Das ökonomistische Projekt der Macht im Spiegel der Systemkrise – Eine Analyse, Kritik und Polemik zur politischen Rollenidentität

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“[1] „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“[2]

Grundprämisse: der etymologische Kontext der Macht

Der Begriff Macht bezeichnet etymologisch ein Können des Menschen: ein komplexes Vermögen im Rahmen sozialer Interaktion gezielt auf Verhältnisse einzuwirken und dabei eigene Interessen durchzusetzen.[3] Als zielgerichtetes Können erwächst Macht aus der Grunddynamik menschlicher Realität, die sich effektiv im Sein und Haben versammelt. Diese Dynamik fungiert als selbstverständliche Voraussetzung jeder Macht. Das Sein und das Haben, die Modi der Grunddynamik, vollziehen sich selbst in kausaler Relation: wie das Können aus dem Sein und Haben, so geht das Haben aus dem Sein als absolutem Modus der Grunddynamik hervor.
Die Macht, das auf die Durchsetzung eigener Interessen gerichtete Können, verweist aber zuerst auf das Haben als unmittelbarer Voraussetzung: jegliches Können des Menschen ist auf ein Haben gegründet. In Relation zum Sein des Menschen, das sein individuelles Dasein und Sosein bezeichnet, versteht sich das Haben als sein individuelles Verfügen. Macht als ein Vermögen, Verhältnisse wirksam zu beeinflussen, setzt somit ein Verfügen über reale eigene Mittel voraus, seien es materielle, finanzielle, ideelle und/oder andere Mittel.
Das quantitative und qualitative Ausmaß des Vermögens richtet sich wiederum nach dem des Verfügens als prinzipieller Ausgangs- und Bezugskategorie. Empirisch besteht insofern strenge Kausalität, als das Maß des Verfügens im Sinne des Habens das Maß des Vermögens im Sinne des Könnens sachlogisch determiniert: wenig Macht hat, wer über wenig Mittel verfügt, viel Macht hat, wer über viele Mittel verfügt. Im Extrem gesehen: alle Macht hat, wer über alle Mittel verfügt, keine Macht hat, wer über keine Mittel verfügt.

Grundprinzip des Ökonomismus: das dialektische Wesen der Macht

Der Ökonomismus ist heute das metaphorische Phänomen der Macht schlechthin. Im Bund mit allen Erzeugnissen rationalen Denkens und Handelns unterliegt auch das ökonomistische Projekt jener signifikanten Dialektik, der zufolge die Vernunft des Menschen stets zugleich sein mündiges, freies und unmündiges, unfreies Dasein erwirkt. Das heißt analog, dass seine Selbstermächtigung immer auch seine Selbstentmachtung einleitet: weil das ökonomistische Konzept die Freiheit erschließt, sich ökonomisch verhalten und betätigen zu können, jenseits kultureller wie moralisch-religiöser Tradition, schließt es kehrseitig wie von selbst die Unfreiheit ein, sich ökonomisch verhalten und betätigen zu müssen.
Das Prinzip der Dialektik, der Widerstreit von Position und Negation, den die Vernunft stets neu entfacht und austrägt, durchdringt und bestimmt alles menschliche Sein und Haben. Diese Grundspannung besteht darum unbedingt – weswegen die Dialektik rationalen Gewinns und Verlusts ökonomischer Handlungsfreiheit nur ein Abbild von ihr darstellt. Davon abgesehen gibt sich das Wesen der Macht überhaupt darin zu erkennen, dass sie allemal ihr Gegenteil hervorruft und so der Ohnmacht konditional Vorschub leistet: das auf die Durchsetzung eigener Interessen gerichtete Können erzeugt ein Müssen, sofern und sobald der Kontext, das Interesse und Ziel es rational erfordern.

Ökonomismus total: Ein Phänomen auf dem Siegeszug!

