I.
Dass für die „gelebte Demokratie“ Populismus ein Synonym für den Gottseibeiuns bedeutet, ist hinlänglich bekannt. Das Entsetzen gilt seit ihrem Auftauchen im Bundestag – und demnächst in allen Landtagen – den „Rechtspopulisten“ von der AfD, kaum noch der inzwischen als Koalitionspartner in spe von der CDU bereits umworbenen, noch unlängst als „Linkspopulisten“ betitelten Partei, die sich allumfassend Die Linke nennt. Die begriffliche Reduktion auf den „rechten“ Populismus – könnte sich wieder ändern, falls Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine mit ihrer Bewegung „Aufstehen“ das Kunststück gelingen sollte, die zur „populistischen“ AfD abgewanderten, einst auf der Linken beheimateten „kleinen Leute“ zurückzuholen und durch ein „linkes“ Wahlbündnis die ewige Merkel-Ära zu beenden. Dann wäre erneut der „Linkspopulismus“ im Visier der Hüter der rechten deutschen, demokratischen Gesinnung.
Indes scheint noch unklar, wie den Protagonisten der neuen Bewegung der Spagat gelingen sollte, die links-grünen Klimaretter und Befürworter von „open borders“, die auf frühe Heirat und reichlichen Familiennachzug sinnenden – bislang aus diversen Gründen mehrheitlich SPD und/oder „Die Linke“ wählenden – Neubürger aus Kleinasien und anderswo sowie die am deutschen Nationalstaat hängenden einheimischen „kleinen Leute“ unter einen Hut zu bringen. Die Verteidigung des Sozialstaats im nationalen Rahmen, die sich Wagenknecht/Lafontaine und die Protagonisten der neuen linken Volksfront auf die Fahnen geschrieben haben, riecht für die linksliberalen Diskursverwalter und/oder Bobos verdächtig nach „rechts“. Sie haben recht: Es sind außer den einstigen, von Merkel etc. rechts liegen gelassenen konservativen, noch irgendwie „bürgerlichen“ CDU-Anhängern die „kleinen Leute“, frühere SPD- und „Linke-Wähler“, die zusehends auf die „rechte“ AfD setzen. Dazu gehört die arbeitende Bevölkerung – längst wesensverschieden vom einstigen Industrieproletariat – in Industrie und Dienstleistungsbereichen mit mäßigem Einkommen und befristeten Verträgen, sodann das weiter unten angesiedelte, dem Bildungsnotstand ausgesetzte Prekarariat. Sie alle, einschließlich der Pfandflaschen sammelnden Mindestrentner, sind Träger und Objekte des „Populismus“. Es sind alle diejenigen, die – nicht nur in den migrantisierten Problemvierteln – auf sozialen Druck, verursacht von neobileralen Wirtschaftsbedingungen sowie durch kontinuierliche Einwanderung, reagieren.
Da sich alle guten Demokratinnen und Demokraten in der Verteidigung der Demokratie – für Aristoteles noch ein Negativbegriff – gegen die Gefahren des „Populismus“ einig sind, braucht man sich um eine Definition und eine Erklärung des Phänomens wenig zu kümmern. Allerdings ändert derlei geistige Abstinenz und/oder Ablehnung nichts an der durch die AfD – und demnächst vielleicht auch durch die Bewegung „Aufstehen“? – veränderten politischen Realität. Der Aufstieg des „Populismus“ in Europa – ein kulturelles („rechts“) oder materielles („links) Phänomen? Oder eben beides zugleich?
II.
„Der Aufstand der Populisten – Klassen- oder Kulturkampf?“ war das Thema von der Wochenzeitung „Die Zeit“ veranstalteten Diskussion im Rahmen der Salzburger Festspiele. Unter der Leitung von „Zeit“-Herausgeber Josef Joffe diskutierten der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der Schriftsteller Rüdiger Safranski, die Botschafterin Österreichs in der Schweiz Ursula Plasnick, die Journalistin Nina Horaczek vom linksliberalen Magazin „Der Falter“ sowie Harald Martenstein, Kolumnist bei der „Zeit“ sowie beim Berliner „Tagesspiegel“.
Was die Veranstaltung (abrufbar auf Video) sehenswert macht, ist der Umstand, dass – anders als bei den üblichen öffentlich-rechtlichen Talkshows mit dem zum Nachweis pluralistischer Meinungsbildung eingeladenen Abweichler – in der Diskussionsrunde Personen versammelt waren, die nicht ins gleiche Horn stießen, d.h. sich über das „rechte Pack“ empörten. Allein die von Joffe wiederholt aufgenommene Fragestellung nötigte zu präziseren Stellungnahmen.
