Nie lag mehr Unbestimmtheit in der Frage, wen man wählen soll
Kennen sie das? Man steht im Supermarkt und will irgendein einfaches Produkt kaufen, sagen wir eine Zahnbürste. Vorm Regal stehend stellt man allerdings fest, dass es nicht etwa nur eine Zahnbürste gibt, sondern unzählige Modelle verschiedenen Typs und unterschiedlicher Hersteller. Und alle versprechen sie einem spezielle Vorteile und Zusatzfunktionen, von denen man bisher gar nicht ahnte, dass es sie gibt, geschweige denn, dass man sie braucht.
Völlig normale Situation, werden sie sagen. In der liberalen Marktgesellschaft konkurrieren auch auf den scheinbar unbedeutendsten Gebieten mehrere Anbieter miteinander, die mittels Innovationen und aggressivem Marketing Anteile erobern oder behaupten wollen. Dadurch unterliegen tendenziell alle Bereiche des Lebens dem Optimierungszwang; der einfache, anspruchslose Käufer, der ein Bedürfnis befriedigen will, wird ersetzt durch den kritischen Konsumenten, der jederzeit bereit ist, sich über Produktpaletten umfassend zu informieren und daraus eine rationale, d.h. für sich selbst optimale, Kaufentscheidung abzuleiten.
Vielleicht kommt ihnen auch das allzu bekannt vor. Neu aber ist, dass es mehr und mehr auch in der Politik zu dieser Entwicklung gekommen ist – dass die Anbieter-Konsumenten-Beziehung Einzug gehalten hat in ein Feld, das theoretisch wie praktisch stets noch als letzte Bastion gegen den Markt gegolten hatte: den Staat. Deshalb hört man jetzt, trotz massiver Staatsinterventionen in der Finanzkrise, zunehmend das konservative Lamento, mit der Demokratie sei es nicht mehr ernst, weil die Parteien profillos geworden seien und die Reden und Programme inhaltslos.
Tatsache ist, das Feld der politischen Anbieter ist unübersichtlicher geworden: Auf Bundesebene kämpfen nunmehr fünf Parteien um nichtmarginale Stimmenanteile, und die Dominanz der Großen, der sogenannten „Volksparteien“, schrumpft mehr und mehr. Schaut man auf die Landesebene, sind es noch einige mehr, denen man aufgrund jüngster Erfolge ernsthaft Beachtung schenken muss (z.B. NPD, Freie Wähler, Piraten). Selbstredend gab es schon immer die pluralistische Vielfalt der Klein- und Kleinstparteien. Aber es ist, sowohl wahlstrategisch als auch und vor allem regierungspraktisch, ein Unterschied, ob die Frage lautet: „CDU+FDP oder SPD+FDP?“ oder ob man die möglichen Koalitionen nicht mehr an einer Hand abzählen kann.
Differenztheoretisch betrachtet, bedeutet mehr Vielfalt aber nicht unbedingt mehr Freiheit. Da keine der Parteien es mehr schafft, die nötige Mehrheit des Volkes hinter sich zu versammeln, sind Koalitionen unterschiedlicher Zusammensetzung nötig. Koalition bedeutet Vermittlung, Austausch, Kompromiß. Je mehr Koalitionen, desto mehr vermitteln sich auch die Differenzen untereinander, und desto ununterscheidbarer werden auch die Parteien. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Die Gründung der Grünen und ihr erfolgreicher Marsch durch die Institutionen hat dazu geführt, dass das Thema Umweltpolitik jetzt bei allen Parteien auf der Agenda steht, alle Parteien sind in gewisser Weise „grün“ geworden. Im selben Maße haben auch die Grünen die Ansichten und Bereichspolitiken der anderen in sich aufgenommen und sind so zu einer Partei unter anderen geworden.
Die Unentschiedenheit des Wechselwählers ist also nicht allein dessen Uninformiertheit oder Desorientierung anzulasten. Eine unübersichtlichere politische Landschaft erfordert gerade ein Mehr an politischem Wissen und Interesse, um noch eine begründete Entscheidung treffen zu können. Einfacher haben es da diejenigen Wähler, die als sogenannte Stammwähler dem alten Politikverständnis anhängen, nach dem Partei vor allem mit Weltanschauung verbunden war („Freiheit statt Sozialismus“). Den diametral entgegengesetzten Standpunkt bezieht, wer sich am Wahl-o-mat über seine Wahlentscheidung klar zu werden versucht. Dies ist genau die oben beschriebene Haltung des kritischen Konsumenten, der jeweils adhoc versucht, durch Abwägung der Alternativen zur optimalen Entscheidung zu kommen. Dabei ist er zunächst bestrebt, die Positionen der Parteien genau kennenzulernen („Welche Position hat eigentlich die FDP zu Afghanistan?“), weil er von einer inneren Dynamik und dem Wechselspiel zwischen den Parteien bereits ausgeht.
