Offiziell war die DDR-Literatur Teil des ideologischen Überbaus der sozialistischen Gesellschaftsordnung, dem die ökonomische Basis, die der Planwirtschaft unterworfen war, gegenüberstand. Durch die von sozialistischen Schriftstellern produzierte Literatur sollten die „Werktätigen“ erzogen und zu höheren Arbeitsleistungen beim „Aufbau des Sozialismus“ angespornt werden. Dass dieses hehre Ziel nie erreicht wurde, zeigt das krachende Scheitern des am 24. April 1959 verkündeten „Bitterfelder Weges“, der von den Folgen des Mauerbaus am 13. August 1961 konterkariert wurde. Die staatlich verordnete Literaturbewegung verlief ganz anders, als von den Literaturplanern im SED-Politbüro vorgesehen.
Wie befohlen, schrieben die Arbeiter („Greif zu Feder, Kumpel!“) ihre Erlebnisse in den Betrieben auf, doch dabei entstand keine Literatur, die man hätte drucken können. Ein Dutzend der Berufsschriftsteller (einige wie Willi Bredel weigerten sich auch, den Schreibtisch mit dem Schraubstock zu vertauschen) ging tatsächlich für einige Wochen in die Betriebe, wo ihnen aber rasch, wenn sie Schulter an Schulter mit der „Arbeiterklasse“ in der Fabrikhalle standen, die Augen geöffnet wurden über die Zustände an der „ökonomischen Basis“. Brigitte Reimann, die mit ihrem Ehemann Siegfried Pitschmann im Industriekombinat „Schwarze Pumpe“ arbeitete, veröffentlichte am 8. Dezember 1962 in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ einen „Offenen Brief“ an Walter Ulbricht, worin sie ihre Enttäuschung darüber schilderte, dass die „Arbeiterklasse“ immer noch der „bürgerlichen“ Ideologie verfallen war.
Ihr Roman „Die Geschwister“ (1963) und der ihrer Kollegin Christa Wolf „Der geteilte Himmel“ (1963), der in der Waggonfabrik Halle-Ammendorf spielt, greifen zwar das Bitterfelder Muster eines Industrieromans auf, lassen aber die Themen zu Wort kommen, die den DDR-Bürgern auf den Nägeln brennen, in diesem Fall die massenweise „Republikflucht“ nach Westberlin. Der erste Roman, der die DDR-Gesellschaft kritisch ins Visier nahm, war der von Karl Heinz Jakobs „Beschreibung eines Sommers“ (1961), der noch vor dem Mauerbau erschien und zum Bestseller wurde: Auf einer Großbaustelle verliebt sich ein lediger Ingenieur in eine verheiratete Genossin, wird vors Parteigericht zitiert, weil das Liebesverhältnis der „sozialistischen Moral“ widerspricht, und muss seiner Liebe abschwören!
Die in Neustadt noch bis 18. Oktober zu besichtigende Ausstellung wurde im Auftrag der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von dem 1950 in Halle/Saale geborenen Historiker Dr. Stefan Wolle erarbeitet, der das Berliner DDR-Museum leitet und mindestens zwei bemerkenswerte Bücher geschrieben hat: „Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte“ (1993) und „Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989“ (1998). In der sehenswerten Ausstellung wird das traurige Schicksal des einstigen Wismut-Bergmanns und Schriftstellers Werner Bräunig (1934-1976) beschrieben , dessen Romanmanuskript „Rummelplatz“, von dem Auszüge im Oktoberheft 1965 der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ vorveröffentlicht worden waren, auf dem 11. Plenum des ZK der SED (16. bis 18. Dezember 1965) wegen „Beleidigung der Werktätigen und der sowjetischen Partner“, massiv kritisiert wurde und von keinem DDR-Verlag gedruckt werden durfte. An dieser Entscheidung zerbrach der Autor, verfiel dem Alkohol und verstarb mit 42 Jahren. Das verbotene Buch erschien 2007 im Aufbau-Verlag.