Das negative Moment der Dialektik, das Umschlagen in unfreie Denk- und Verhaltensweisen, bildet gleichsam die Kehrseite des ökonomistischen Projekts, die seit jeher das positive Moment flankiert und obendrein dessen vollmundiges Freiheitsversprechen konterkariert. In der Substanz unberührt, befindet sich das Projekt bis heute auf einem Siegeszug – und zwar nicht nur insoweit, als es die materielle Realität des Menschen in Gestalt unzähliger Erzeugnisse durchdringt, sondern, was mehr zählt, insoweit, als es die kulturelle Deutungshoheit über die Realität selbst behauptet.[4] Zugespitzt formuliert: der Ökonomismus offenbart die ideologie-typische Tendenz, die mehrdimensional-komplexe Lebensrealität des Menschen zu verleugnen, um das eigene eindimensionale Realitätskonzept absolut zu setzen. Damit erlangt nur mehr die Realität Realitätsstatus, die ökonomischen Vorgaben entspricht. Alle übrige, also die inkompatible Realität, die wiederum unzählige Varianten vereint, bleibt ausgeschlossen, weil sie kalkulatorisch irrelevant und darum im Prinzip irreal ist.
Der systemimmanente Totalanspruch auf die Erschaffung von Realität sowie auf die monopolistische Ernennung und Deutung dessen, was überhaupt real und somit relevant ist, zeugt von einem kulturgeschichtlich singulären Machtanspruch. Faktisch ist das Generalspektrum, die universale Summe menschlicher Realität, in den Selektionsfokus einer reduktionalen Weltsicht geraten. Die zweckrationale, einzig auf sich selbst bedachte Sicht aller Dinge zielt total darauf ab, ein Realitätsverständnis und spiegelbildlich ein Selbstverständnis des Menschen zu etablieren, das in höchst möglichem Maße ökonomischen Kriterien unterliegt. Letztlich verengt sich der Verständnishorizont des eigenen Lebens mitsamt seinen modalen Determinanten: so wie das eigene Sein und Haben, so sind auch das eigene Können, das Müssen, das Wollen, das Sollen und Dürfen mehr und mehr vom Diktat der Ökonomie erfasst, der imperativen, weil exklusiven Maxime des Marktes verpflichtet.

Ökonomismus spektral: ein Phänomen auf dem Maskenzug!

Die im Kern hegemonialen Ambitionen des ökonomistischen Projekts erscheinen insofern verhüllt, als es sich im alltäglichen Umgang meisterlicher Maskerade bedient. Sein Siegeszug ist zugleich ein spektraler Maskenzug, ein Sieg facettenreicher Verkleidung. Dabei spiegelt das Facettenspektrum nur die systemeigene Adaptivität: je nach Kontext, Interesse und Ziel firmiert das Projekt mal im Zeichen trivialer Privatisierung und Deregulierung, mal im Zuge radikaler Rationalisierung und Budgetierung, mal im Namen pauschaler Modernisierung und Optimierung, oder schlicht im Sinne funktionaler Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller öffentlichen Gesellschaftsbereiche. Was immer die Masken, Roben und Embleme besagen, schlussendlich geht es immer um das gleiche: die Eliminierung marktfremder und Implementierung marktkonformer Prinzipien in Staat und Gesellschaft – wenn irgend möglich an allen Orten, zu allen Zeiten, mit allen Mitteln, mit aller Macht.
Der Variantenreichtum des Marktprinzips steht zugleich in tiefem Kontrast zu der Rollenarmut, die es dem einzelnen Menschen aufzwingt. Grund- und festgelegt ist die künstlich gefertigte Armut an Rollen durch die gezielte begriffliche Wahrnehmung des Menschen in der gesellschaftlichen Interaktion. Das Zeitalter marktstaatlicher Tendenzen verzeichnet es explizit als normal, die vielzähligen Rollen des Menschen im öffentlichen Raum auf eine einzige Rolle einzuschränken und in der Semantik des Marktes summarisch zu fassen. Dieses reale Phänomen drastischer Eingrenzung und Verengung resultiert aus einer vorrangig ökonomietheoretischen Betrachtung und semantisch analogen Umwandlung der menschlichen Person: vom Bürger – mit Anspruch auf staatliche Leistungen, sei es als Kind, als Schüler und Student, als arbeitsloser, als niedrig entlohnter, als kranker, als behinderter, bedrohter oder überhaupt irgendwie bedürftiger Mensch – zum Kunden.

