Kann es sein, dass 15 Jahre einen Dirigenten total verändern? 1999 leitete, damals eine Offenbarung für das Alte Musik-abstinente München, Barock-Ass Ivor Bolton im Prinzregententheater die das Genre Musiktheater 1609 begründende Oper, Claudio Monteverdis „L`Orfeo“, in einer noch sehr der Tristesse dieses Werks verpflichteten Interpretation Achim Freyers. Derselbe Ort, dasselbe Werk 2014, als 2. Premiere der diesjährigen Opernfestspiele: ganz anderes Flair, ganz andere Sichtweise auf das Geschehen, folglich auch ein ganz anderer „Ton“, der aus dem Graben kommt. Beschwingt klingt der alte Renaissance-Komponist hier und jetzt, draufgängerisch, etwas schroff oft, packend. In gewohnter Stringenz allerdings.
Im ersten der fünf stark gekürzten Akte – die Aufführung dauert nicht einmal zwei Stunden – dominieren Hippie-Jux, Flower-Power-Naivität und Trash. Die juvenile, spritzige Singakademie Zürich durfte sich hip herausputzen, kam in sommerlichem 35 Grad Celsius-Look zu einer zwanglosen Gartenparty im Irgendwo, wo Margeriten vor grau dräuendem Background aus dem Boden sprießen und im Todesfall die Blütenblätter verlieren, in einem ausgemergelten, jenseits jeder TÜV-Test-Erlaubnis auf die Bühne wackelnden VW-Bus an. Unter dem lustigen Völkchen der ältliche Hochzeiter Orfeo und seine süße Braut Euridice, ganz in Weiß. Das bombige, popig begossene Glück währt nur kurz, die Hochzeiterin tötet ein Schlangenbiss, der Bräutigam versinkt in Schmerz und Trauer.
Dass es möglich ist, die Verstorbene den Fängen Plutones zu entreißen, verdankt das Publikum dem Umstand, dass es sich um eine Barockoper handelt. Diese bedient sich frei eines Stoffes der griechischen Mythologie. Man darf sich an herzergreifenden Klage-Kantilenen aus der Goldbariton-Kehle des grandios emotionalen Christian Gerhaher weiden, ihn in einem Anflug einer nicht wenig komisch wirkenden Popsänger-Nummer erleben, die Lyra streichelnd, die er dem Hochzeitsgeschenk-Karton entnahm (Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Falko Herold). Dass der etwas schwerfällige, pyknische statt athletische, bemüht gelenkige, egomanische Künstler Orfeo sich am Ende – unvorsichtiger- und verbotenerweise schaute er um, als er seiner soeben Angetrauten wieder ansichtig wurde – die Pulsadern aufschneidet, um sich lieber gleich mit Euridice in die vorher gut umgegrabene Erde zu legen, geht in David Böschs ansonsten sehr ideenreichen, keineswegs gewollt modernen, durchaus sympathischen, gegen Ende hin sich ziehenden Regie, jedenfalls für die weiter hinten Sitzenden, unter.
Diese Premiere war vor allem ein Fest der genussreichen Stimmen zur phantastisch gespielten, choreographierten und chorisch brillant interpretierten Alten Musik des Begründers der Oper: Anna Bonitatibus als voluminös todverkündende Proserpina, die dem derzeit Abgründigsten aller jungen Bässe, Andrew Harris (Plutone) geil an den Hosengürtel geht, aber auch Andrea Mastroni als magisch zerfetzter Hades-Karrer Caronte, der sich von Orfeo im Schlaf überlisten lässt, nicht zuletzt die gefeierte junge glutvolle Russin Anna Virovlansky als liebreizende Euridice und Angela Brower als die ganze Geschichte einfädelnde geflügelte, Koffer tragende Speranza/La Musica.
München hat nun einen Monteverdi im Programm: vorzeigbar dank Böschs optimistischem Zugriff auf einen eher faden Stoff, dank Boltons herrlich eingängigr Klangsuggestionen, doch auch eines Titelhelden, dessen baritonal solitäre Qualitäten sich immer mehr als geradezu unschätzbar erweisen.
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