Das Ideal vom „Erdrechtsbund“

Neben nationalen Rechtsinteressen, die Krause in seiner Rechtsphilosophie immer wieder aufgreift, ist es die übernationale Idee eines Rechtsbundes, der die unterschiedlichen Völker miteinander vereinen soll, auf die er immer wieder reflektiert. Mit der Idee eines „europäischen Staatenbundes“ sowie mit seinem Gedanken einer universal geltenden Rechtsordnung – dem „Erdrechtsbund“ – greift Krause Gedanken aus der Renaissance auf. Schon Erasmus von Rotterdam und – vor ihm – Nikolaus von Kues hielten an einer Idee Europas fest. Aber auch Gedanken, die mittlerweile innerhalb der UNO diskutiert werden, lassen sich, wie anfangs betont, bereits bei Krause finden. In Anlehnung an Kants Idee eines ewigen Friedens sucht er nach einem universalen Rechtsbegriff, der für alle Völker Rechtsgültigkeit besitzen soll. Weil es sich beim „Erdrechtsbund“ um eine Idee handelt, die sich aus dem Ideal des Rechts und des universal gültigen Rechtsgedankens ableitet, handelt es sich dabei um ein „Noumenon“. Da der „Erdrechstbund“ noch nicht phänomenal nachzuweisen ist, bleibt seine Umsetzung eine Aufgabe der zukünftigen Gesellschaft, die sich diesen Gedanken aufgibt.1

Neben individuellen, körperschaftsbezogenen und allgemeinen Rechten, die die jeweiligen Staatsbürger verpflichten,2 geht es Krause also um den Völkerrechtsgedanken, den er bereits 1814 entwickelt. In seinem „Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis eines allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas“ schreibt er:

„Wie die jetzt bestehende und noch neulich (am ersten des März 1814) auf zwanzig Jahre für den Fall des Kriegs fester entschlossene Allianz der ersten Mächte Europas bleibend und auch für die Zwecke des Friedens wirksam gemacht, – wie durch sie ein vollkommener Rechtszustand aller Staaten Europas herbeigeführt werden könne, – dies zu zeigen, und für einen durch jene Allianz möglich gewordenen europäischen Staatenbund für Krieg und Frieden, eine gerechte, unumstößliche und im echten Sinne freie Verfassung vorzuschlagen, ist die Absicht dieser Abhandlung.“ Des weiteren heißt es: „Das Urbild des Rechtes und des Staates den Völkern und ihren Beherrschern vor Augen zu stellen, ist besondere Pflicht zur Zeit jener Wendepunkte der Geschichte, welche das Eigentümliche der Bildung der Menschheit auf Jahrhunderte bestimmen. Ein solcher ist im Jahr 1813 eingetreten. Wird der Entwurf eines europäischen Staatenbundes von den wider Frankreichs rechtswidrige Obergewalt verbundenen Staaten ausgeführt, so ist die rechtliche Freiheit Europas, und dadurch in Zukunft die Freiheit aller Völker der Erde gesichert. Das System des bloß politischen Gleichgewichts ist dann entbehrlich, und das einer despotischen Universalmonarchie forthin unausführbar.“3

Mit seiner Schrift reagiert Krause zum einen auf den ersten Frieden von Paris vom 30. Mai 1814, der die Grenzen Frankreichs von 1792 als Großmacht bestätigt, zum anderen greift er die Neuordnung des europäischen Staatensystems auf, wie sie im November 1814 auf dem „Wiener Kongreß“ verhandelt wurde.

Aus der Sicht der analytischen Rechtsphilosophie, die nach basalen Grundrechten, Verpflichtungen und einer Ableitung derselben aus einem universalen Rechtsgrund sucht, den Krause mit Gott identifiziert, läßt sich bereits die Verwirklichung gewisser Grundrechte phänomenal nachweisen, denn jeder vernünftige Staat hat dafür Sorge zu tragen, daß Eigentumsrechte und individuelle Freiheitsrechte gewahrt werden. Freiheit ist für Krause – das persönliche Eigentum eingeschlossen – die höchste Idee, zu der ein Staat vordringen kann. Daher fordert er auch, daß die Freiheit der Bürger zur absoluten Maxime werde, diese Freiheit muß durch den Staat garantiert werden.

