Sich Nietzsche zu nähern ist nicht frei von Ressentiments und Vorurteilen. Zu sehr polarisiert und polemisiert der große Denker, zu oft werden in ihm der Radikalaufklärer und der radikale Gegenaufklärer in einer Person gesehen. Aber eine Kontaktaufnahme erweist sich als unglaublich spannendes Ereignis, egal aus welcher Richtung man kommt.
Nietzsches Werke zeigen den Entwicklungsweg, den dieser bedeutende Philosoph der Neuzeit gegangen ist: seine Einflüsse und Beeinflussungen, seine unterschiedlichen Gesichter. Es gelingt allerdings nie gänzlich aus diesen Gesichtszügen zu lesen, wandelte er sich doch im Laufe seines Lebens und Schreibens unaufhörlich. Kein Denker liebte es wie er, zu experimentieren, sich selbst zu widersprechen, zu spielen. In einem Brief an Carl Fuchs (1888) gibt er höchsteigen einen Ratschlag, wie man ihn lesen sollte: „Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.“
Nietzsche richtig einzuordnen und auch zu verstehen, gelingt wahrscheinlich nur im biografischen Kontext, obwohl auch dieser beeinflussend und gedanken(um)bildend sein kann. Allerdings gibt es eine Frau, die dem „Übermenschen“, dem „Hochgebirgsdenker“ so nah wie niemand zuvor gekommen war. Lou Andreas-Salomé avancierte zu seiner „Glaubensgenossin“, seinem „Geschwistergehirn“, einer „Inkarnation seines Übermenschenideals“. Sie scheint Nietzsches „personifizierte Philosophie“ zu sein.
1894 schrieb sie das vorliegende Werk. In drei große Kapitel hat die Autorin ihre Abhandlung gegliedert (Sein Wesen, Seine Wandlungen, Das „System“ Nietzsche), und können als eine der besten und fundiertesten biografischen Nietzsche-Werksanalysen angesehen werden. Biografisch dahingehend, dass das Buch keine – wie es der Titel vermuten lässt – reine Werksauslegung darstellt, sondern „dass die persönliche Beziehung der Verfasserin zu Nietzsche und die Beigabe verschiedenartiger Dokumente wie auch einzelner Stellen von Briefen Nietzsches an sie und Paul Rée gleichfalls nur dem Ziel dienen solle: den Entwicklungs- und Erkenntnisweg Nietzsches, der gleichsam in den Werken verborgen ist, sichtbar zu machen.“, schreibt Ernst Pfeiffer in seinem Vorwort.
Lou Andreas-Salomé erkennt als eine der ersten, dass der Wert seiner Gedanken nicht in ihrer theoretischen Originalität liegt, „nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit redet, – in dem, was nach seinem eigenen Ausdruck wohl zu widerlegen, aber doch nicht 'todtzumachen' ist.“ Ihr gelingt es auf unnachahmliche Art und Weise Nietzsches Einsamkeit herauszuarbeiten, aus welcher sein „Innenleben ganz herausbegriffen werden muss, – einer sich stetig steigernden Selbstvereinsamung und Selbstbeziehung auf sich selbst.“ Sie erkennt, ja fühlt, das Verallgemeinernde der Seele Nietzsches zu einer Weltseele. „Aber deshalb ist es eben der Mensch und nicht der Theoretiker, auf den wir unsern Blick richten müssen, um uns in den Werken Nietzsches zurechtzufinden, – und deshalb wird auch der Gewinn, das Resultat unserer Betrachtung nicht darin bestehen, dass uns ein neues theoretisches Weltbild in seiner Wahrheit aufgeht, sondern das Bild einer Menschenseele in ihrer Zusammensetzung von Größe und Krankhaftigkeit.“
„Es gibt zwei Arten des Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert.“, schreibt Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“. Der Philosoph gehörte zweifellos der letzteren Art an. Er war eine „männliche Mutter.“ Zudem wurde er durch seine angeschlagene Gesundheit genötigt, „sich selbst zum Stoff seiner Gedanken zu nehmen, sein eigenes Ich seinem philosophischen Weltbilde unterzulegen und dieses aus dem eignen Innern herauszuspinnen. Vielleicht hätte er im andern Falle etwas so ganz Eigenartiges, – und daher so ganz Einzigartiges, nicht geleistet.“ Zudem bezeichnet Lou Andreas-Salomé die ganze Geistesart Nietzsches als eine „in sich selbst zurücklaufende, niemals stillstehende Bewegung“. Wie wahr: Steht doch gerade der Kreis wie ein wundersames Symbol und Geheimzeichen über der Eingangspforte zu seinen Werken.
So wie das Buch in drei Kapitel unterteilt ist, kann auch Nietzsches eigene Entwicklung dreigeteilt werden. Sie beginnt mit der antiquarischen, die dem Philologen zukommt, lässt darauf die monumentale Auffassung folgen, „die ihn veranlasst, als Jünger zu Füßen großer Meister zu sitzen“ und schließt mit seiner späteren positivistischen Periode als der Kritischen. „Betrachtet man seine Gedanken in ihrem Wechsel und ihrer Mannigfaltigkeit, dann erscheinen sie fast unübersehbar und allzu compliciert; versucht man hingegen aus ihnen herauszuschälen, was sich im Wechsel stets gleich bleibt, dann erstaunt man über die Einfachheit und Beständigkeit seiner Probleme.“, stellt die Autorin fest.
Es ist keineswegs notwendig, Nietzsche in allen seinen Erklärungen und seinen bisweilen gewagten Geschichtsinterpretationen nachzugehen, da die eigentliche Bedeutsamkeit dieser Anschauung für seine Philosophie an einer anderen Stelle liegt, als wo man sie gemeinhin sucht. Nämlich: „Im Bedürfnis, Alles möglichst zu verallgemeinern und wissenschaftlich zu begründen, hat Nietzsche versucht, Etwas, dessen Bedeutung für ihn innerhalb eines verborgenen seelischen Problems lag, aus der Menschheitsgeschichte zu entwickeln und in sie hineinzulegen.“ Nietzsches kann und darf man sich nicht wissenschaftlich nähern.
Letztendlich lässt sich schlussfolgern, dass trotz aller Widersprüche, Irrtümer und Fehler in Nietzsches Philosophie, diese immer noch eine Fülle von Anregungen enthält, „die ihre allgemeine Bedeutung erhöht, selbst wo jene ihren wissenschaftlichen Wert verringern. (…) Nietzsches geniale Vielseitigkeit (…) erschließt neue Einblicke gerade in Gebiete, zu denen der Logik der Schlüssel fehlt, in denen diese sich gezwungen sieht, dem Wissen seine Lücken zu lassen.“
Zur Einschätzung dieses großartigen Buches kann der deutsche Philosoph selbst herangezogen werden: „Um so mehr strengte ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen, dessen großes Testament ich zu lesen hatte und der nur solche zu seinen Erben zu machen verhieß, welche mehr sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und Zöglinge.“ (aus „Schopenhauer als Erzieher“)
„Und aus dem Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere.“ (F. Nietzsche: Zweiter Teil. Also sprach Zarathustra)
Lou Andreas-Salomé
Nietzsche in seinen Werken
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.