Das Ziel und das Heil des Menschen. Eine Groteske des lautstarken Lebens unweit der Krise

Die Sicherung: das Ziel des Menschen

Der einzelne Mensch hat immer ein Ziel. Mindestens eines, sein Minimalziel. Was auch immer er tut, sein Tun ist, sofern es bewusst geschieht, zuerst auf die Sicherung des eigenen, des reinenwie bloßen Daseins gerichtet. Dieses Ziel bedeutet ihm absolut alles. Jedenfalls solange, wie es unerreicht ist. Wenn es aber erreicht ist, bedeutet es ihm relativ nichts: dann ist dazu, weil schon alles getan ist, auch alles gesagt. Das Faktum eigenen Daseins beweist sich von selbst. Konkret dadurch, dass kein Mensch noch irgendein Wort darüber verliert. Es sei denn im Luxus eigener Sentimentalität – wenn das eigene Dasein längst gesichert ist.
Das Schweigen über das Leben an sich offenbart nur, welchen Wert es schon gewonnen und zugleich verloren hat. Kein Staunen darüber macht sich noch breit, dass überhaupt irgendwer ist und nicht niemand. Nun endlich, wenn zum Mindesten alles getan und gesagt ist, betritt der Einzelne seinen wie selbstverständlichen Lebensraum. Von nun an dreht sich nichts wie zuletzt um das reine, das tatsächliche Leben. Es geht zuerst und allein um das eigentliche, das gute Leben. Nein, um das beste aller möglichen Leben. Was sich wiederum von selbst beweist. Kaum dass ein Minimum erreicht ist, zählt nur noch das Optimum. Also endet das nichtige Schweigen und weicht einem mächtigen Schwallen.
Der ertrotzte Sicherheitsstatus enthebt schlagartig jeglicher Stille. Zwar herrscht nicht überall auf der Welt die gleiche Lautstärke, solange vielerorts nicht mal ein Wimmern ertönt. Das spielt aber formal keine Rolle. Wo immer ein einziger Mensch – und sei es mit letzter Kraft -, die Minimallinie überquert, da wähnt er sich sogleich berufen, im satten Brustton mitzuteilen, was ihn eigentlich umtreibt. Nicht umsonst hat er gelernt, dass niemals ein heimliches Dasein, sondern überhaupt nur dessen öffentliche Verkündung einen Zweck erfüllt. Darum heißt sein Auftrag: alles zu tun, um es kundzutun. Je lauter und deutlicher umso besser.

Die Erkundung: das Heil des Menschen

Das synchrone Schwingen der Töne verheißt ein schier endloses Treiben. Nichts lässt der Einzelne unversucht, sein Dasein aufzuwerten. Das heißt, sein richtiges von seinem nichtigen abzutrennen und mit aller Kulturgewalt emporzuheben. Was zumindest akustisch ein Unding ist: der Schall verwischt alle Barrieren und Grenzen. Wie auch jeden Unterschied zwischen dem reinen und dem bestmöglichen Leben. Bis auf einen natürlich, das ist klar: jeder Mensch tönt entschieden zucht- und machtvoller, wenn er von seinem gesicherten zum ungesicherten Dasein aufbricht – vom Altland aus Neuland erkundet. Dann dröhnt sein Werk voller Ernst und Grimm, geht es doch dem tiefsten Sinn auf die Spur. Dem höchsten Gut, dem edelsten Ziel entgegen. Denn nun steht das Heil auf dem Spiel – da vergeht jeder Spaß.
Die Neulandnahme lässt die Erde beben. Es hallt und schallt ein strenger Schritt. Die Wege zum Heil verlangen Disziplin und Mut, wiewohl sie an sich überschaubar sind. Mit der Masse der Menschen hat ihre Zahl nichts gemein. Im Gegenteil. Die Wegzahl verhält sich zur Masse konträr. Im Grunde schon lächerlich konträr, so absolut spärlich ist sie. Jedenfalls zeigt sich der Einzelne – wie besorgt auch immer -, alles andere als erfinderisch, was Wege zum Heil betrifft. Schlussendlich hat die Menschheit bis heute gerade zwei Strecken erkundet. Die eine offeriert ein Normalleben kraft vernünftigen Handelns, die andere zusätzlich ein Skandalleben kraft unvernünftigen Glaubens. Auf der ersten bleibt jeder der eine, der er für sich immer schon ist. Auf der zweiten wird jeder noch ein anderer, der er von sich aus nie sein wird.