Solange man aber nicht zur Idee des Rechtes und damit zum Rechtsgrund Gott vorgestoßen ist, bleibt die Rechtslehre eben nur provisorisch. Daher fordert Krause, daß sich die Rechtsgelehrten in der Metaphysik bilden, denn nur von der Erkenntnis des Absoluten ausgehend läßt sich der Rechtsgedanke wissenschaftlich begründen. Denn: Recht ist, metaphysisch gesehen, eine Wesenheit, eine Eigenschaft Gottes und damit eine universale Idee, die, sobald sich der Mensch an ihr orientiert, zum transzendentalen Ideal wird. „Alles Recht stammt aus Gott, – jedes Wesen nimmt seine Rechte zuhöchst aus Gott – ist nur ein großer Staat des Weltalls, und Gott ist der allgerechte Monarch, der die Wechselwirkung aller Dinge als der untrügliche Gesetzgeber und Richter beherrscht. Alle Dinge sind in dieser Hinsicht Diener und Rächer der ewigen Gerechtigkeit Gottes.“4

Die Rechtsmetaphysik bildet somit das Fundament, an die sich die Rechtsgeschichte einerseits und die Einzelrechte andererseits anschließen. Sie beinhaltet aber auch, daß jeder einzelne Mensch als Bild Gottes zu achten ist, wobei ihm auch das unveräußerliche Recht zukommt, in Freiheit zu leben.

Wie Kant kann Krause formulieren, daß der Mensch niemals als Mittel, sondern auch – als Rechtsperson – als Zweck an sich selbst behandelt werden muß.5 Er geht sogar – innerhalb seiner Rechtsmetaphysik – so weit, auch der Natur gewisse Rechte einzuräumen. So kann er fordern, daß die Natur als Bild Gottes zu schützen sei, wobei der Mensch diese Aufgabe übernehmen soll.6 Dies ist ein Gedanke, der unabhängig von rechtsmetaphysischen Ansätzen heutzutage innerhalb der ökologischen Humanismusdebatte diskutiert wird.

Neben der Rechtsmetaphysik, die Krause innerhalb seiner allgemeinen Analytik entwickelt, interessiert er sich – im Rahmen seiner wirklichkeitsbezogenen Rechts- oder universalen Gerechtigkeit – für praktikable Rechte. Zwar geht er davon aus, daß sich der Rechtsgedanke metaphysisch ableiten müsse, diesem Gedanken steht aber auch der phänomenal-rechtliche Gedanke eines universalen Völkerrechtes nicht entgegen, denn innerhalb der Rechtsgeschichte muß sich die Idee des Rechtes spiegeln sowie umgekehrt der Völkerrechtsgedanke auf die Idee verweisen. Analog zur dritten metaphysischen Potenz, die Krause, wie betont, – neben Vernunft und Natur – als synthetische Einheit aller Wesen als Menschheit versteht, muß es durch das synthetische oder harmonische Recht gelingen, alle Völker – unabhängig von ihrem Bildungsstand und ihrer politischen Entwicklung – miteinander zu vereinigen. Erst wenn der Völkerbund Wirklichkeit wird, nähert sich das Recht seinem Ideal an und wird zur Darstellung der göttlichen Wesenheit und damit zum Symbol endlicher Gerechtigkeit. Nur auf diesem Weg gelingt es, ähnlich wie bei Augustinus, daß sich das menschliche Recht und damit der Staat mit der „civitate dei“ verbindet.

Gleichwohl sich Krause – wie Schiller – zuerst für die „Französische Revolution“ begeistert und später – ähnlich wie Hegel – in Napoleon den Repräsentanten eines europäischen Staatenbundes sieht, distanziert er sich innerhalb seiner Rechtsvorstellung zunehmend vom politischen Absolutismus. An seine Stelle setzt er das „Noumenon“ eines idealen Völkerrechtes, mit dem er die Vorstellung verbindet, daß Rechtsunstimmigkeiten und damit geschichtliche Verfehlungen nicht mehr geschehen können, sobald allein das Recht regiert. Dies bedeutet, daß nicht ein einzelner Regent über die Rechtsbelange zu entscheiden hat, sondern daß es das Recht selbst ist, das unabhängig von Personen und Institutionen für die Rechtsidee steht. Erst wenn sich die einzelnen Staaten Europas – wobei Deutschland, ähnlich wie bei Fichte, eine bedeutende Rolle spielen soll – zu einer Gemeinschaft verbinden, erst dann kann die Idee einer supranationalen Völkergemeinschaft verwirklicht werden.