Exkurs: kolossale Sprachverwirrung – der Begriff „Kunde“

Der Rollenumwandlung geht eine Verwirrung einher, die der Kundenbegriff zweifach auslöst. Zum einen damit, dass der Begriff suggeriert, der Bürger sei kraft seines Bürgerseins ermächtigt, staatliche Leistungen souverän in Anspruch zu nehmen, obwohl der Inanspruchnahme selbst keine wirklich souveräne Entscheidung vorausgeht. Denn wer von Leistungen anderer abhängt, trifft gerade keine freien Entscheidungen. Zum anderen nährt der Kundenbegriff die Illusion, dass die Bedürfnisse des Bürgers im Fokus stehen, obwohl doch tatsächlich der staatliche Anspruch auf eine irgendwie normierte, aber vorrangig monetär gefasste Gegenleistung mehr und mehr Raum fordert. Als Kunde nur rhetorisch hofiert, gerät der Bürger ins Visier eines an sich zahlungsschwachen, weil verschuldeten Staates, der seine Leistungen detailgetreu berechnet. Und das heißt: nur wer zahlt oder genug zahlt, ist Kunde – wer nicht oder nicht genug zahlt, ist kein Kunde.

Ökonomismus real: Ein Phänomen auf dem Feldzug!

Das ökonomistische Modell zielt in allen Varianten seiner Maskerade letztlich auf ein Machtmonopol zwecks exklusiver Erschaffung und Deutung menschlicher Realität. Kein Maskenbild verschleiert indes die autoritären Ambitionen so perfekt wie das der Liberalisierung, die allseits Tore der Freiheit verheißt, aber nirgends aufschließt. Denn jede staatliche Beseitigung bloß hypothetischer Beschränkungen wirtschaftlicher Handlungsfreiheit erweitert nur einseitig die Spielräume des Kapitals. Der pausenlos gepriesene Freiraum des Menschen entsteht nur fiktional, niemals faktual. Im Gegenteil: die Entgrenzung und Entfesselung des Marktes, der angeblich freie Wettbewerb, das angeblich freie Spiel der Kräfte macht letztlich alle, die am Marktgeschehen teilnehmen, zu unfreien Menschen. Wie sollte es anders sein: freier Wettbewerb erzeugt nichts anders als Zwang zur Konkurrenz, zur Selektion und Exklusion. Und auch das freie Spiel der Kräfte ist nichts als Postulat, eine pseudo-rationale Legitimation des freien Marktes selbst – samt der Kluft zwischen arm und reich.
Der Maskenzug des Ökonomismus gleicht insofern immer einem realen Feldzug. Im Namen sinnentleerter Freiheit vollzieht sich ein offenkundig irrationaler Prozess selbst- und fremdbestimmter Unterwerfung des Menschen unter perfekt rationale Prinzipien der Ökonomie. Dieser Prozess erfasst alle, zeitigt aber für die allermeisten diametral gegensätzliche Resultate, je nach Maß des Zwangs, am Spiel der Kräfte teilzunehmen. Ohne Frage: sozial-ökonomisch besehen, ist und bleibt es ein unermesslicher Unterschied, ob jemand Gewinner oder Verlierer dieses ein und desselben Spiels ist – ob jemand an der relativen Unsicherheit seines Reichtums oder an der absoluten Sicherheit seiner Armut verzweifelt. Fest steht, dass dieses Spiel per se weder andere Regeln kennt noch zulässt. Denn darauf gründet das System: dass die Macht und die Mittel zu ihrer Gewinnung und Ausübung ungleich verteilt sind, dass die immense Macht- und Mittelfülle der allerwenigsten Menschen notwendigerweise einen immensen Mangel der allermeisten systematisch verursacht und verfestigt.