Die erste Führung: die Wegstrecke eines Normallebens

Das eigene Heil zu suchen, ist ein Akt der Normalität. Wenn das reine, das so nichtige Leben es nur eben zulässt, macht sich der Einzelne sofort auf die Spur, sein Haben und Können zu mehren: um sein Dasein zu vollenden. Nicht einmal, nicht zehnmal macht er sich auf. Nein, weil das Heil ihn allzeit lockt und fordert, zieht es ihn immerzu hinaus. Mal mit, mal ohne Gezeter. Aber stets mit dem Marschbefehl im Genick, es suchen zu müssen. Sein Aufbruch ist sicher, und wäre es noch so ungewiss, das Heil zu fassen. Wie magisch zieht es ihn an. Und es nähme ihn selbst dann noch gefangen, wenn sein Weg in die Irre führte. Wenn es mitnichten bestünde und niemals bestanden hätte. Weder seines noch überhaupt eines. Keines.
Die Heilssuche mag so unsinnig wie unvernünftig sein. Das besagt und ändert aber nichts an aller Suche selbst. Absolut nichts. Letztlich genauso nichts, wie sich umgekehrt jemals etwas dadurch ändert, dass der Einzelne sein Heil tagtäglich findet. Millionen- und milliardenfach. Alles belanglose Normalität: weder das Suchen noch das Finden lässt ihn wirklich zur Ruhe kommen. Was er auch tut und lässt – er bleibt ein Getriebener, der ernst wie lautstark um sich kreist. Ein Akustiker, der sich auf viel Lärm um nichts versteht. Denn so weit sein Weg im Alleingang auch führt, so fern von sich gelangt er nie, als dass er jemals kundtun könnte, sein Spiegelbild zu übersehen und sein Echo zu überhören.
Der Unsinn des ganzen Treibens kommt niemandem in den Sinn. Seit Jahrtausenden ist es dieNorm, sich nach dem eigenen Heil zu strecken. Und dabei immerzu auf derselben Stelle zu treten. Das entspricht schon menschlicher Urnatur. Zur Veredelung ihres monotonen Klanges ertönt ein Kulturdogma. Es ruft zur Verantwortung, auf der je eigenen Stelle alles für das Heil zu geben. Den Trittschall dieser Lehre tragen Milliarden von Menschen als Taktlaut im Ohr: nur aufzubrechen, das Heil zu suchen – das sei mitnichten genug. Es dann zu finden, wenn es bestünde. Auch das werde es nicht sein. Es selbst zu erwirken, selbst zu erschaffen – das sei es, worum es geht. Selbst sei der Mensch und selbst sein Heil. Das sei es, was zählt.
Die penetrante Lehre keine Grenzen. Ihr Anspruch auf Hegemonie treibt sie überall hin. Wo sie ankommt, da führt sie das Wort – wo sie Gehör findet, da siegt sie. Bis zum letzten Winkel jedes Gehirns dringt sie vor. Sodann regiert sie vom Thron der Vernunft, um sich mit aller Vollmacht immer neu zu verbreiten. Was ihr ganz mühelos gelingt. Ihre zahllosen Varianten reproduzieren sich selbst – bilden immer weitere Glieder einer Kette biegsamer Sprechblasen. Passend für jedes Menschenleben, alle Momente und Vorlieben. Jedes Gehör. Damit auch keiner in Abrede stellt, dass er seines eigenen Glückes Schmied sei. Und jeder im Rhythmus seines Hammers bekennt, dass es ohne Fleiß keinen Preis gäbe.