Die Idee von einem allgemeinen Frieden sieht er dabei negativ in einem Abwehrrecht und positiv im Recht wechselseitiger Anerkennung. Abwehrrechte greifen dann, wenn sowohl der einzelne Staat als auch die Rechtsordnung gefährdet sind. In diesem Zusammenhang empfiehlt Krause – als letzte nur erdenkliche Lösung, um den allgemeinen Frieden zu sichern – auch das Recht zur Verteidigung. Kann man sich einem absolutistischen System nur dann entledigen, wenn man dieses durch eine Revolution stürzt, um der Freiheit aller Platz zu verschaffen, dann ist diese Revolution ein folgerichtiges Mittel, um die Idee eines universalen Friedens durchzusetzen.

Mit dieser Forderung steht er sich in die Tradition des christlichen Rechtsgedankens, der den Krieg erlaubt, wenn man mit friedlichen Mitteln nicht weiterkommt. Wie für das Christentum ist aber auch für Krause der Krieg kein Mittel, um den Völkerbund herzustellen, sondern nur ein notwendiges Übel, das man in Kauf zu nehmen hat, wenn andere Bemühungen nicht mehr greifen. Neben dieses negative Recht, Kriege zu führen, stellt Krause seine positive Rechtsauffassung des Völkerrechtsgedankens. Hierbei unterscheidet er zwischen einem immanenten und einem transzendenten Recht. Während das immanente Recht die staatlichen Zusammenhänge und ihre jeweiligen Rechtsbünde regelt, sichert das äußere Recht – oder objektive Recht – den Einzelstaat nicht nur vor feindlichen Angriffen, sondern stellt eine binnenstaatliche Ordnung her, die Krause in einer liberal-aufgeklärten demokratischen Ordnung sieht. Gibt es innerhalb eines Staates Rechtsmißstände, dann sind diese erst zu beheben, bevor sich der Einzelstaat in eine universal geltende Rechtsordnung begibt. Neben Persönlichkeitsrechten, zu denen beispielsweise der Schutz der Menschenwürde gezählt wird, sind es auch die vier allgemeinen Rechtszwecke, auf die jeder Bürger Anspruch hat. Zu diesen zählt er das Recht auf Fortbildung, das Recht auf Religionsfreiheit und Ausübung, das Recht und den Schutz auf Wahrung der Sittlichkeit und nicht zuletzt das Recht auf freie Kunstausübung. Diese vier immanenten Rechtszwecke müssen von jedem Staat garantiert werden.

Dieser innere Friede ist letztendlich für Krause der Garant dafür, daß der äußere oder universale Frieden zwischen den Völkern der Staatengemeinschaft hergestellt und dann gewahrt werden kann. Erst wenn private und öffentliche Rechtsansprüche also durch den Staat legitimiert werden, erst dann ist der Staat bereit, auch andere Staaten und ihre jeweiligen Rechtsverfassungen zu akzeptieren. Das höchste Ideal des Staates, das dieser zu erreichen vermag, ist die Umsetzung der Menschheitsidee, die Krause sowohl in seiner Logik, Religions-, Moral- und Rechtsphilosophie als den höchsten Zweck begreift, den die Rechtssubjekte innerhalb ihrer Endlichkeit erreichen können. Dieses „Noumenon“ – in überregionaler Perspektive, die Idee der Menschheit – zu verwirklichen, bleibt eben damit die Aufgabe jedes einzelnen Staates.

