, sind seine Schönheitsideale der klaren Linie, und der Glaube an die Erhabenheit des menschlichen Körpers und seiner inneren Schönheit, der Enthusiasmus für Kunst und letztendlich der Wille, sein eigenes Schicksal gegen jedwede Widerstände zu einem Kristall herauszuarbeiten. Und ist die Seele nicht schön, so würde er gegen die plastische Chirurgie und den Schönheitswahn des 21. Jahrhunderts wettern, dann nützt alle Kosmetik nichts.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2155 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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