In letzter Zeit lerne ich immer mehr Menschen kennen, die in der „Naherwartung“ leben. Frauen und Männer der Kirche, Geistliche wie ganz normale Laien, aber auch hart gesottene Kollegen, von denen man glauben sollte, dass das ernüchternde Journalistenleben sie an gar nichts mehr glauben oder irgend etwas erwarten lässt. Naherwartung – das heißt zu Deutsch: Dass die Welt bald untergeht. Der Heiligen Schrift der Christen zufolge ist dieser einschneidende Augenblick gekommen, wenn der Sohn Gottes vor den Augen aller wiederkehrt. Ob die Erde dabei in einer sich aufblähenden Sonne verglüht oder sich im atomaren Overkill selbst zerlegt, dazu ist in der Bibel leider nichts gesagt.
Naherwartung also. Und Papst Benedikt bricht zu einer Reise in den Nahen Osten auf, während sich dort der Horizont noch weiter verdunkelt. Die Schon-Atommacht Israel und die Bald-Atommacht Iran stehen sich unversöhnlich gegenüber. Im israelischen Verteidigungsministerium arbeitet man an Operationsplänen, die nicht nur den Feind in Teheran, sondern auch Syrien und den Libanon einbeziehen. Der Judenstaat fühlt sich von Terroristen umgeben. Und kommt nicht los von der „Logik der Gewalt“. Einer der großen Zionisten unserer Tage, Lord George Weidenfeld, schrieb vor kurzem in der „Welt“: „Im heutigen Kampf gegen den Terror erleben wir Gefühle, die denen im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs ähneln. Wir sind in einem Stadium der geduldigen Verhandlungen mit Gegnern, deren Unnachgiebigkeit, Kampfeslust und fanatischer Willen unsere Weltordnung zerstören. Es ist nicht klar, ob sie jemals rationalen Argumenten und Kompromissvorschlägen aufgeschlossen gegenüberstehen werden.“ Je länger Russland seinen persischen Verbündeten aufrüstet, desto eher könnten die Falken, die in Israel das sagen haben, die Nerven verlieren. Was dann käme, wäre in der Lage, den Weltenbrand zu entzünden. Das Gemetzel vor drei Monaten in Gaza war jedenfalls nichts dagegen.
Rom-Besucher, die sich über den endzeitlichen Zustand dieser Welt informieren wollten, pflegten bis vor wenigen Jahren in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern nachzuschauen, wie viele Päpste sich noch in die runden, für Porträts der Petrus-Nachfolgervorgesehenen Bildflächen unterhalb der Decke des Kirchenbaus einfügen ließen. Die Zahl der freien Plätze war arg zusammen geschrumpft – bis Johannes Paul II. weitere hinzufügen ließ. Als ratsamer erscheint es da, im Katechismus der Katholischen Kirche nachzuschauen, der unter Nummer 675 folgende zusammenfasst, was die Heilige Schrift über das Ende der Zeiten sagt. „Vor dem Kommen Christi muss die Kirche eine letzte Prüfung durchmachen, die den Glauben vieler erschüttern wird.“ Jedem Fortschritts-Optimismus erteilt das Glaubenskompendium eine Absage: „Ein religiöser Lügenwahn“ werde den Menschen eine „Scheinlösung ihrer Probleme“ bringen. Und der Preis dafür werde für viele der Abfall von der Wahrheit sein – wie es leider heute zu beobachten ist. Am Ende jedenfalls, muss die kleine Herde Jesu Christi heftig leiden: „Die Kirche wird nur durch dieses letzte Pascha hindurch, worin sie dem Herrn in seinem Tod und seiner Auferstehung folgen wird, in die Herrlichkeit des Reiches eingehen. Das Reich (Gottes) wird also nicht in stetigem Fortschritt durch einen Triumph der Kirche zustande kommen“ – und von einem Triumph der Kirche kann man heute tatsächlich nicht sprechen -, „sondern durch den Sieg Gottes im Endkampf mit dem Bösen.“ Nach den letzten kosmischen Erschütterungen dieser Welt, die vergehe, werde das Reich Gottes „in Gestalt des letzten Gerichts zum Triumph Gottes über den Aufstand des Bösen kommen“. Der Aufstand des Bösen aber sei der religiöse Betrug des Antichrist, ein Messianismus, der darin bestehe, dass „der Mensch sich selbst verherrlicht, statt Gott und seinen im Fleisch gekommenen Messias“.
Die Selbstverherrlichung des Menschen ist heute in vollem Gang. Und der religiöse Lügenwahn ist nichts anderes als die Leugnung der Inkarnation, die Abkehr vom Fleisch gewordenen Wort Gottes. Stattdessen sucht der Mensch das Heil bei sich selbst und den „Lösungen“, die ihm die Technokraten aller Gattungen anzubieten scheinen. Für Papst Benedikt XVI. verlöscht derzeit der Glaube wie eine Flamme, die keine Luft mehr bekommt. Naherwartung hin, Naherwartung her: Vielleicht wird es Zeit, sich wieder mehr um das kostbarste Gut zu sorgen, über das jeder verfügt: die eigene Seele.
Mit freundlicher Genehmigung von Guido Horst (www.vatican-magazin.de)
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.