Über diese regionale Rechtsvorstellung eines ideal-europäischen Staates hinausgehend, sucht Krause nach einer Integration aller Staaten, wobei er zugesteht, daß sich auch solche Staaten in den Rechtsbund eingliedern können, die noch nicht zur Idee eines idealen Staates vorgedrungen sind, denn alle „Völker haben, als völlig gleichberechtigte Personen, das völlig gleiche Recht, in einem selbständigen Staate, in einer selbstgewählten Regierungsform zu bestehen; jedoch darf diese eigenthümliche Verfassung dem gleichen Rechte jedes anderen Volks nicht widerstreiten, und muß so geeignet seyn, daß jedes Volk jedem Volke die wechselseitigen Rechte leisten kann“.7 Daraus kann Krause folgerichtig schließen:

„Ein Staatenbund sind mehrere Staaten, sofern sie sich rechtgemäß verbunden haben, das Recht unter sich als höheren Personen (ganzen Völkern) gesellig herzustellen, so daß alle dazu vereinte Völker innerlich und äußerlich frei, gemäß den Gesetzen sittlich freier jedem Volke eigenthümlicher Entwicklung, ihr Leben immer vollkommener entfalten können.“8

Den freien Staatenbund begreift er dabei als föderativen, denn seine Aufgabe ist es, für das politische Gleichgewicht aller Einzelstaaten zu sorgen. Demgegenüber versteht er unter einem despotischen Föderativstaat einen, in welchem statt Freiheit willkürlicher Eigenwille der Regierung herrscht. Aus diesem Grunde darf es innerhalb des Staatenbundes keinen übermächtigen oder präpotenten Macht- oder Hauptstaat (Hegemonialstaat) geben, der die Freiheitsinteressen der Einzelstaaten reguliert, denn anstatt die Selbständigkeit der Einzelstaaten zu befördern, erzwingt dieser nur ein despotisches Sklavenleben.9

Im Unterschied zu Kants Vorstellungen zum ewigen Frieden, die auf einen Friedensvertrag hinauslaufen, der als „negatives“ Surrogat, „eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes, den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten könne, und dennoch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“ rechnen muß, setzt Krause nicht den ewigen Frieden als Ziel, sondern den Rechtszustand der Völker selbst. Anders gesagt: Diesem „negativ“ allgemeinen Frieden stellt Krause die Friedfertigkeit der Einzelstaaten mit ihren Verfassungen gegenüber. Nur freie Staaten (immanenter Friede) sind dazu befähigt, einen internationalen Friedensbund zu schließen.

Dieser Weltstaat hat sowohl die Einzelinteressen der Staaten zu wahren als auch die „äußeren Bedingungen der Erreichung der Bestimmung der Menschheit“ zu garantieren. Dazu gehören auch die Versorgung mit Nahrung und die Sicherstellung von menschlichen Grundbedürfnissen, wie Kleidung und Wohnung. Dazu zählen aber auch die Wahrung des Privateigentums sowie das Recht auf Handel- und Reisefreiheit. Des weiteren hat der Weltstaat darauf zu achten, daß das Recht auf Arbeit und das Recht auf Lebenswürde gewahrt werden. Neben der Gewährung der Religionsfreiheit zählt Krause des weiteren zu den Rechtspflichten des Weltstaates, daß sich dieser um die Armen kümmere, denn „der Adel muß nicht leben, als wenn er zu einem ewigen Schmause da wäre“.10 Die Pflicht des Weltstaates ist es darüber hinaus, jede Person unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Stand als freies Individuum zu achten und anzuerkennen. Nicht nur Persönlichkeits- und Anerkennungsrechte bestimmt Krause als Rechtspflichten des Weltstaates, sondern auch das Recht auf Erziehung und die damit verbundene Ausbildung zum Staatsbürger.11 Neben der Berufsfreiheit, die zu garantieren ist, soll die Erziehung im Sinne Pestalozzis erfolgen. Die „Weltbeschränktheit“ oder Endlichkeit des Menschen macht es notwendig, jeden Bürger des Weltstaates zu bilden, damit er seine individuelle Würde erreichen kann, um so ein würdiges Mitglied und Abbild der Gesellschaft zu sein.

„Erst im Weltstaat kann jedes Volk der Erde nach seiner Würdigkeit, abgesehen von Menschenmenge und physischer Kraft, wie ein einzelnes schönes und gesundes Organ eines Leibes vollendet werden, seinen reichen originalen Nationalcharakter allseitig ausbilden und dabei doch universal sein.“12

Es ist höchst erstaunlich, mit welch konkreten Vorstellung Krause die „Weltordnung“ herstellen will, die sich aus heutiger Sicht so schwer gestaltet.

