„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ (S. Kierkegaard)

Patchworkfamilien sind längst nichts Exotisches mehr. Sie scheinen zur gesellschaftlichen Normalität zu werden. Jede siebte Familie in Deutschland ist derart „zusammengeflickt“. Eine derartige Familienkonstellation stellt besondere Herausforderungen an alle Beteiligten. Das Leben in ihr ist alles andere als einfach. Alle erhoffen nur das Beste, doch jeder zerrt am anderen, und überall lauern Loyalitätskonflikte und Enttäuschungen. Fast immer ist einer dabei, der Angst hat, durchs Netz zu fallen. All das gibt es zwar auch in „normalen“ Familien, aber ungleich schwieriger zimmert sich ein neues Leben aus den Trümmern gescheiterter Beziehungen. In einer ähnlichen Konstellation befinden sich auch Computerexperte Nataniel Schoenfeler – genannt Nati – und die literarische Übersetzerin Nili, aus deren Sicht der erste Roman von Hila Blum erzählt wird. Beide sind seit neun Jahren ein Paar. Außer der gemeinsamen, vierjährigen Tochter Asia lebt auch noch die elfjährige Dida, ein Kind aus Natis erster, gescheiterter Ehe, bei ihnen in Jerusalem. Die Familie hat sich eingerichtet, arrangiert in ihrer Zusammensetzung. Ein Anruf bringt das fragile Konstrukt ins Wanken. Der Franzose Duclos, seines Zeichens Multimillionär, kommt nach Israel und will sich mit dem Paar treffen. Kennengelernt haben sie ihn bei ihrer ersten gemeinsamen Reise, die sie in die Stadt der Liebe, nach Paris führte. An ihrem letzten Abend half „der Dicke“ ihnen beiden im „La Soupière d'Or“, dem angesagtesten Lokal der Stadt, in einer mehr oder weniger peinlichen Situation aus der Patsche. Trotzdem lag damals ein ungutes Zeichen über dem ganzen Szenario. Hat er womöglich mit dem jungen, verliebten Paar nur ein Spiel gespielt? „Eines dieser Spiele, die man erst während des Spiels versteht, ein Spiel der neuen Generation, bei dem die Spieler ihre eigenen Regeln finden müssen. Aber um welche Labyrinthe und Drachen geht es. Um was für eine Odyssee.“
„Es gibt Dinge, die können nur in den schmalen Spalten der Nachlässigkeit geschehen, der Unaufmerksamkeit, in einem Wirbel aus Trägheit und Licht. Plötzlich entspringen sie der Phantasie und landen im gelebten Leben. Erklärungen werden erst später gesucht.“ So beginnt Hila Blum ihr Debüt. Ein bedeutungsschwangerer Satz, dessen Wirkung sich durch das ganze Buch ziehen wird. Genauso wie die immer wieder kurz aufblitzende Episode der Begegnung mit Duclos. Wie ein roter Faden hangelt sich die Geschichte daran entlang. Der angekündigte Besuch stellt jedenfalls Natis und Nilis Beziehung auf den Prüfstand, holt verdrängte Probleme wieder an die Oberfläche. „Ein Gleichgewicht, das mit viel Mühe erreicht worden war, wurde gestört. Etwas ist in Gefahr.“ Als weitere Leitbahn im Rahmenkonstrukt fungiert das Verschwinden eines kleinen russischen Einwandererjungen, das von den Medien beinahe minutiös ausgeschlachtet wird. Beide Episoden scheinen parallel nebeneinander herzulaufen. Doch wie heißt es so schön: Alles hängt mit allem zusammen.
Vage liegt etwas Unerklärliches unter dem gut und flüssig zu lesenden, eher aus kurzen Sätzen und Sentenzen bestehenden sehr poetischen, feinsinnigen Text, der zwischen wiederkehrenden Träumen, Gedanken und zum Teil verschwommen auftauchenden Erinnerungen Hilas changiert. Die scheinbare Leichtigkeit des Alltäglichen und Gewöhnlichen verbirgt etwas Unausgesprochenes, Bedrohliches, das die Unbeschwertheit der Kinder nur oberflächlich überdeckt: „ein Rascheln zwischen den Schatten“, nahe am Abgrund, „eine unvorsichtige Bewegung, und sie fallen herunter.“ Hila Blum vermag mit jeder Seite einen immer intensiveren Spannungsbogen aufzubauen, indem sie einzelne Andeutungen in den Raum stellt. Trotzdem spannt sie den melodramatischen Bogen nicht über Gebühr, sondern wartet von Zeit zu Zeit mit unterhaltsamen und witzigen Passagen auf. Die israelische Autorin zeichnet die Entwicklung einer Familie, vom unbeschwerten Verliebtsein, dem Gefühl der unbeschreiblichen Leichtigkeit und Unverletzbarkeit zu Beginn einer Beziehung bis hin zum Übernehmen von Verantwortung, zum Beschützen und dem Aufrechterhalten der Liebe nach. Fragen werden aufgeworfen wie: Gibt es nie neue Anfänge? Ist alles festgelegt? Deren Beantwortung „wird uns die toten Winkel im alltäglichen häuslichen Drama erhellen.“ Denn gerade jene sind es, die schwer auszuleuchten sind, in denen jedoch jede Menge unverarbeiteter Dinge wuchern, die sich durch einen plötzlichen Windzug im ganzen Raum verteilen können.
Fazit: „Der Besuch“ ist ein ergreifendes, lustiges und manchmal schmerzhaftes Porträt einer modernen Patchworkfamilie. Ein Roman, der Lebensräume öffnet, in denen Loyalitätskonflikte und Halbwahrheiten neben der Liebe existieren und der Einblicke in die Risse unseres täglichen Lebens gibt, durch die wir manchmal verhängnisvolle Entscheidungen und Urteile treffen. Ein Buch zum Nachdenken und Verinnerlichen, mit vielen schönen und vielen klugen Sätzen. Ein überraschendes Debüt der 1969 in Jerusalem geborenen Schriftsteller Hila Blum, die als Lektorin in einem prominenten israelischen Verlag arbeitet. Ein Roman zum sinnlichen Lesen, flüssig und bruchfrei ins Deutsche übertragen von Mirjam Pressler.

Hila Blum
Der Besuch
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Titel der Originalausgabe: „Ha-bikur“
Berlin Verlag (August 2014)
416 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3827011949
ISBN-13: 978-3827011947
Preis: 22,99 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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