Der in seiner grünen Weltbeglückungspartei angefeindete Boris Palmer äußerte sich zu Rechtsbrüchen und anwachsender Unsicherheit, und er trennte die Asylfrage von der Einwanderungsproblematik. Safranski sowie Martenstein kritisierten die Medien, die nur noch als Hofberichterstattung für Angela Merkel fungierten. Mit ihrer einseitigen, ideologiehaltigen Berichterstattung oder mit ihrer Politik des Verschweigens – wie nach der Silvesterveranstaltung auf der Kölner Domplatte anno 2015 oder nach von Migranten begangenen Gewalttaten – oder der fehlenden Kritik am politischerseits ungestörtem Drogenhandel am „Görli“ zu Berlin sowie in jeder beliebigen Klein- und Großstadt – hätten die Medien das Aufkommen der AfD begünstigt.
In derlei Beiträgen trat der kulturelle Aspekt des Populismus hervor, der sich politisch manifestierende kulturelle Widerstand jener Bevölkerungsgruppen, die Hillary Clinton in ihrer Wahlkampagne als „deplorables“ abqualifizierte und dadurch dem Populisten Trump („Ich bin wie die, nur eben mit Geld“) zum Wahlsieg verhalf. Zu ergänzen wäre die wachsende – nicht nur im konservativen heartland der USA vorherrschende – Aversion gegen die absurde Blüten treibende political correctness an den amerikanischen Universitäten – von Harvard bis hinein in die Colleges der Provinz.
Die Diplomatin (und ehemalige ÖVP-Außenministerin) Plasnick definierte Populismus als die beim „Volk“ Erfolg verheißende Technik, für die Komplexität politischer Fragen einfache Lösungen zu versprechen. Das ist gewiß nicht falsch, negiert indes die Tatsache, dass die Vertreter der „etablierten“ Parteien in ihren medialen Verlautbarungen, erst recht in ihren Wahlkampfreden, nichts anderes tun. Unentwegt hielt dagegen die Journalistin Horaczek am sozialen Diskursschema fest. Sie wisse aus ihrer Erfahrung als Mutter von drei Kindern im migratorisch gesegneten Wiener Stadtviertel Ottakring, dass es bei der Integration eigentlich nur um bessere soziale Chancen für alle gehe, um Chancengleichheit in Kitas, Schulen u. dergl. Die Frau wirkte aufgeregt, aber wenig überzeugend.
III.
Die Wagenknecht/Lafontaine-Bewegung „Aufstehen“ wird alsbald mit derzeit 60 000 Unterstützern in die Öffentlichkeit treten. Ob ihr mit dieser „Basis“ der angestrebte politische Durchbruch gelingt, ist gleichwohl ungewiss. Bislang stoßen die Protagonisten von „Aufstehen“ auf den Widerstand der Führungsfiguren in den drei umworbenen Parteien. Bei der „Linken“ sind dies so unterschiedliche Leute wie der „Reformer“ Dietmar Bartsch, Gregor Gysi, die „internationalistische“ Gesinnungstäterin Katja Kipping und selbst der aus der linken westdeutschen Gewerkschaftsecke stammende Bernd Riexinger. In der SPD gibt es derzeit an der Spitze keine einzige namhafte Figur für ein solches „Projekt“. Anders mag es an der „Basis“ aussehen, sofern man dort Lafontaines Bruch mit seiner alten Partei noch in Erinnerung hat.
Am wenigsten Chancen dürfte dem Werben der „linken Ökumene“ – ein werbender Begriff des Sozialdemokraten – und Unterstützers von „Aufstehen – Peter Brandt – um die Grünen beschieden sein. Die an Naivität schwer zu überbietenden, sich radikal weltbeglückend gerierenden Junggrünen werden über Lafontaines vermeintlichen, sozialstaatlich begründeten „Nationalismus“ Empörung kundtun, nicht anders als die aggressive Kampftruppe der Jung-„Linken“. (Siehe dazu Lafontaines Apologetik): Die grüne Parteiführung um Robert Habeck sowie die in den westlichen Bundesländern an die Regierung gelangten Persönlichkeiten wie Wilfried Kretschmann oder Tarek Al-Wazir zielen längst auf ein Bündnis mit der Merkel-CDU auf Bundesebene. Der sich durch politische Vernunft auszeichnende Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer dürfte seine „umstrittene“ Position bei den Grünen durch ein Bündnis mit einer von Traditonslinken angeführten „Bewegung“ nicht weiter gefährden wollen.