Bemerkenswert ist auch – blickt man auf politische Versuche der gegenwärtigen Zeit –, daß schon Krause den Gedanken vom politischen Gleichgewicht betrachtet. Damit sieht er – bereits vor 200 Jahren –, daß sich die Idee einer übernationalen Vereinigung nur umsetzen läßt, wenn jedem Einzelstaat einerseits rechtliche Autonomie, andererseits ein gleiches Mitsprachrecht über außenpolitische Entscheidungen zugebilligt wird. Das politische Gleichgewicht hilft, jede künftige Konföderation der Unterdrückung einzelner Völker zu vermeiden und damit „jedem erwachsenen Eroberer, mit der Einsicht in des Gelingens Unmöglichkeit, die verbrecherische Lust“ zu nehmen. Daraus leitet Krause das Recht ab, daß nicht einzelne Staaten darüber entscheiden können, ob sie – zwecks Territorialansprüche – einen kriegerischen Konflikt vom Zaun brechen, sondern die Staatengemeinschaft allein richtet darüber – wie heutzutage in Europa üblich –, ob Rechtsmaßnahmen getroffen werden dürfen, die in die Körperschaftsrechte der Einzelstaaten eingreifen dürfen. Dies zu entscheiden oder darüber abzustimmen, bleibt Aufgabe eines übernationalen Bundesrates – vergleichbar mit der heutigen EU-Kommission.

Dieser Bundesrat soll dann aus dem „souverainen Personale der höchsten Landesregierung jedes der vereinten Staaten, aus den souverainen Fürsten, oder Aristokraten, oder den Präsidenten republikanischer Staaten“ bestehen, „welche entweder in Person, oder in von ihnen bevollmächtigten, ununterbrochen im Bundrathe anwesenden Abgesandten in der Versammlung des Bundesrathes erscheinen und ihre Bundrechte vertreten. Jeder Staat kann aber nur einen Repräsentanten im Bundrathe, und überhaupt nur eine Stimme haben.“13 Alle Vertreter dieses Bundesrates haben das gleiche Recht und zugleich die Pflicht, das allgemeine Interesse des Staatenbundes zu vertreten. Daher fordert Krause auch, daß innerhalb des Bundesrates keine Hierarchie herrscht: „Daher hat der Bundesrath keinen Präsidenten.“ Die Mitglieder des Bundesrates haben, auch dies ist für heutige Verhältnisse bemerkenswert, nur die allgemeinen Interessen der Staatengemeinschaft und damit des Völkerrechts zu vertreten. Jedes innerstaatliche Interesse bleibt somit auf den jeweiligen Rechtsraum beschränkt und kann nicht Vorlage für ein universal geltendes Recht werden. Ziel ist nicht ein individuelles Rechtswohl, sondern allein das Gemeinwohl aller Staaten. Dies schließt sowohl ökonomische als auch politische Ansprüche gleichermaßen mit ein. Da kein Staat das Recht hat, einem anderen sein politisches Konzept vorzuschlagen oder diesen – mit kriegerischen Mitteln – einzuverleiben, darf sich, so Krauses rechtsnormativer Ansatz, auch kein Staat an einem anderen bereichern. Ökonomische Verabredungen sind daher so zu treffen, daß sie für den gesamten Staatsverbund dienlich sind. Für ärmere Staaten empfiehlt Krause daher, daß sie ihre Autonomie bewahren, obgleich sie von den reicheren Staaten abhängig sind. Sie sollten daher nicht, selbst wenn der Staatenbund ihnen eine vorläufige Verfassung gibt, um ihnen eine immanente Rechtsstaatlichkeit zu ermöglichen, diesen imitieren, sondern auch ihre regionalen Interessen beachten. Darüber hinaus behält sich aber der Staatenbund einerseits als Rechtspflicht, andererseits als Rechtsgut die Möglichkeit vor, diejenigen Staaten aus dem Verbund zu verstoßen, die nicht den immanent-rechtsallgemeinen Verabredungen oder – rechtlich gesehen – Grundsätzen folgen. Man kann auch einem Staat, der sich nicht der allgemeinen Rechtspflicht beugt, nicht einfach den Krieg erklären, obgleich er nunmehr zum Bund in einem äußeren Verhältnis steht. Feindliche Handlungen gegenüber diesem Staat sind, so Krause, aus christlicher Perspektive heraus, radikal abzulehnen.

