Zur Eröffnung am 14. Oktober 2010
Friedrich Nietzsche ist der Philosoph des Wagemuts, der Denker des Risikos, der jedes Netz und jeden doppelten Boden verschmäht hat. Mit dem Bau, der jetzt in Naumburg eröffnet worden ist, haben alle Beteiligten – die Stadt Naumburg, das Land Sachsen-Anhalt, die in der Friedrich-Nietzsche-Stiftung institutionalisierte wissenschaftliche Forschung und nicht zuletzt die Architektin mit ihrem Team – sich selbst in diese Tradition des Wagemuts und Risikos gestellt: Es zeugt von Wagemut, das kurzfristige Nutzenkalkül auszublenden und dem nach Neuen suchenden Geist nicht nur ein Denkmal zu setzen, sondern vielmehr eine Wohnstätte, vielleicht sogar eine Heimat zu geben. Naumburg kann stolz darauf sein, mit dem Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht nur den ersten Neubau eines öffentlichen Gebäudes seit der Wende in Angriff genommen zu haben, sondern dieses Gebäude nicht etwa der Verwaltung oder dem Sport, sondern dem Geist gewidmet zu haben. Für eine solche Entscheidung braucht es Wagemut und Risikofreude, die in Deutschland trotz der Sonntagsreden von Politikern und Unternehmensvorständen Mangelware sind. Wagemut und Risikofreude werden hier im Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht in ökonomische, sondern in intellektuelle Profitmaximierung investiert. Das Nietzsche-Dokumentationszentrum wird, sobald in ein paar Monaten die immense Nietzscheana-Sammlung von Richard Frank Krummel darin ihren Platz gefunden haben wird, eine Schatzkammer der Kulturgeschichte sein. Dieser Schatzkammer ist auch der grosse, internationale Kongress gewidmet, der das Nietzsche-Dokumentationszentrum eröffnet und der eine gemeinsame Veranstaltung der Nietzsche-Gesellschaft und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung ist. Dieser Kongress unternimmt erste Erkundungsgänge in diesen Schätzen versuchen und damit die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte in all ihren Facetten beleuchten. Nietzsche strahlte und strahlt in unterschiedlichste Sphären aus: in die Soziologie ebenso wie in die Literatur, die bildenden Künste und die Musik, in die Philosophie ebenso wie in die Politik, in die Ökonomie ebenso wie in die Ökologie. Daher ist die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte zugleich ein wesentlicher Teil der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Man wird ohne Übertreibung sagen können, dass das Nietzsche-Dokumentationszentrum die Kulturgeschichte der Moderne in nuce präsentieren wird und dadurch gute Chancen hat, zu einem Leuchtturm in der Kulturlandschaft Sachsen-Anhalts zu werden.
Jedoch soll das Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht nur ein Archiv der Vergangenheit sein. Es soll auch eine Pflanzstätte, ein Laboratorium der Zukunft werden. In ihm soll neu, soll anders gedacht werden – es soll Freiräume des Denkens erschliessen und die Menschen, namentlich auch die Menschen in Naumburg, zur aktiven Gestaltung dieser Freiräume anhalten. Friedrich Nietzsche war ein Philosoph des Andersseins, des Andersdenkens. Das Nietzsche-Dokumentationszentrum soll deswegen ein Ort werden, wo entgegen moderner Denkzwänge die Freiheit des Andersdenkens und Andersseins kultiviert wird. Die kleine Stadt Naumburg hat damit die geistesgeschichtlich vielleicht einmalige Chance, Deutschland ein kleines geistiges Zentrum zu schenken. Gemeinsam sollten wir dafür sorgen, dass dem Wagemut, das die Erbauer und künftigen Betreiber des Nietzsche-Dokumentationszentrums bewiesen haben, unter ökonomischen und intellektuellen Zwängen nicht der Atem ausgeht. Wir sollten das Nietzsche-Dokumentationszentrum als eine gemeinsame Aufgabe von Stadt, Land und Stiftung verstehen – eine grosse Aufgabe, die jedoch mit viel Freude und Erkenntnisgewinn reichlich entlohnen wird. Der Kongress „Einige werden posthum geboren“ wird uns aller Voraussicht nach weit mehr als einen blossen Vorgeschmack dieser Freude und dieses Erkenntnisgewinns geben. Dass wir selbst postum geboren worden sind, ist damit ein Glücksfall. Hoffen wir, dass das Nietzsche-Dokumentationszentrum für die geistige Welt insgesamt zum Glücksfall wird.
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