Der 86-jährige Reiner Kunze begeisterte beim 15. Literatur-Festival Burghausen ein an Lyrik interessiertes Publikum

Der 86-jährige Reiner Kunze begeisterte beim 15. Literatur-Festival Burghausen ein an Lyrik interessiertes Publikum. (Foto: Hans Gärtner)

Halb Seelenhauch, halb Kehlenhauch 

Mag sein, dass es sein ausdrücklicher Wunsch war, auf dem Podium der Aula des Kurfürst-Maximilian-Gymnasiums von Burghausen nicht an einem Tisch sitzen zu wollen, sondern auf einem Stühlchen, von dem aus es sich an ein Mikrofon herantreten ließ, um zu lesen. Doch man hätte es ihm ausreden sollen. Er hätte es an einem Lesetisch bequemer gehabt. Und die Zuhörer, zumindest die, die geradewegs auf ihn schauten, hätte das Mikrofon direkt vor seinem Mund nicht gestört. Der berühmte Reiner Kunze wollte sich, von der Stadt Burghausen zur 15. Ausgabe von „LITERATUR LIVE“ eingeladen, um die Lyrik bei dem Festival prominent zu vertreten, vielleicht sportlich zeigen. Wollte beweisen, dass man – mit 86 Jahren – noch so beweglich sein kann, für öffentlich gegebene Kostproben aus seinem literarischen Schaffen mehrmals neu anzusetzen, im Stehen. Also gut. Ein Plus zu seinen vielen Plus, die der sympathische Reiner Kunze einheimste bei dieser „Konzertlesung“. So taufte er eingangs die Veranstaltung, der die musikalisch begabten stadteigenen Geschwister Anna (Klavier) und Clara (Oboe) Schweinberger ein „wunderbares“ (so Kunze), von ihnen so feinfühlig zusammengestelltes wie präsentiertes Schumann-Programm aufprägten.

Während Anna – von der „Kreisleriana“ über „Davidsbündlertänze“ bis zur „Träumerei“ – den Romantiker Robert Schumann, von Claras Beigabe der Oboen-Romanze op. 94 Nr. 1 verstärkt, erklingen ließ, hatte Kunze Verschnaufpause. Er hörte der Musik nicht weniger aufmerksam zu als das Publikum ihm, dem beschwörenden Magier der schönen Form gesprochener Worte, bei Mucksmäuschenstille Gehör schenkte. Es war aufgefordert, je nach Wunsch und Notwendigkeit, die Wiederholung eines der aus dem neuesten Kunze-Buch „die stunde mit dir selbst“ ausgewählten Gedichte zu verlangen. Gut, dass davon mehrmals Gebrauch gemacht wurde. Ob aus akustischen Verständnisgründen oder weil ein Text gar so gut gefiel oder doch erst beim zweiten Mal Hören in die Tiefe führte.

An manchen seiner neuesten Kreationen lässt Kunze den Leser/Hörer ganz schön lange knabbern: „Nur selten kam zu mir der Traum als Freund. Er war der Jäger, ich das Wild. Und am Tage blickte ich seinem Treiben in die Augen“. Von den sechs Abschnitten, in die Kunze, dem Buch folgend, seine etwa 70 Minuten (samt Zugaben) dauernde Lesung gliederte, löste erst der letzte spontane Reaktionen auf die Texte die zunächst geübte Zurückhaltung ab. Kunze war bei den Kinder-Gedichten angelangt. Er schmunzelte, scherzte mit Reimen (Henkel – Enkel, Dach – Fach), gab noch mehr Wortspielerischem Raum als in den vorangegangenen „ernsten“, appellierenden, kritisierenden und die Rolle des Dichters reflektierenden Teilen – mit „Geheimnis des Nussbaums“, „Hirtentäschel“, „Gänseblümchen“ und dem lautierend untermalten „Schlafwagenschlaflied“. Da war der Saal wach. Und die Situation für die Prosa-Zugabe aus der Mappe mit den „fast Märchen, fast Geschichten“ reif: „Das Märchen vom Dis“ mit der schon seit Jahrzehnten (Kinder-)Literaturgeschichte geschriebenen oftmaligen Wiederholung „halb Seelenhauch, halb Kehlenhauch“. Kunzes Kehle hauchte Seele aus. Hauchte in die Seele der beseligt die Gaben eines Beseelten Genossenen.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.