Das Jerusalem-Syndromoder Die Wahrheit über Jesus, der sich nie Christus nannte

Peter Henisch, Der verirrte Messias, Deuticke, Wien (Juli 2009), 400 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3552061169, ISBN-13: 978- 3552061163, Preis: 24,90 EURO

Peter Henischs neuer Roman „Der verirrte Messias“ spielt zum Teil vor über 2.000 Jahren. Kann man ihn als historischen Roman lesen? Eher nicht, denn die Geschichte beginnt in der Gegenwart. „Allerdings reicht sie weit zurück in die Vergangenheit und womöglich reicht sie auch irgendwie in die Zukunft.“, erklärt die 39-jährige Literaturkritikerin Barbara einem ehemaligen Studienkollegen, „Eine ziemlich verrückte Geschichte.“ Und außerdem „finde sie biblische Geschichten in der Gegenwartsliteratur ja völlig jenseitig. In diesem Buch aber – also wie soll ich sagen … Einige Szenen, die ich letzthin gelesen habe, sind mir richtig unter die Haut gegangen.“ Damit umreißt sie sehr grob den Rahmen des neuesten Werkes des österreichischen Autors, der am 27. August 66 Jahre alt wird.
Ziemlich verrückt ist die biblische Handlung wahrhaftig. Spricht doch ebenjene Literaturkritikerin in der Ablugzone des Flughafens Frankfurt ein ziemlich eigenartiger Typ an. „Nein, er sah nicht außergewöhnlich aus. Ganz bestimmt nicht wie eine dieser Ikonen. Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder Psychopath. Allerdings hatte sein Blick etwas Beharrliches.“ Er will genau wie Barbara, die einen dringend benötigten Urlaub bei ihrer Halbschwester Esther anvisiert, nach Israel. Allerdings mit anderem Bestreben. Mischa Myschkin, wie er sich nennt (offensichtlich entleiht Henisch nicht ohne Grund den Namen seines Titelhelden aus Dostojewskis Roman „Der Idiot“), ein aus Russland stammender, aber in Deutschland lebender dreißigjähriger Mann, hat eine andere „Mission“. Diese erweist sich indessen im Grunde genommen als genauso aussichtslos, wie die seines literarischen Namensvetters. An Naivität steht er Dostojewskis Myschkin in nichts nach, auch wenn Henischs Protagonist eine überaus ernste Angelegenheit verfolgt: „Es ist überhaupt die ernsteste Angelegenheit, die du dir vorstellen kannst.“, erzählt er Barbara, „Es geht um die ersten und die letzten Dinge! Es geht um die ganz Heil- und Unheilsgeschichte! Es geht, ja verdammt noch einmal, um alles oder nicht!“

Tête-à-tête mit dem Messias

Was ist denn nun so eigenartig an ihrem Flugbegleiter? Dass sein Profil etwas Schafartiges hat, gewiss nicht. Dass er während der Lektüre der Bibel mehrfach laut auflacht und bestimmte Passagen anders deutet und erzählt, als sei er tatsächlich vor Ort gewesen, verwundert schon mehr. Seine beruhigenden Worte, als das Flugzeug unversehens in Turbulenzen gerät: „Sie brauchen keine Angst zu haben, sagte er. Dieses Flugzeug stürzt nicht ab.“ – „So? Und warum nicht?“ – „Weil ich an Bord bin.“ und die Behauptung, dass er offensichtlich Jesus von Nazareth sei, oder Jeschua wie er auf Aramäisch heißt, lassen Barbara schließlich am Wohlbefinden seines psychischen Gesundheitszustandes zweifeln.
Ein erstes Verwundern setzt jedoch ein, als er vom Heiligen Geist oder besser der Energie Gottes zu reden beginnt, kurz darauf die Flugzeugelektronik verrückt spielt und man zu einem unfreiwilligen Zwischenstopp in Rom gezwungen wird. Mehr und mehr gerät Barbara in das Magnetfeld dieses suggestiven, irritierenden, aber auch imponierenden Menschen, mit einer „Ambivalenz von anziehenden und abstoßenden Kräften“. Der gemeinsam verbrachte Abend in Rom tut sein Übriges. Die Zwei kommen sich näher und Barbara, die für Mischa seine Maria Magdalena des 21. Jahrhunderts zu sein scheint, erwägt sogar ein Tête-à-tête in dessen Hotelzimmer. Als sie auf das Bett zusteuert, traut sie ihren Augen nicht: Sie bemerkt Wundmale an Händen und Füßen des jungen Mannes, der da vor ihr nackt unter dem Bettlaken liegt – Stigmata, die bluten. Jetzt bekommt sie es endgültig mit der Angst zu tun und flüchtet.
Doch Mischa geht ihr nicht aus dem Kopf, zusätzlich genährt durch einen ausführlichen Brief von ihm, den sie nach ihrem Urlaub im Postkasten findet und dem noch viele weitere folgen sollen. Hat sie sich vor wenigen Wochen geweigert, Mischa auf seiner Reise zu den Wirkungsstätten von „Jeschua“ zu begleiten, wird sie nun umso stärker in dessen Geschichte gezogen. Langsam kristallisieren sich bei Barbara tiefere Gefühle zu dem vermeintlichen Messias heraus, der ihr fortan ausführlich seinen neuerlichen Weg bis zur Erlösung schildert. Nur diese scheint offensichtlich gar nicht stattgefunden zu haben. „Die Apokalypse, ja, das war zu befürchten. Obwohl es nicht so aussah, als ob man ihn dazu noch brauchte. (…) Ich bin Jesus, sagte er. Aber das nützt auch nichts.“