Ökonomismus fatal: Ein Phänomen auf dem Rückzug?

Das Dauermissverhältnis von Fülle und Mangel bezeichnet die normale, weil unvermeidliche soziale Schieflage des Systems, das gleichsam relative Chaos im ökonomistischen Kosmos. Das totale Chaos tritt zyklisch ein: von Zeit zu Zeit stürzen die Gewinner der Missstände sich selbst und alle Verlierer in eine Krise – unlängst in eine Krise horrender Dimension. Und das nicht etwa im toten Winkel der Politik, sondern in ihrem Wissen und mit ihrem Zutun! Denn zumindest im Rechtsstaat kann sich ökonomische Macht legal nicht unabhängig von politischer Macht, sondern überhaupt nur deswegen entfalten, weil ihr der Staat selbst Raum zur Entfaltung gewährt. Die gegenwärtig schwerste Systemkrise der Nachkriegszeit ist darum zuerst eine politische Krise, weil sie ein eminent politisches Versagen abbildet.[5]
Der Versuch politischer Instanzen, die eigene Alleinverantwortung für die Entfesselung der Marktmächte abzustreiten, um sodann die dadurch ausgelöste Krise diesen Mächten selbst anzulasten, erscheint bestenfalls als Fluchtversuch in groteskes Theater. Abseits der Bühne ist eines klarzustellen: die Politik trägt nicht nur eine aktuelle Hauptverantwortung für das fatale Chaos, sondern eine generelle Hauptverantwortung für das Marktsystem und sein Reglement. Und natürlich auch für die Zumutungen des Reglements im Sinne des Ökonomismus! Nun während der Krise aber zu meinen, der Siegeszug des ökonomistischen Projekts münde direkt in seinen Rückzug, ist freilich naiv. Auf die Kapitulation folgt allemal die Restauration des Systems. Wiewohl die Politik natürlich alles versucht, zumindest Rückzugsscheingefechte zu inszenieren – medial befördert, um die Blicke von sich weg-, auf die globalen Konzerne hinzulenken, auf die Zentralen der Macht und ihre gierigen Topversager. Auch das ist groteskes Theater, Staatstheater par excellence.

Exkurs: Kolossale Sprachverwirrung – der Begriff „Gier“

Die scheinbar harte Kritik, die gerade die deutsche Politikelite am Management globaler Konzerne anbringt, ist nichts als Treibstoff für ein zähes Gerichtsspiel um Schuld und Unschuld am Krisenchaos. Das Scheinurteil ist je und je schon immer gefällt, sobald ein einziges Stichwort – die Gier, die Habgier – ertönt und alles Rampenlicht auf den Scheindeliquenten zieht. Dabei wäre alles Spiel umsonst, würde das Gierurteil nicht auf den stetigen Neidimpuls der Massen treffen, der dem Gerichtsspiel ein Dauerinteresse sichert. Und das Gerichtsspiel selbst wäre längst nicht so effektvoll, wenn es nicht auch als Verwirrspiel um den Begriff der Habgier zu faszinieren wüsste. Allerdings: Verwirrung stiftet nicht der Begriff, sondern seine Benutzer, die ihr Theaterurteil moralisch instrumentalisieren: einerseits, um mit der Habgier das Böse zu brandmarken, anderseits, um dadurch Gut und Böse, das eigene, politische und das fremde, ökonomische Lager dualistisch zu trennen. Aber damit aber nicht genug.
Das politische Ensemble ignoriert überhaupt, dass die Gier als Begriff und Lebenstrieb keine Trennung in Varianten zulässt. Oder wollte irgendwer behaupten, dass die Habgier als böse und die Wissbegier als gute Variante fungieren? Nein, es ist weder möglich, diesen Gegensatz aufzubauen, noch auch redlich, die menschliche Gier nur simpel zu kritisieren. Denn kritikwürdig an sich ist sie nicht: im Ressourcenreich des Menschen muss sie trotz aller Vorbehalte als unabkömmlich gelten, als Triebkraft, ohne die jegliche Entwicklung illusorisch ist. Wirklich kritikwürdig ist jedoch das Kritiktheater um die Habgier, das einzig darauf abzielt, die Massen im Schein zu blenden und die Schuld für das Chaos zu verschleiern. Das ist zutiefst unredlich, zumal der Verlauf und das Ende des Spektakels schon feststehen: die billige Habgierkritik mündet alsbald in billige Erklärungen, die als Entschuldigungen getarnt sind, gefolgt von billigen Begnadigungen zwecks hastiger Restauration der Verhältnisse und stetiger Abstraktion ihrer ursächlichen Defizite: business as usual – bis zum nächsten Mal.