Politische Durchschlagskraft könnte die Bewegung „Aufstehen“ erst gewinnen, wenn sie – ähnlich der italienischen „linkspopulistischen“ Protestbewegung Cinque Stelle – als Bewegungspartei – eben als Partei – bei Wahlen hervorträte. Derlei auf Organisation zielender Elan ist derzeit noch nicht zu erkennen.
Eine andere Frage ist, ob es der bisherigen Nicht-Partei tatsächlich gelingt, durch ihren „national“ eingefärbten Appell der AfD Anhänger und Wählerstimmen abzujagen. Allem Anschein nach ist es der AfD – ungeachtet aller Querelen, aller Verachtung der „Etablierten“ sowie der allgemeinen Ablehnung in den Medien – geglückt, sich als politische Kraft „rechts“ von CDU/CSU in der politischen Landschaft der Bundesrepublik zu etablieren. Die Isolierung der nach wie vor in den Umfragen zunehmenden AfD dürfte auf Dauer kaum gelingen – es sei denn um den Preis einer verschärften Polarisierung „unserer“ Einwanderungsgesellschaft.
Nicht auszuschließen ist ein anderes Szenario. Selbst in dem – im Vergleich zu Italien und Frankreich – anscheinend so gefestigten politischen System der Bundesrepublik könnte es angesichts der Weigerung der politischen Führungsgruppen, sich verantwortungsvoll mit den durch die nach wie vor anhaltende Einwanderung entstandenen kulturell-sozialen Fragen auseinanderzusetzen, zu einer grundlegenden Veränderung der Parteienlandschaft kommen. Das deutliche Nachlassen der politischen Bindungen an die SPD ist nur ein Symptom dafür. Die Loyalität der CDU- und CSU-Parteibasis wird wesentlich vom Ergebnis der Herbstwahlen in Hessen und Bayern abhängen. Nach dem absehbaren Abgang Merkels sind auch in ihrer Partei Diadochen-Kämpfe – ob unter den zusehends unbrauchbaren, ideologischen Feldzeichen „rechts-links“ oder nicht – zu erwarten. All dies könnte den weiteren Aufstieg der „rechtspopulistischen“ AfD begünstigen.
IV.
Genug der Spekulationen. Offenkundig fallen beim Aufstieg des zeitgenössischen Populismus – in der Auflehnung gegen „Politik von oben“ und gegen vorgefertigte Meinungen – materielle und immaterielle Ursachen zusammen. Sie befördern im „Volk“ die Desillusionierung bezüglich der Selbstgenügsamkeit der politischen Klasse, genauer: die überhebliche Distanz der classe dirigente im Parteienstaat zum Wahlvolk – all dies unter dem Signum der Demokratie.
Die Art und Weise, wie sich die Regierung – nahezu kritik- und oppositonsfrei – in der Finanzkrise über bestehende Verträge hinwegsetzte, bereitete der AfD einst den Weg. Und nicht erst seit Merkels absurder Grenzöffnung anno 2015 wächst in der Bevölkerung der Unmut über die von den Eliten verfolgte Immigrationspolitik. Mit Ärger registriert „das Volk“ die sich ewig hinschleppenden Asylverfahren, die juristische Nachsicht, die selbst kriminellen Einwanderern und aggressiven Islamisten zuteil wird sowie die Mischung aus Naivität und moralischer Überheblichkeit in der – von den Medien publizistisch unterstützten – „Helferszene“, nicht zuletzt in den ihren religiös-geistigen Substanzverlust negierenden Kirchen.
Es sind eben nicht die verachteten „Abgehängten“, die ihrem kleinbürgerlichen Wohl nachtrauern und deshalb auf populistische Parolen hereinfallen. Hinter den permanenten Proklamationen von „Vielfalt“ steht das Tabuthema „Angst vor der Zukunft“. Also nichts als Angst vor der Freiheit? Nein! Angst vor dem Verlust der Freiheit? Ja. Mit der Einwanderung aus islamischen Ländern geht kulturelle Bedrängnis einher, parallel zur Auflösung gewohnter Lebensformen. Zusammengenommen bedeutet dies den Verlust an Sicherheit und damit an Vertrauen in die etablierte Politik. Ohne den „Populismus“ würden die Eliten in ihren Strategien ungestört fortfahren.
Quelle: Herbert Ammon