Mysteriöser Jesus

Nicht nur Barbara gerät in die Aura des vermutlichen Erlösers, sondern auch der Leser taucht unweigerlich in das von Peter Henisch großartig bis zur letzten Seite aufrechterhaltene Spannungsfeld ein. Mit unerwarteter Leichtigkeit, vermischt mit einem kühnen Schuss Ironie, entfaltet sich der Roman auf gleich drei Ebenen, die durch einen großen Bogen beherzt überspannt sind. Dem Autor gelingt ein famoser Brückenschlag zwischen den Zeiten. Da ist zum einen die sich sukzessiv entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Mischa und Barbara, zum anderen das hochbrisante politische Thema der nahöstlichen Situation: des krisengeschüttelten Israels und seines Nachbarn Palästina, von dem Mischa in seinen Briefen auf der Suche nach seinen Wurzeln berichtet und das sich zunehmend zu einem Alptraum entwickeln. Ein drittes Augenmerk liegt ohne Zweifel auf dem literarisch-ironischen Umgang mit den Evangelientexten.
„Die drei Ebenen des Buches sind für mich gleichwertig.“ erklärt der Autor in einem Interview. „Das ist ja auch das Schöne an einer Komposition, dass man sozusagen drei Themen hat, die man dann auf musikalische Weise miteinander verbindet und einander kontrapunktisch gegenüber stellt.“ Peter Henisch gelingt dies bar jedweder blasphemischer Diffamierung. Auch wenn der mysteriöse Jesus am Ende des Romans ernsthaft überlegt, welcher Religion er wirklich angehören möchte. „Entweder vorwärts zum Islam oder zurück zum Judentum. Dem Christentum ist allem Anschein nach der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Dazu noch einmal der Autor: „Ich habe einerseits die Geschichte sehr ernst genommen, andererseits ihre ironischen Aspekte durchaus nicht vergessen. Für mich ist der Umgang mit den Evangelientexten und der Umgang mit der Geschichte, die mir dazu eingefallen ist, ein Spiel mit Möglichkeiten. Dieses Spiel mit Möglichkeiten wäre in früheren Zeiten wahrscheinlich als häretisch eingestuft worden – die Zeiten sind Gott-sei-Dank vorbei. Ich will Niemandes religiöse Gefühle verletzen, aber bei mir sehen die Dinge etwas anders aus.“

Fazit:
Mit dem stark typologischen Roman „Der verirrte Messias“ ist Peter Henisch ein außerordentlich dichter, äußerst origineller Text gelungen, der dem Leser einen „Messias“ vorstellt, der kritisch und vielleicht auch ein wenig enttäuscht versucht, die letzten 2.000 Jahre zu verstehen. Hervorragend recherchiert und spannend bis zur letzten Seite changiert er zwischen Ernst, Ironie und Sarkasmus, zwischen politischer und kultureller Kritik.

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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