Das Spiel, das tödlich endet Andreas Wiedermanns Opera Incognita geht mit Leoncavallos „Bajazzo“ queere Wege

„Ein Arzt! Ist hier kein Arzt im Saal?“ Beppo (Benedikt Bader) ist außer sich. Das Publikum auch. Es gibt da keinen Arzt, der den soeben, am Ende von Ruggero Leoncavallos Einakter „Der Bajazzo“ erstochenen Silvio noch hätte helfen können. Er liegt tot am Boden. Erstochen von Canio, dem vor Eifersucht berstenden Capo der fünfköpfigen Wandertruppe, die im Nymphenburger Hubertussaal auf einem quadratischen meterhohen Podium ein 85-minütiges Opern-Drama ablaufen lässt, dass einem das Blut in den Adern stockt.

Die Wandertruppe, gekleidet und mit Pappkoffern, Materialrollwägelchen, ein paar Scheinwerfern und einem Laken für neckische Schattenspiele ausgestattet à la Fünfzigerjahre, heißt Opera Incognita. Sie wird perfekt und hochintelligent angeleitet von Andreas Wiedermann. Auf der Bühne des Gasthauses „jakobmayer“ in Dorfen mehrere Abende zuvor erprobt, ist sie für drei Termine in Bayerns Opernhauptstadt gelandet, nicht ohne von dort den bewährten Dirigenten Ernst Bartmann mit seinem ihm willfährigen 9-köpfigen Orchester mitgebracht zu haben, der so viel mitreißenden Verismo wie nötig zum „bösen“ Spiel um Eifersucht und Ehekrise Klang werden zu lassen.

Kenner von Leoncavallos Oper stutzen, weil ihr gewohntes Pendant „Cavalleria Rusticana“ fehlt. Ganz und gar irritiert mögen sie über Silvios „echten“ Tod sein. Der erklärt sich aus der ins Libretto hineingetragenen Zusatz-Story einer queeren Liebschaft zwischen Opfer (Silvio) und Mörder (Canio). Diese Version ist in der Tat schockierend. Sie folgt einem Modetrend. Schwul geht immer noch gut. Gibt der Geschichte einen Touch des Zeitgemäßen, aber auch Ergreifenden.

Die Rasanz, die auf dem von zwei Seiten her „bespielten“ Mittel-Podium abgeht, ist von ergreifendem Drive, nicht erlahmender Spannung, beinahe überkandidelter Verve. Alle seine Darsteller, besonders Florian Dengler als Silvio, führt Wiedermann bis an die Grenze des Outrierens. Dass sie alle über fulminantes darstellerisches Können verfügen, ist ihr und des Publikums Glück. Dass sie dabei noch respektable Gesangsakrobatik abliefern, ist nicht selbstverständlich. Dorothee Koch ist eine Nedda, die glutvoll ihr Vogellied singt und für ihren Schwarm Silvio Pferde stehlen ginge. Mantas Gacevicius zieht einen schon mit seinem bravourösen Prolog ins immer heißer und kühner werdende Spiel im Spiel. Und Max Prodinger hat das Zeug zu einem tenoral auftrumpfenden Bajazzo der großen Opernbühne.

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Lieben sich … (Hans Gärtner)

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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