Rollendiffusion: Politik vor der Systemkrise

Die Rolle des Politikbetriebs im Vorstadium des totalen Chaos ist klar zu fassen, wenngleich das Ensemble seiner deutschen Protagonisten alle Spuren zu verwischen sucht. Der Rückblick lehrt, dass die Regierungspolitik jeglicher Couleur sich nicht damit begnügt hat, nur die angeblich unvermeidlichen Folgen des Ökonomismus zu kommunizieren, sondern dessen Ideologie selbst zu protegieren. Da nutzt aller Schleier nichts: Zu lange hat die Politik selbst die einfältige Schleifenbotschaft abgesetzt, der zufolge der Staat so ungefähr nichts und der Markt so ungefähr alles zu richten vermöge – wenn man ihn nur ließe. Zu laut hat sie das freie Spiel der Kräfte gepriesen und sich nur allzu bereit unter sein quasi-metaphysisches Regelwerk begeben. Vollends entblößt hat sich die Politik jedoch mit ihrem Ökonomiejargon, der den Menschen allein auf seine Funktion im System degradiert.
Der Jargon lässt nichts an Präzision vermissen. Das Politikmedium teilt allen Bürgern durch Schlagwort-Sprache exakt ihre Funktion und Relevanz im System mit. So reicht das Spektrum von suggestiv neutralen Worthülsen wie „Kunde“ und „Konsument“ über technokratische Phrasenschablonen wie „Leistungsträger“ und „Kostenfaktor“ bis hin zu puristischen Selektionsvokabeln wie „Besitzstandswahrer“ und „Sozialschmarotzer“. Im Olymp der Unworte sogar residieren die preisgekrönte „Ich-AG“ und das ebenfalls preisgekrönte „Humankapital“. Wiewohl der „Ich-AG“ intern ein Vorrang gebührt, weil sie kunstbegrifflich ökonomie- und politikideologische Aspekte vollendet vereint: ein synthetisch perfektes Synonym für staatlich goutiertes Unternehmertum in eigenster Sache. Diese Topversion ökonomistischer Menschensemantik indiziert bis heute die selbstgefällige Rollendiffusion der Politik. Durch Koketterie mit dem Zeit- und Marktgeist, durch Mitfiebern im Spiel der freien Kräfte hat sie Jahr für Jahr ihre Generalverantwortung für das ökonomische Ganze verdrängt: das Regulieren, Korrigieren und Kontrollieren ökonomischer Prozesse kraft staatlicher Zwangsrechte – im Interesse wie zum Wohle aller.

