Das Wüten der Roten Armee 1945 – Freya Kliers Buch über den Untergang Königsbergs

Kaum ein Deutscher (die wenigen Betroffenen, die noch leben, ausgenommen), dürfte sich heute an den Untergang der deutschen Provinz Ostpreußen vor 70 Jahren erinnern. Am 13. Januar 1945 begann die Offensive der „Roten Armee“, die bis 25. April, als die letzten Reste der „Wehrmacht“ im Samland ausgeschaltet waren, andauerte. Die Schlacht um Königsberg wurde vom 6. bis 9. April 1945 auf beiden Seiten mit unglaublicher Härte geführt. Als General Otto Lasch die Kapitulationsurkunde unterzeichnet hatte, begann das Martyrium für die noch verbliebene Zivilbevölkerung unter sowjetrussischer Besatzung: sinnlose Erschießungen und Folterungen setzten ein, zahllose Frauen wurden Opfer von Massenvergewaltigungen durch enthemmte Rotarmisten. Hungersnöte und Krankheiten dezimierten die Einwohner derart, dass von den 110 000, die beim Kriegsende 1945 noch in der Stadt lebten, im Jahr der Ausweisung 1948 nach Restdeutschland gerade noch 15 000 überlebt hatten. Nachlesen kann man das alles in den Büchern Otto Laschs „So fiel Königsberg“ (1959), Hans Graf Lehndorffs „Ostpreußisches Tagebuch“ (1961) und Michael Wiecks „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“ (1989). Diesem Untergang einer 1255 vom Deutschen Orden gegründeten Stadt hat Freya Klier, die keine Ostpreußin, sondern Sächsin ist, und die fünf Jahre nach Kriegsende in Dresden geboren wurde, ihr neuestes Buch gewidmet. Dabei fällt auf, dass sie das, was sie dem Leser erzählen will, nicht 1945 im Kriegschaos enden lässt, sondern die Handlung fortführt bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 2014 hinein. So heißt das abschließende Kapitel dieses Buches denn auch „Hoffen auf Immanuel Kant“, womit auf die unglaublich reichen Kulturleistungen Ostpreußens verwiesen wird, die ein Geschenk an die ganze Menschheit sind. Freya Klier lässt in diesem 15. Kapitel noch einmal einige ihrer Zeitzeugen auftreten, deren Leben sie bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgt. Da ist Brigitte Possienke, die als DDR-Lehrerin Russisch unterrichtete und zwischen 2000 und ihrem Todesjahr 2010 mehrmals ihr Heimatdorf besuchte und die heutigen Bewohner ausfragte, die von der sibirischen Halbinsel Kamtschatka, von Irkutsk und Omsk, von Archangelsk und Odessa hierhergekommen waren. Mit wachen Augen bemerkt sie aber auch, wie das Land, das einmal die Kornkammer des Deutschen Reichs gewesen war, zunehmend versteppt: „Anfang der 90er-Jahre existierten die Kolchosen noch. Nun gibt es die aber nicht mehr. Die Leute haben einerseits keine Erfahrung mit eigener Landwirtschaft. Und sie haben andererseits kein Geld, um sich irgendwelche Maschinen, Geräte, Dünger und Saatgut zu kaufen. Dieses Jahrhunderte alte Kulturland verödet, versteppt. Es ist ein Trauerspiel.“
Die 2014 verstorbene Ostpreußin Karla Bowarzyck lebte in Erfurt, ihre in Estland aufgewachsene Schwester Anne Rekkaro, die 1945 aus Königsberg von einer Estin mitgenommen wurde nach Reval, wodurch sie dem Hungertod entging, versucht seit Jahren verzweifelt gegenüber deutschen Behörden den Nachweis zu führen, dass sie geborene Deutsche ist, kann aber keinerlei Unterlagen beibringen. Und da sind noch die beiden Musiker Michael Wieck (1928) und Siegfried Matthus (1934), der eine nach Verfolgung und Lagerhaft am Konservatorium in Westberlin ausgebildet, der andere an der „Deutschen Hochschule für Musik“ in Ostberlin. Beide knüpfen, unabhängig voneinander, auf musikalischem Wege nach 1989/90 Kontakte in die alte Heimat Ostpreußen.
Das erste Kapitel „Sommer 1944“ dieses breiten Panoramas über den Untergang Ostpreußens wirkt auf den Leser wie eine Idylle! Es war der letzte Sommer für die dort lebenden Deutschen, bevor die „Rote Armee“ an der Reichsgrenze einen Durchbruch erzielte und in Nemmersdorf am 21. Oktober ein entsetzliches Massaker an der Zivilbevölkerung anrichtete. Jetzt begannen die heimlichen Fluchtvorbereitungen, und im Januar 1945 fuhren die ersten Trecks auf dem Landweg oder übers Haff und über die Nehrung westwärts „ins Reich“. Für das, was mit den in Ostpreußen Zurückgebliebenen geschah, hat die Autorin sechs Zeitzeugen gefunden, die damals noch Kinder und Jugendliche waren und die Entsetzliches zu berichten hatten: ihre Leidensgenossen sind zu Hunderten verhungert und erfroren, ihre Mütter und Schwestern wurden Nächte hindurch vergewaltigt. Wer überlebte und 1948 ausreisen durfte, hatte unglaubliches Glück gehabt!
Freya Klier verfolgt ihre Schicksale auch in den beiden Nachkriegsstaaten, fast alle suchen nach ihren Eltern und werden vorerst in Pflegefamilien untergebracht. Erschütternd sind die Szenen zu lesen, wie die jetzt erwachsenen Ostpreußen, schon Jahre vor dem Mauerfall 1989, nach Königsberg und in ihre Heimatdörfer fahren, um ihre Kindheitserinnerungen bestätigt zu finden. Das ist ein Buch, das kaum auszuschöpfen ist und mit einem Preis gewürdigt werden sollte!

Freya Klier „Wir letzten Kinder Ostpreußens. Zeugen einer vergessenen Generation“, Herder-Verlag, Freiburg 2014, 448 Seiten, Euro 22.99

Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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