„Neues aus der Wissenschaft: Berechnungen zufolge haben sich die meisten Menschen in den vergangenen fünf Jahrtausenden nicht aus freien Stücken einander genähert, sondern in der Art von Bäumen, die sich weder ihre Nachbarn noch ihre Bestäuber selbst aussuchen, Äste und Wurzeln einfach infolge ihres Wachstums miteinander verflechten.
Außerdem spielt die Zeit verrückt, das haben Experimente bewiesen. Die Reihenfolge, in der die Ereignisse sich abspielen, ist beliebig, genauso das handelnde Personal. Man kann in der Küche sitzen und auf einem Kamm mit Zigarettenpapier blasen und zur selben Zeit in einer ganz anderen Küche einen Brief lesen von jemandem, den es gar nicht mehr gibt. (…) Wie überhaupt schon unsere Urahnen herausfanden, dass die Vergangenheit mit den Jahren immer näher rückt, statt sich zu entfernen.“
Diese Zeilen aus dem neuen Roman von Michail Schischkin beschreiben zugleich in wenigen, aber eindringlichen Worten, den Duktus des Buches. Der 1961 in Moskau geborene Linguist und Deutschlehrer, der 1995 in die Schweiz emigrierte und sowohl national, als auch international vielfach ausgezeichnet wurde, legt mit „Briefsteller“ erneut ein atemberaubendes, eloquentes, fantasie- und kunstvolles Werk vor.
Eine Frau – Saschenka – und ein Mann – Wolodenka – schreiben sich Briefe. Ihre junge Liebe wurde unsanft durch den Krieg getrennt. Nun sind es die Worte, die ihre Nähe zueinander aufrecht erhalten. Zeilen über ihre Kindheit, die Familie, den Alltag. Worte voll Freude und Traurigkeit, voll Liebe und Leid, voll Glückseligkeit und Schmerz. Sascha berichtet von ihrem Studium der Medizin und Wolodenka von seinem Einsatz in China. Doch immer mehr schleichen sich Zweifel beim Leser ein. Hier das moderne Leben und dort – in der Ferne -scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Bis klar wird, dass die beiden durch Raum und Zeit getrennt sind. Sascha lebt in der Gegenwart und Wolodenka kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch damit ist das Verwirrspiel noch nicht zu Ende, denn das junge Mädchen wird zur reifen Frau, die ihre alten Eltern zu Grabe trägt. Sie heiratet, bekommt ein Kind, verliert es wieder und ist am Ende doch wieder die unschuldige Braut vom Beginn, ein kleines Mädchen an ihrer Hand. Er hingegen stirbt in einem der ersten Gefechte dieses halb vergessenen Krieges, aber seine Briefe kommen weiterhin an und nehmen an grausamer Intensität des Erlebten zu. „Existiere ich denn wenigstens vor mir selbst?“, fragt der junge Mann. „Existieren, was heißt das überhaupt? Genügt es, am Ende zu wissen, dass man auf der Welt war? Und beweist es sich mit den Erinnerungen, die man hat?“ „Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wo Du aufhörst und wo ich anfange.“, antwortet die Geliebte. Ihre Briefe sind Bote und Botschaft zugleich. „Genau wie Körper einander berühren können, so können auch Seelen ohne Zwischenraum beieinander sein.“
Der russische Autor, der zutreffend als Tolstois und Nabokovs Enkel bezeichnet wird, lässt Geschichten zurück und „entlüftet“ Menschen. Schischkins Worte sind dabei „eine Art Straßenbahn zur Unsterblichkeit“. Scheinbar schwerelos baut er aus lauter Splitterchen Parallelwelten auf und zieht am Ende alles in einem Punkt zusammen, als ob die Zeit keine Rolle spielte, ebenso wenig wie der Tod oder gar die Liebe. Vielleicht weil „wirklich große Bücher oder Gemälde gar nicht von Liebe handeln, das geben sie nur vor, damit das Lesen Spaß macht. In Wirklichkeit geht es um den Tod. Da ist die Liebe nur Fassade, oder besser gesagt: eine Augenbinde. Damit man nicht zu viel sieht. Sich nicht graust.“, wie es in einem Brief von Wolodenka steht. Der es jedoch gleich wieder relativiert: „Eigentlich handeln die Bücher wohl nicht vom Tod, sondern von der Ewigkeit, aber diese Ewigkeit ist nicht echt – sie ist ein Fragment, eine Momentaufnahme, so wie die berühmte Mücke im Bernstein.“
Schischkins Roman zieht den Leser in einen Sog, dem er sich nur schlecht entziehen kann, der ihn schluckt wie das Rollen der Brandung, der den Horizont beinahe wie mit dem Ellbogen aufschiebt und alles Wirkliche unwirklich und das Unwirkliche wirklich macht. „Durchschaubarkeit, das ist, woraufs beim Schreiben nicht ankommt…“, scheint die Diktion des Autors zu sein. Aber gerade das Übertreten von Grenzen macht seine Literatur so großartig, wenn auch nicht leicht verdaulich. „Wozu noch die sichtbare Welt, wenn in mir eine unsichtbare heranwächst? Das Sichtbare tritt zurück, wird gedämpft, ausgelöscht. Räumt den Platz für das, was noch nicht zu sehen ist.“ Michail Schischkin fördert aus Erinnerungsfetzen das Unsichtbare zu Tage, verwandelt eins ins andere und lässt die Zeit hinter den Ereignissen verschwinden, sodass man sie nicht mehr bemerkt. Und aus „alledem erwächst ein Gefühl für das pralle Leben, das niemals enden wird.“ Seine „Wortarche“ rechtfertigt in gewissem Maße das „Sein des Seienden“, gibt dem Flüchtigen einen Sinn und lässt das Unechte echt werden. Auch wenn sich letztendlich „das Eigentliche nicht in Worte fassen“ lässt, so lassen seine Wörter Licht hindurch.
Fazit: „Das Vergangene ist nicht mehr da, aber wenn man es erzählt, kann man die Wörter über Tage dehnen oder umgekehrt ganze Jahre in eine Handvoll Buchstaben stopfen.“, hieß es in seinem letzten Werk „Venushaar“. Auch in „Briefsteller“ vernäht Michail Schischkin virtuos die Zeit wie eine Nähmaschine im Zickzackstich. Der Übersetzer Andreas Tretner hat dem deutschsprachigen Leser diesen „Nähkurs“ hervorragend zugänglich gemacht. Ein beeindruckendes Werk.
„Am Anfang wird wieder das Wort sein. Während sie den Kindern in der Schule immer noch die alte Geschichte auftischen, dass es zuerst einen großen Knall gab und alles,was da war, in Fetzen flog.“ (Michail Schischkin: „Briefsteller“)
Michail Schischkin
Briefsteller
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Titel der Originalausgabe: Pis'movnik
DVA, München (Oktober 2012)
384 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3421045526
ISBN-13: 978-3421045522
Preis: 22,99 EURO
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