Eine Schautafel ist der „Giftschrankliteratur“ gewidmet. Man erfährt, dass man eine Haftstrafe riskierte, wenn man solche antikommunistischen Bücher besaß und zum Lesen an Freunde weiterreichte. Beispiele werden nicht genannt. Mein Waldheimer Mithäftling Baldur Haase in Jena ließ sich 1958 von einem westdeutschen Freund George Orwells utopischen Roman „1984“ schicken und wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Darüber hat er das Buch „Briefe, die ins Zuchthaus führten“ (2003) geschrieben. Von Erich Loest, der als DDR-Häftling sieben Jahre im Zuchthaus Bautzen II gesessen und danach mehrere DDR-kritische Romane geschrieben hat, wird auf Schautafel 18 nur der Buchtitel „Der vierte Zensor“ (1984) vermerkt, ohne dass erklärt würde, worum es geht: Es geht „um das Entstehen und Sterben“ (Untertitel) des Romans „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978).
Von Erik Neutsch mit seinem noch heute lesenswerten Bitterfeld-Roman von 912 Seiten „Spur der Steine“ (1964) wird nur die nach wenigen Vorführungen verbotene Verfilmung erwähnt, ohne dass die politische Sprengkraft des Romans genannt würde. Der heute bei Passau wohnende DDR-Autor Reiner Kunze, der mit seinem nur in Westdeutschland erschienenem Buch „Die wunderbaren Jahre“ (1976) hohes Aufsehen erregte und deshalb 1977 ausgebürgert wurde, kommt bei Stefan Wolle nicht vor. Auch Anna Seghers, Stefan Heym, Jürgen Fuchs sucht man vergeblich. Es gab auch in der DDR fiktive Literatur zum als „Konterrevolution“ diskriminierten Aufstand des 17. Juni 1953 wie die Romane Stefan Heyms „Fünf Tage im Juni“ (1974) und Erich Loests „Sommergewitter“ (2005) zeigen.
In den letzten DDR-Jahren unter Erich Honecker 1971/89 wurde die DDR-Literatur immer mehr zum Informationsträger, die die Bevölkerung über die Zustände im Land aufklärte. Sie übernahm damit die Aufgabe, die DDR-Zeitungen, die nur noch Verkündigungsblätter waren, nicht erfüllen konnten. Ein überzeugendes Beispiel für diese Literaturrichtung ist Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“ (1975), die nur in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ erschien, bei Suhrkamp in Frankfurt/Main aber als Taschenbuch. Es geht um ein Liebesspaar in Magdeburg, wobei der junge Mann ins Visier der Staatssicherheit geraten ist, während die junge Frau, Tochter eines SED-Kreisvorsitzenden, als Volontärin bei der Magdeburger „Volkszeitung“ arbeitet. Der Titel der Erzählung ist doppeldeutig, meint nicht nur den Text, sondern auch die DDR-Geschichte, die unvollendet ist, solange solche schrecklichen Geschichten passieren können! Auch der Name des überzeugten Kommunisten Volker Braun wird in dieser Ausstellung nicht genannt.
Als ich im März 1990 nach Jahrzehnten wieder zur Leipziger Buchmesse fuhr, machte ich Rast in Eisenach, um einen Kaffee zu trinken. Die Buchhandlung nebenan war angefüllt mit DDR-Literatur, ein Jahr später stand nur noch westdeutsche Literatur in den Regalen. DDR-Literatur interessiert heute niemanden mehr, außer vielleicht DDR-Forscher und DDR-Nostalgiker. Einer davon ist Peter Sodann, der 1962 bei der Leipziger Staatssicherheit in meiner Nachbarzelle saß und nach dem Mauerfall im Leipziger „Tatort“ den Kommissar Bruno Ehrlicher spielt. Er sammelt unermüdlich im sächsischen Staucha DDR-Literatur zwischen 1945 und 1990.