Rollenkonglomeration: Politik in der Systemkrise

Das Ergebnis marktseliger Selbstverblendung steht nun fest und verlangt nun seinerseits jenes fulminante Theater zur Blendung der Massen. Im satten Licht des Scheingerichts gerät das Volk in amnestische Zustände. Längst vergessen ist das blinde Schalten und Walten der Politik im Sinne der Ökonomie, längst vergessen, dass sie die Büchse der Pandora selbst geöffnet, die Marktmächte entfacht, sich als Marktschreierin verdingt, den Staat in ein Unternehmen und die Bürger zu Kunden verwandelt hat. Alles ist neu, alles ist anders. Ob nun irgendetwas besser wird, ist zu bezweifeln. Nicht nur, weil die Politik bislang ihre Generalverantwortung für die Systemkrise leugnet und wegschiebt, sondern auch, weil das Krisenchaos international eben die staatlichen Finanzressourcen zu verschlingen droht, die zur globalen Wende der ohnehin kritischen sozial-ökologischen Gesamtsituation unbedingt erforderlich sind.
Die schlichte und doch wuchtige Lehre aus der der Krise ist durch politisches Blendwerk aber nicht infrage gestellt, sondern nur bestätigt: der Markt regelt nichts, wenn nicht die Politik den Markt regelt. Und subtil ergänzt: je freier der Markt definiert ist, umso stärker muss die Politik ihn regulieren, korrigieren und kontrollieren. Ansonsten ist das Chaos perfekt, was kaum verwundert. Dialektisch besehen ist es nur logisch, dass jegliche Freiheit, um nicht in Willkür abzugleiten, einer Instanz bedarf, der sie sich zu verantworten hat. Entzieht sich die Instanz, wie über Jahre geschehen, ihrer Kontrollverantwortung, oder paktiert sogar blindlings mit den Mächten der Freiheit, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Dialektik ihren Zwangstribut fordert. Darum verlangt die frühere Aktion gigantischer Entfesselung des Marktes heute nach einer Aktion gigantischer Rettung. Nein, faktisch fordert sie mehr. Eine weit gigantischere Aktion, weil Systeme, die nicht beizeiten gewartet und gepflegt werden, sich selbst verschleißen, um daraufhin eine umso intensivere Reparaturleistung zu erzwingen. Genau so ergeht es der Politik. Zuvor in Sphären seliger Diffusion entschwunden, ist sie nun gefordert, ein Konglomerat an Rollen zu übernehmen. Nun gilt: so viel Regulieren, Korrigieren, Kontrollieren war noch nie – zumal neben dem Geschäft ganz ordinären Regierens.

Rollenkonzentration: Politik im Zeitalter der Krisen

Die lastvollen Aktionen zur Marktrettung bilden indes nur eine müde Trainingseinheit für die echten Kraftaktionen, die der Politik noch bevorstehen, wenn sie die weltökologische Situation weiterhin wie zuvor die marktökonomische außer Kontrolle geraten lässt. Zumal die Dialektik von Nicht-Kontrolle und Total-Kontrolle für das Ökosystem der Welt natürlich ebenso zutrifft wie für das System der Marktökonomie. Nur mit dem exorbitanten Unterschied, dass ein Markt allemal ersetzlich, die eine Welt dagegen unersetzlich ist.
Der Einsatz höchster Geldsummen zur Rettung des Marktes lässt schon Böses erahnen. Denn die eine, einmal zugunsten ökonomischer Zwecke vergebene Summe ist zugleich die eine, ein für allemal zulasten ökologischer Zwecke verbrauchte Summe. Es erscheint so absurd wie fa-tal: die Politik setzt das System, nachdem es sich selbst abgesetzt hat, im Kern wieder ein und verhilft dem Markt so im Moment seiner schwersten Niederlage zu seinem größten, weil leichtesten Sieg – koste es, was es wolle, und sei es die Welt. Nun vollendet die Politik, was das System von sich aus niemals vollbrachte: die Unkultur des Ökonomismus derart absolut zu setzen, dass alles andere zu seiner dienstbaren Restgröße verkommt: der Mensch, alle Kultur und Natur, die Welt überhaupt. Und natürlich sie selbst, die Politik gerade mit!
Der aktionistische Interventionismus der Politik im Zuge der Marktrettung beweist darum keinesfalls ihre souveräne Machtentfaltung, sondern nur ihre selbstbesiegelte Unterwerfung unter die Hoheit der Ökonomie. Als mutwillige Heldin betritt sie die Bühne des Staatstheaters, das totale Chaos zu moderieren, um sodann das Schauspiel als willfährige Kapitalmagd zu verlas-sen. Dieser Rollenzuschnitt provoziert nur zu Recht das Urteil, dass die Politik für alles und nichts zu haben ist. Zugegeben – ihr Interventionismus zeigt an, dass sie sich, falls die Situation es erfordert, in Superlativen zu bewegen vermag: in kürzest möglicher Zeit äußerst dringliche Beschlüsse zu fassen, um höchst unheimliche Geldsummen bestmöglich einzusetzen. Aber was nutzt diese primär quantitative Leistung ohne ein langfristiges politisches Qualitätskonzept? Nichts! Der Politik bleibt darum keine Wahl: im Zeitalter der Dauerkrisen muss sie sich trotz und gerade wegen aller Rollenkonglomeration auf ihre Hauptrolle konzentrieren: ihre sozial-ökologische Schutzverantwortung für die Lebenswelt. Andernfalls bliebe nur mehr ein markiger Superlativ der Absurdität: der Markt ist gerettet, die Welt verloren.

