Hans Magnus EnzensbergerHammerstein oder Der Eigensinn: Eine deutsche GeschichteDhv der Hörverlag, München (August 2008)3 CDs, ca. 224 MinutenISBN-10: 3867172765ISBN-13: 978-3867172769Preis: 24,95 EURO
Im Januar dieses Jahres legte Hans Magnus Enzensberger sein wohl umstrittenstes Buch vor: „Hammerstein oder der Eigensinn“. Es ist die Lebensgeschichte eines klugen, weder autoritäts-, noch obrigkeitsversessenen, aber auch eigensinnigen Charakters und dessen Familie: des aus altem westfälischem Adel stammenden, heutzutage kaum mehr bekannten Kurt von Hammerstein-Equord, General der Reichswehr (1878-1943).
Als Adolf Hitler 1933 bei einer Zusammenkunft in Hammersteins Haus seine Weltkriegspläne enthüllte, entschied sich der Chef der Heeresleitung gegen einen Militärputsch und quittierte seinen Dienst. Hammersteins Töchter und Söhne wählten jedoch den aktiven Widerstand, die Mädchen hauptsächlich im kommunistischen Untergrund. Helga zum Beispiel war mit Leo Roth liiert, einem Spitzenagenten des illegalen M-Apparats der KPD und sie spionierte auch selbst. Die Motorrad fahrende Maria Therese heiratete einen Halbjuden und führte ein abenteuerliches Exilleben, unter anderem in einem Kibbuz. Marie Luise, die Älteste, ging nach dem Krieg sogar in die DDR, wurde SED-Mitglied und Anwältin, gerüchteweise sogar KGB-Agentin.
Ludwig und Kunrat wiederum gehörten zu den direkt Involvierten des Hitlerattentats am 20. Juli 1944.
Fiktives Totengespräch
Enzensberger – fasziniert von diesem klugen, aber auch streitbaren Kopf – konstruiert ihn als tragendes, den Stoff zusammenhaltendes Grundgerüst in seine Geschichte und legt die Handlung um ihn herum an. „Es gibt keine gründliche Publikation über diesen Mann, der immerhin der erste Mann in der Reichswehr war, vor dem Machtantritt Hitlers. [Eine Figur], die eine ganze deutsche Geschichte in ihrer Breite, in ihrer Vielfältigkeit, in ihren Nuancen, in ihren Widersprüchen“ darstellt, so Enzensberger in einem Interview. Der Autor hat überlegt, wie er sich diesem Mann literarisch nähern könnte. Roman und wissenschaftliche Abhandlung sollten es nicht sein. Der historischen Wahrheit wollte er jedoch unbedingt nachleuchten.
Die noch lebenden Familienmitglieder bezweifelten, dass sich diese Geschichte überhaupt von einem Außenstehenden darstellen lässt, nicht zuletzt, weil es von Versionen und Widersprüchen wimmelt. Hinzu kommt der „Erlebnisabgrund“ des Erzählenden gegenüber den Leuten, die damals gelebt haben.
Doch der Autor hat den schwierigen Spagat großartig geschafft. Er bedient sich einer alten literarischen Technik – dem fiktiven Totengespräch, der posthumen Erzählung. Enzensberger zitiert aus Akten und widersprüchlichen Zeugenberichten, er unterhält sich mit den Toten, integriert Meinungen von Zeitgenossen und greift erklärend ein, wo es geboten scheint: eine präzis-kühle, aber spannende Collage aus vielfältigen Auffassungen und Tatsachen.
Äußerst wertvolle Hörspielproduktion
Dies wiederum scheint geradezu prädestiniert für die gewählte Hörspielfassung zu sein, die mit achtzehn hervorragenden Sprechern besetzt wurde – unter ihnen solch großartige Schauspieler wie Gisela May, Dietmar Mues oder aber Hans-Michael Rehberg, der den General persönlich intoniert. Für die Rolle des Autors, des Interviewenden, zeichnet sich Friedhelm Ptok mit seiner markanten und charismatischen Stimme besonders aus. Er fungiert hierbei als überaus beeindruckender und souveräner Gesprächsführer, der die Fäden während der ganzen Zeit unfehlbar und eigenständig in der Hand behält und seine stimmlichen Fertigkeiten in den Dienst des Textes stellt, dessen Substanz er erkenntnisklar zum Vorschein bringt.
Und so ist eine äußerst wertvolle Hörspielproduktion entstanden, die eine streitbare Familie beleuchtet. Der Zweifel jedoch bleibt bestehen, ob die Nachgeborenen über genügend Vorstellungskraft verfügen, um dem, was vor vielen Jahrzehnten geschah, gerecht zu werden. „Wie dem auch sei, jedenfalls herrscht bei den Hammersteins ein Schweigen besonderer Art. Wer in Zeiten der Diktatur lernen musste, dass es gefährlich sein kann, alles zu äußern, was einem durch den Kopf geht, dem mag ein solches Training zur zweiten Natur werden und er wird nicht leicht davon ablassen.„, intoniert Friedhelm Ptok am Ende der Produktion. „Es bleibt ein ungesagter Rest, den keine Biografie auflösen kann. Und vielleicht ist es dieser Rest, auf den es ankommt.„
Besonders angenehm ist hervorzuheben, dass Hans Magnus Enzensberger nicht urteilt, sondern eine unverbindliche Distanz zu seinen Figuren hält.
Als harmonisches Bindeglied fungieren sparsame Musikeinspielungen. Ein Booklet mit den wichtigsten Daten Kurt und Maria von Hammersteins sowie deren sieben Kindern und ein Stammbaum der Familie ergänzen das eindrucksvolle Hörspiel.
Fazit:
Enzensberger hat ein ungemein spannendes Buch vorgelegt, welches anhand von Biografien der Familie von Hammerstein ein Zeitalter der Extreme in komprimierter, verdichteter Form analysiert und so ein facettenreiches Bild über eine nicht einfach zu beurteilende Persönlichkeit und deren Familie entstehen lässt.
Die Umsetzung als Hörspiel ist großartig gelungen.
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