Rainer M. Holm-HadullaLeidenschaftGoethes Weg zur Kreativität. Eine PsychobiografieVandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (September 2008)266 Seiten, TaschenbuchISBN-10: 3525404093ISBN-13: 978-3525404096Preis: 19,90 EURO
„Nichts gibt uns mehr Aufschluss über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so dass wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können“ (Goethes Werk, Hamburger Ausgabe, Hrsg. v. Erich Trunz)
Unzählige Biografien und Abhandlungen sind über ihn verfasst worden. In der Schule gehören er und seine bedeutendsten Werke zum Standardrepertoire des Deutschunterrichts. Und erst jüngst hat sich ein bedeutender deutscher Schriftsteller in seinem Roman der letzen Liebe von ihm angenommen. Die Rede ist von Johann Wolfgang von Goethe.
Der Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla nähert sich dem bedeutendsten deutschen Dichter von einer ganz persönlichen Seite. Denn der Geheimrat war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Poet und ein einflussreicher Politiker, sondern während seines ganzen Lebens ebenso ein Suchender, Irrender und Leidender. „Goethes Leben war steinig und von vielfältigen Krisen erschüttert.„, beginnt der Autor seine Psychobiografie.
Was Goethe dennoch zu einem Herausragenden werden ließ, war offensichtlich seine besondere Fähigkeit, „seelische Leiden auszuhalten und zu kreativer Entwicklung zu nutzen.“
Nun hat eine Beschäftigung mit ihm und seinen Werken – geprägt durch den nicht immer optimal vermittelten Schulstoff – leider immer etwas Trockenes und Verstaubtes an sich. Doch Rainer M. Holm-Hadulla hat ein überaus interessantes und vor allem lesenswertes Buch geschrieben, das durchaus allgemeingültigen Charakter aufweist. Auch wenn mittlerweile über 200 Jahre vergangen sind, so kann es für den modernen Leser von heute gleichfalls überaus inspirierend sein, zu erfahren, auf welche Art und Weise Goethe aus Leidenschaften schöpferische Impulse gewann: „Menschen des 21. Jahrhunderts können in Goethes Leben und Werk wichtige Anhaltspunkte für ihre eigene kreative Entwicklung und Lebenskunst finden.„, so der Autor, „Die psychologische Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk ist deswegen so interessant, weil er seine persönliche Entwicklung und seine Krisen in einzigartiger Weise beschreiben konnte. Zudem hat er wirksame Bewältigungsstrategien von psychischen Konflikten entwickelt, weswegen die Beschäftigung mit Goethes Leidenschaften auch von lebenspraktischer Bedeutung ist.„
Ein Akt des Verstehens
In drei Teile hat Holm-Hadulla seine Psychobiografie gegliedert.
Zunächst entwickelt der Autor allgemein bedeutsame Einsichten bezüglich Goethes Leben und Werk, wobei er das Augenmerk auf dessen leidenschaftliches Streben nach einem schöpferischen Leben legt, beginnend mit seiner komplizierten Geburt am 28. August 1749, seinen Jugendjahren in Frankfurt, seiner nicht ganz einfachen Studentenzeit in Leipzig, bis hin zu den Weimarer Jahren, seiner Freundschaft mit Schiller, der Italienreise und letztendlich Alter und Abschied. Die ihn umgebenden Frauen wie Gretchen, Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Frau von Stein, Christiane Vulpius, Marianne Willemer oder Ulrike Levetzow erhalten dabei besondere Beachtung. Sie sind es vor allem, die zum Projektionsschirm für Gefühle und Ideen werden. „Er spiegelt sich in ihnen, nimmt die Empfindungen seiner Geliebten auf und kehrt bereichert zu sich zurück [oder] zieht schöpferische Energie aus Enttäuschung und Zurückweisung„.
Der zweite Teil des Buches befasst sich zunächst mit der Darstellung von Goethes Auffassung des Lebens als schöpferische Selbstverwirklichung, bevor der Autor dessen Leben und Werk unter den Gesichtspunkten der modernen Kreativitätsforschung betrachtet, um im Anschluss daran die Frage zu klären, ob Goethe – wie immer wieder behauptet wird – psychisch krank oder gestört gewesen sei.
Teil 3 und zugleich „Schlussplädoyer“ ist eine zusammenfassende Interpretation von Goethes Gedicht „Vermächtnis.“
Holm-Hadulla betrachtet zwar Goethes Weg unter psychologischen Gesichtspunkten, legt den Akzent jedoch nicht auf eine detektivische Suche nach Problemen und Störungen, sondern versucht, die Umstände zu erforschen, die zu einem produktiven und kreativen Leben führten. Dies ist ihm ausgezeichnet gelungen.
„Wir erfahren uns und die uns umgebende Welt im Akt des Verstehens. Nur durch das Verstehen finden wir einen Halt in einer chaotischen Welt von Eindrücken und Erlebnissen. Aus der verständnisvollen Begegnung mit Personen, Erfahrungen und Texten entsteht etwas Neues, das den Horizont erweitert und Orientierung verleiht. Verstehen ist dabei mehr als die rein gedankliche Strukturierung von Erfahrungen. Es ist eine umfassende Bewegung, die sinnliche und praktische Erlebnisse umgreift und in der Menschen erst zu dem werden, was sie wirklich sind oder sein können.“
Fazit:
Das beständige Ringen um die Lebendigkeit des eigenen Selbst kann als Leitmotiv über Goethes gesamtem Leben stehen. Das Bedürfnis, äußere Ereignisse in einen Zusammenhang mit seinen inneren Erfahrungen zu bringen, dürfte wiederum der rote Faden sein, der jenes und sein Werk durchzieht.
Rainer M. Holm-Hadulla hat mit der vorliegenden Psychobiografie ein interessantes, äußerst lesenswertes und allgemeinverständliches, auf den Erkenntnissen der modernen Psychologie basierendes Buch über den großen deutschen Dichter geschrieben, das durchaus allgemeingültige Aussagekraft besitzt.
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