Ausblick: Krise – Wahlkampf – Sensationen. Ein Gerichtsspiel in zwei Akten

Die Forderung nach Konzentration klingt freilich zur Zeit naiv. Zu aufgeladen ist die Atmosphäre, als dass eine reflektierte, nachhaltige Politik realistisch erscheint. Faktisch bilden das Krisenchaos und der Wahlkampf zur Bundestagswahl im Herbst je für sich genommen bereits Ausnahmezustände; miteinander multipliziert, ergeben sie einen famosen Zustand politischer Abnormität. Durch die großkoalitionäre Restdisziplin noch gemildert, derzeit in Umrissen wahrzunehmen, wird dieser Zustand in der heißen Phase des Wahlkampfs voll hervortreten. Dann endlich ist Zeit zur Abrechnung, Gerichtszeit im Staatstheater.
Der erste Akt zeigt klar verteilte Rollen: hier das gute, das politische Lager, dort das böse, das ökonomische Lager. Ein neuer, unbekannter Lagerwahlkampf. Schon vor Prozessbeginn steht ein Abkommen fest, ein blindes Einvernehmen darüber, dass die Markt- und Gierkritik auf offener Bühne zwar wichtig, hinter den Kulissen aber null und nichtig ist. Beim wilden Spiel im grellen Licht bleibt die Kernfrage ausgeblendet: warum können und dürfen die Topversager Billionen verzocken, ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen? Doch nicht etwa, weil sie nur die Rolle gespielt haben, die ihnen die Politik eingeräumt und zugedacht hat? Getuschel im Publikum. Ruhe! Ruhe im Saal – sonst droht die Räumung.
Der zweite Akt beginnt. Nochmals wird zu Gericht gesessen, weit länger als im ersten, um nun ein für allemal zu klären, welche Partei die gute und welche die böse Politik repräsentiert. In lustvoller Pedantik kommt alles auf den Tisch: wer, wann, wo, wie fern und nah sich am Versagermanagement aufgehalten hat. Alles ordentlich in Zentimetern ausgemessen, so wie man es sich wünscht und wie man meint, dass es das Publikum honoriert. Endlich ein pralles Spektakel voller Sensationen. Nur zu dumm, dass der zweite Akt selbst bis zum Wahltag kein Ende findet und nie wirklich geklärt wird, wer von allen Trotteln der dümmste war.