Die zweite Führung: die Wegstrecke eines Skandallebens

Der Erfolg dieser Lehre gründet nicht in ihrer logischen Qualität oder empirischen Faktizität. Das reicht nicht, seinen Schallgrund auszumachen. Nein, ihr Erfolg erklärt sich vielmehr aus ihrer moralischen Plausibilität. Nach Regeln der Moral darf es keineswegs anders sein, als dass allein der Tüchtige der Glückliche sein kann: nur er hat das Glück verdient. Dass es jemandem zukommt, obwohl er nichts dafür getan hat, obwohl er nicht aufgebrochen ist, nichts gesucht und nichts gefunden hat, wirkt schon unmoralisch. Regelrecht pervers klingt es, dass jemand gerade und allein darum sein Heil erlangt, weil er nichts dafür tut: weil er es sich bequem macht, die Füße ausstreckt. Und entspannt an sein Heil glaubt. Ein Hirngespinst! Unglaublich – unerhört!
Die Botschaft eines unverdienten Heils ist ein Skandal: ein pauschales Ärgernis, das schon im Ansatz derben Protest erzeugt, weil es allen Normen eines vernünftigen Daseins widerspricht. Zwar eher leise, aber im Untergrund doch klar vernehmlich. Jedenfalls für den, der bereit ist, sich immer wieder mit einem Skandalfall zu befassen. Und das auch dann noch, wenn das Ärgernis trotz intensiver Anhörung schlechterdings nichts von seiner Schärfe einbüßen will. Im Gegenteil. Seine Bedeutung erweist sich regelrecht darin, dass es jedem Menschen nur umso schwerer fällt, das Unerhörte zu greifen, je häufiger er es vernimmt und wirklich bedenkt. Ganz anders als die eingängige Normallehre von der Selbstbeglückung.
Der Normenbruch vollzieht sich exakt an der Nahtstelle aufgeklärten Denkens: wo die selbst verschuldete Unmündigkeit mit der selbst verdienten Freiheit kollidiert. Auf dem Schlachtfeld der Vernunft mit seinem finalen Gefechtslärm. Obwohl die Gefechte weithin ein Produkt der Unvernunft darstellen: sie lassen annehmen, beide Heilsentwürfe würden direkt miteinander konkurrieren. Doch weit gefehlt. Würden sie daraufhin befragt, welches Heil sie eigentlich versprechen, so würde beim Absinken des Lärmpegels klar, dass sie zwei verschiedene Wege belagern: der erste, der moderne Normalentwurf, besetzt den Weg der Vernunft – der zweite, der antike Skandalentwurf, besetzt den Weg des Glaubens.
Die beiden Wege sind, trotzdem sie zu unterscheiden sind, nicht voneinander zu trennen. Es wäre darum nur illusorisch zu meinen, in aller Ruhe ein Skandalleben führen zu können, ohne sich noch um ein Normalleben scheren zu müssen. Nein, diese Flucht in nur ein Leben ist versperrt. Das Skandalleben bezeichnet vielmehr ein Doppelleben voller Dialektik, die nicht aufzuheben, sondern auszutragen ist. Wobei das Zugleich von Lärm und Stille für jenes Leben nur ein Beispiel liefert: das Leben eines Doppelgängers in Gestalt eines einzigenMenschen, der sich auf zwei Wegen zugleich befindet. Auf dem Weg der Vernunft, auf dem er noch alles richten und erwirken muss. Und auf dem Weg des Glaubens, auf dem er – zumindest was sein Heil angeht -, gar nichts richten und erwirken kann. Bis auf das eine, dass er sich den Glauben in allem Getöse seines Daseins als Geschenk eines anderen überreichen lässt.

Die Überbietung: die Wegschneise – ein Spezialfall

Die bisherigen Ausführungen zur Heilsthematik bedürfen freilich einer Ergänzung. Schon um nicht unwahrhaftig aufzutreten, ziemt es sich nachzureichen, dass die Zweizahl der Wege keinesfalls ohne Ausnahme besteht. Immerhin, so erfinderisch sind zumindest einige wenige Menschen, dass sie sich in Zeiten einer Krise auf einen dritten Weg besinnen. Eine wuchtige Schneise sogar, die zu anderen Zeiten versperrt bleibt. Unlängst noch war ihr Streckenverlaufnicht mehr einzusehen, weil vollständig von Schuttmassen begraben. Geschichtsgeröll, das tonnenweise in aller Stille verstreut lag. In Jahren zu gigantischen Halden getürmt.
Das einstige Sperren der Schneise zeugt jedoch nicht von einer Absenz des Heils. Jedenfalls keiner prinzipiellen – mitnichten. Es war nur unter Verschluss: wie schalldicht von jeglichemfremden Zugriff abgeschirmt. Von besonderen für besondere Menschen reserviert. So wie es eben üblich ist, wenn es um alles in der Welt gilt, etwas eminent Spezielles, ein Reserveheil, einen höchst heiligen Schatz zu bewahren. Oder wieder zu bergen und dorthin zu zurückzuführen, wo er hingehört – was bei Ausbruch der aktuellen Krise ad hoc geschah. Der hysterische Aufschrei, den er hervorrief, verlangte nach einer standrechtlichen Räumung der Schneise. Sowie der sofortigen Bergung und Rückführung des Schatzes an seinen einen, ureigenen Platz im Tresor heiligster Stille. Kaum dass der Schrei verhallte, war der Schatz an Ort und Stelle: das Heil wieder unter festem Verschluss.
Das kurzfristige Räumen der Schneise diente nur einem Zweck: ihrer jüngsten neuerlichen Schließung nach Überbringung des Schatzes. Ohne Zweifel ist er in den Händen und Fingern jener gut aufgehoben, die schon seit je her zu seiner Bewahrung berufen sind. Eben besonderen Menschen mit Spezialkenntnissen der Mehrung von Hab und Gut. Ihres eigenen zumal. Wenngleich was sie ihr eigenes nennen, niemals nur mit ihnen selbst zu tun hat. Nein, ihr Heil resultiert zuvorderst aus fremder Menschen Werk und Lärm: sie profitieren nur vom Aufbruch aller anderen. Also im Grunde davon, dass überhaupt niemand außer ihnen anders kann, als aufzubrechen, um das Heil selbst zu suchen und selbst zu finden. Denn für alle diese anderen gilt bis auf weiters eines: ihr Normalleben – ob mit oder ohne Skandal – begründet das Spezialleben einiger weniger, zu deren Profitdiensten sie unterwegs sind.