Doch ist der recherchewillige, lebenspraktisch ungebundene und trotzdem gut informierte Einzelne nicht das Paradigma der Politik – sondern die Masse ist es. Die Reaktionen und Verschiebungen in der Masse sind, wie wir spätestens seit Canetti wissen, irrational und werden von der Statistik der Umfragen bloß sichtbar gemacht. Auch hierfür wieder ein Beispiel. Niemand wird bestreiten, dass die anstehende Bundestagswahl von den Ereignissen der Wirtschafts- und Finanzkrise beeinflusst wird. Wie kann es dann aber sein, dass die FDP, die Partei, die den Neoliberalismus, d.h. die Nichteinmischung des Staates gerade auch in den Finanzmarkt, am stärksten vertritt, in der Krisenzeit mehr und mehr zugelegt hat und im Moment drittstärkste Kraft ist mit 14 Prozent und steigend? Jürgen Möllemann würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie die objektive Tendenz seiner Partei den paradoxen Erfolg zutreibt, den seine subjektive Anstrengung ihr nicht verschaffen konnte. Zugegeben, nicht alles an Politik ist irrational, man kann natürlich Gründe dafür anführen, warum es bei der Bundestagswahl zum überraschenden Höhenflug der FDP kommen wird. Es sind eben vor allem Protestwähler, die mit dem Krisenmanagement der Großen Koalition nicht zufrieden sind, die zur FDP abwandern. „Die Linke“ zu wählen trauen sie sich nicht, die Grünen sind wirtschaftspolitisch kein Aushängeschild, also treibt es eine bestimmte Wählermenge in die Arme der neoliberalen FDP.
Es gibt jedoch andere Fälle, die den Wähler in rationalerem Licht erscheinen lassen. Die jüngste Afghanistan-Affäre ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Der – im übrigen militärisch sinnvolle und präzise ausgeführte – Angriff auf einen Tanklastzug hat bei den Verantwortlichen das Wunschphantom einer Armee hervorgerufen, die nicht kämpfen darf. ‚Gewinnt den verdammten Krieg, bitteschön, aber ohne Tote!‘ lautet die wiederum paradoxe Botschaft an die Soldaten. (Und wieder heult die konservative Kritik auf, bei fünf linken Parteien im Bundestag könne man sich das Wählen gleich sparen – bzw. müsse man seinen Wahlzettel ungültig machen, um seinen Protest öffentlich zu zeigen.) Beim Wähler, der die Hintergründe nicht kennt und die Sache aus den Medien erfährt, muss das Ganze freilich so ankommen, als sei da (nicht zum erstem Mal!) etwas schiefgelaufen. Und siehe da, prompt verzeichnet „Die Linke“ in den Umfragen Stimmengewinne, denn sie ist die einzige Partei, die seit Beginn des Krieges ein klares „Raus aus Afghanistan“ proklamierte. (Über die Malaise der Grünen unter dem Einfluss ihres elder statesman Joschka Fischer nicht zu reden.)
Aus dem Gesagten folgt, dass der Wähler als Masse, auf den es ja allein ankommt – nicht auf die Gewissensentscheidung des einzelnen, die statistisch folgenlos bleibt – mal so mal so reagiert, mithin in seinem Wahlverhalten unvorhersehbar ist. Die Interpretationsleistung ist immer eine nachträgliche Rationalisierung, die dem Geschehenen diese oder jene Deutung anhand dieser oder jener Ereignisse unterschiebt. Noch tiefer geht das Unbehagen an Politik jedoch, wenn man sich deren praktische Resultate anschaut.
In der ARD gibt es eine Serie mit dem Titel „Abgeordnet“; in jeder Folge werden Politiker dort einem Praxistest unterzogen, der die Realitätsnähe von Politik auf die Probe stellen soll. Man sah u.a. Wolfgang Bosbach (stellv. CDU-Fraktionsvorsitzender) im Jugendgefängnis, Gregor Gysi auf einer Baustelle in Schwaben und eben Renate Künast auf dem Bauernhof, ich glaube es war ein bayrischer. Künast gab eine mittelprächtige Figur ab, beispielsweise als sie den Bauern fragte, ob man den jungen Kühen wirklich die Hörner veröden müsse wegen der Verletzungsgefahr für den Landwirt und seine Familie. Schließlich wurde sie, so das Konzept der Sendung, mit der kritischen Frage der Journalistin konfrontiert, was ihre Agrarreform denn dem hiesigen Grünland-Bauern gebracht hat. Dieser bestand vehement darauf, die Reform sei bei ihm nicht angekommen, es habe für ihn keine Vergünstigungen oder Erleichterungen gegeben. Renate Künast wiederholte nochmal, was ihre Agrarreform aus der Zeit der rot-grünen Regierung leisten sollte, war dann nach der neuerlichen Versicherung des Landwirts aber sprachlos.
Mit anderen Worten: Künast hatte eine Reform, an die sich kaum einer erinnert, verwirklicht, die diejenigen, die sie begünstigen sollte, offenbar nicht vollends erreicht hat – wenn das kein Grund zu weiterer Skepsis gegenüber Politik überhaupt ist. Zum Glück machten Bosbach und Gysi eine ganz gute Figur, wenn auch eher durch Eloquenz und Situationsmanagement als durch Inhalte.
Will man es also dem Nichtwähler verübeln, wenn er angesichts der luxuriösen Vielfalt von Parteien sich nicht erst die Mühe macht, zur Wahl zu gehen? Ist er nicht in einer ähnlichen Lage wie der anspruchslose Konsument, der einfach nur eine Zahnbürste (hier: Demokratie) will, aber mit der Auswahl an neuartigen und innovativen Geräten überfordert ist? Neulich veröffentlichte Martin Walser einen kurzen Artikel in der ZEIT, dessen Tenor sinngemäß lautete: Ob CDU oder SPD war auch früher schon egal, die Hauptsache ist doch, dass wir in Deutschland von beiden gut regiert worden sind. Das jemand nicht wählt, kann also nicht nur bedeuten, dass er mit der Politik völlig unzufrieden ist, sondern auch, dass er gerade will, dass alles so bleibt wie es ist – wenn nur überhaupt regiert wird. Das ist jedoch keine Rückkehr zum Vertrauen in die Regierung von Gottes Gnaden, sondern die Resignation darüber, dass man nicht wissen kann, ob es einen Unterschied macht, wer mit wem koaliert – nicht zu reden davon, welchen es machen könnte.
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