Finale: Spielkritik und Schlusswort

Die schattige Dialektik des Gerichtsspiels erschließt sich erst bei kritischer Betrachtung: um so heller die Bühne ausgeleuchtet ist, umso weniger ist zu sehen. Zumal die Scheinwerfer der Politik und der vereinten Mediendemokratie nichts zur Erhellung, sondern nur zur Verdunkelung der Sache beitragen. Gleichwohl, die Grellheit des Lichts wird die Politik nicht stören. Keinesfalls: Hauptsache Licht! Und möglichst viel davon auf die eigenen Versprechen. Die sind dieses Mal mehr denn je gefragt: Wahlkampf vor der Kulisse der Systemkrise ermöglicht eine fette Scheingerichtsprozedur mit satter Scheinprämienvergabe.
Das Ausrufen der Prämien für alles und nichts ist überhaupt der politische Knaller. Dialektisch besehen ein besonders scheinheiliger Rohrkrepierer. Zum einen, weil Prämien sich eben sowenig wie normale Steuersenkungen als Geschenke erweisen. Der Staat verschenkt nichts, niemals, zumal, wenn er sich als Unternehmen versteht: er gibt dem Bürger nur, was ihm der Bürger gibt. Zum anderen, weil der Staat im Fall der Abwrack-Umwelt-Prämie für Altautos eine ökonomische Maßnahme ökologisch verbrämt. Der Siegesfeldzug des ökonomistischen Projekts, durch die Regierungspolitik der letzten Jahre sattsam protegiert, erhält nun, nachdem es in jüngster Zeit seine übelste Fratze gezeigt hat, eine blumig-liebliche Ökomaske. Hauptsache die Fassade stimmt. Verschenkt wird nichts, gezahlt wird später.
Zum Schluss noch einige Bemerkungen. Wenn Macht, wie eingangs geschehen, als ein Können definiert wird, als ein zielgerichtetes Vermögen zur Durchsetzung eigener Interessen, dann dient nach grober Logik politische Macht, konkret, die durch freie Wahlen begründete und rechtsstaatlich verfasste politische Macht, der Durchsetzung spezifisch politischer Interessen im demokratischen Staatswesen. Die Kardinalfrage ist nur, wessen Interessen sie dient? Und auf die Systemkrise bezogen, steht die Frage im Raum: wessen Interessen verfolgte die Politik jahrelang mit der gezielten Deregulierung des Marktes und wessen Interessen verfolgt sie heute mit der scheinbar gezielten Regulierung? Um Missverständnissen vorzubeugen: die Tatsache, dass die Politik staatliche Macht zur Regulierung des Marktes einsetzt, ist formal zumindest jeglicher Kritik enthoben. Das ist Recht und Pflicht der Politik! Die Kritik entzündet sich vielmehr daran, dass die Politik sich im Kern ihrer Aufgabe verweigert, dass sie keine eigenständigen, sondern wie selbstverständlich ökonomische Interessen vertritt. Darum geht es: um die nachweislich verfehlte Interessensvermengung, um die Verstrickung mit dem Markt, die Selbstverblendung der Politik und ihre verlogene Botschaft, dass es den Interessen aller dient, wenn es den Interessen weniger maximal dient, dass alle profitieren, wenn wenige maximal profitieren. Damit verspielt die Politik nicht nur Finanzressourcen des Staates, was hoffentlich trotz der Krise des globalen Ökosystems noch zu verkraften ist; sondern auch seine Vertrauensressourcen, was ihn regelrecht entkernt und aushöhlt. Denn: ein Staat, der kein Vertrauen erzeugt, der moralisch keine Sicherheit gewährt, verliert letztlich allen Anspruch auf Gehorsam. Und, um das deutlich zu sagen: dieser Verlust geschähe nicht durch Zufall oder zu Unrecht, sondern mit Gewissheit und zu Recht.

[1] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Tübingen 1956/1980, S. 28
[2] Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin/Frankfurt 1951, S. 94
[3] Vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Berlin/New York 1996, S. 10 – 18
[4] Vgl. Wolfgang Kersting, Cicero 04/2005, S. 106 f
[5] Vgl. Jürgen Habermas im Interview mit DER ZEIT vom 06.11.2008, S. 53 f.

Über Büchler Ulrich 8 Artikel
Ulrich Büchler, geb. 1966, ist evangelischer Theologe und Sozialmanager. Seit 1996 übt er eine Leitungstätigkeit in sozial- und berufsintegrativen Projekten der Suchthilfe aus.

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