Die Auflösung: die Wege und die Schneise – eine Schlussbemerkung

Die hiesige Erkundungstour der möglichen Wege zum Heil sollte freilich nicht einfach sang- und klanglos zu Ende gehen, ohne zum Schluss noch einen kurzen Vergleich durchzuführen. Dabei im Mittelpunkt stehen die Unterschiede zwischen dem Normal- und dem Spezialweg einerseits sowie dem Skandal- und dem Spezialweg andererseits.
Der Vergleich zwischen dem ersten Weg und der Wegschneise bringt schon akustisch einen extremen Unterschied zutage: was die Heilsthematik berührt, so erschallt im Normalleben die Lehre vom selbst verdienten Heil nahezu immer bis zum Anschlag. Im Spezialleben dagegen erzeugt allein das zeitweilige Entkorken einer Flasche einen messbaren Laut. Ansonsten stört nichts die phantastische Stille, die nur exemplarisch jene Differenz anzeigt, die zwischen dem einen und dem anderen Lebensweg besteht. Da gibt es kein Vertun. Die Realität in Sachen des Heils verhält sich auf beiden Wegen immer exakt entgegengesetzt: heißt es hier, ein Jeder schmiede sein eigenes Glück, so heißt es dort, ein Anderer schmiede mein eigenes Glück. Und immer so weiter – bis hin zu der wundersamen Einsicht, dass nur im Normalfall der Hund zum Knochen kommt, im Spezialfall aber der Knochen zum Hund.
Der Vergleich zwischen dem zweiten Weg und der Wegschneise endet überhaupt ohne ein messbares Ergebnis. Die scheinbar identische Stille erklärt sich schlicht daraus, dass auf beiden Wegstrecken schon für das Heil gesorgt ist. In einem Skandalleben partizipiert jemand durch seinen Glauben am Heil. In einem Spezialleben hingegen durch sein Geld und seine Macht. Und falls ihm der Heilsschatz – wie in Zeiten der jüngsten Krise – mal kurzfristig abhanden kommen sollte, so ist doch Verlass darauf, dass ein Dritter ihn bergen und wieder zurückführen wird. Denn obgleich jener Dritte kaum Geld besitzt, verfügt er doch über Macht. Nämlich über die Gesetzesmacht, die besagte Schneise zu räumen, die für die Bergung und Rückführung so unentbehrlich ist. Das allein macht ihn genehm. Das bringt ihn schon in die Nähe eines anderen Dritten, der ebenfalls ein Heil verschenkt. Nur mit dem Unterschied, dass dieser auf dem Skandalweg selbst ein Kamel zum Heil gelangen lässt; auf dem Spezialweg jedoch nicht einmal eine Maus. Und erst recht keine, die bereits an einem Nadelöhr scheitert.

Über Büchler Ulrich 8 Artikel
Ulrich Büchler, geb. 1966, ist evangelischer Theologe und Sozialmanager. Seit 1996 übt er eine Leitungstätigkeit in sozial- und berufsintegrativen Projekten der Suchthilfe aus.

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