In Anlehnung an Rousseau „contrait social“ sieht Krause den universalen Rechtsvertrag, den die jeweiligen Staaten miteinander abschließen, wobei er auch hier die Vorreiterrolle Deutschlands betont, nicht darin, daß ein Staatsvertrag geschlossen wird, weil man von einer „negativen“ Friedensidee ausgeht und auch einen möglichen Krieg als Abwehrrecht mit einkalkuliert, sondern darin, daß man – aufgrund des innerstaatlichen Friedens – freiwillig einem Staatenbund beitritt. Anstelle einer rechtlichen Konklusion, wozu Krause auch Notverträge zählt, die jedem Land Abwehrrechte zugestehen, ist sowohl der Vertag mit anderen Staaten als auch die freiwillige Entscheidung, aus dem Völkerbund auszutreten, ein Anliegen und damit ein Recht jedes einzelnen Landes. Läßt sich ein Land jedoch auf den universalen Völker- oder Erdrechtsstaat ein, dann obliegen diesem Rechte und die dazugehörigen Pflichten. Zu diesen Rechten zählen positiv das Recht auf eine einzelne Verfassung sowie die Ausübung der Rechtstaatlichkeit unter den innerlichen und äußerlichen Freiheitsrechten.

Krause kritisiert in diesem Zusammenhang jede absolute Monarchie und fordert demgegenüber eine Demokratie der „Publicität“, die es all ihren Bürgern erlaubt, an den Belangen des Staates als freie Bürger teilzuhaben. Das, was er hier anstrebt, erlebt heutzutage unter dem Stichwort unmittelbare Demokratie Konjunktur.

Neben den erwähnten Rechten sind es auch die Pflichten gegenüber der Völkergemeinschaft, auf die er hinweist, wenn er das Recht auf wechselseitige Anerkennung, das Recht auf wissenschaftlich-kulturellen Austausch und das Recht auf Unverletzlichkeit staatlicher Autonomie fordert. Der Staatenbund kann andere Völker nicht dazu zwingen, ihm beizutreten, denn dies ist nur möglich, wie auch heutige Debatten im europäischen Ausland zeigen, wenn sich das Volk – aus freiem Willen – dazu entscheidet. Bei Krause heißt es:

„Die in den Staatenbund vereinten Staaten können zwar andere Staaten, die noch nicht beigetreten sind, auffordern, sich mit ihnen zu vereinen, jedoch dies nur auf eine freie Weise, ohne dem freien Willen und der freien sittlichen Entwicklung irgendeines Volkes vorzugreifen, ohne irgend ein Volk auf dem Gebiet des Rechts bevormunden, oder durch äußere Gewalt zum Beitritt in den Staatenbund nöthigen zu wollen.“14

Gehört die freiheitliche Entscheidung einzelner Staaten, dem Weltstaat beizutreten, zwar zum Völkerrechtsgedanken des Erd- oder Weltstaates dazu, bedeutet dies aber nicht, daß der Weltstaat alle Staaten auch tatsächlich in den Verbund mit aufnimmt. Auf die heutige Zeit übertragen: Stimmt die Rechtsverfassung eines Landes nicht, wie die der Türkei beispielsweise, die sowohl gegen immanente Freiheitsrechte – und damit Persönlichkeitsrechte – als auch gegen das Völkerrecht verstößt, kann diesem Land kein Zutritt zum Staatenbund ermöglicht werden. Die Türkei müßte also erst, wie Krause fordern würde, ihre Verfassung ändern, wobei sie allen Menschen gleiche Rechte und Pflichten zuerkennt, um einen Platz innerhalb eines europäischen oder internationalen Bundes zu erhalten oder diesem beizutreten, denn eine Voraussetzung dazu ist es, alle Rechte innerhalb des Menschheitsrechtes herzustellen und zu sichern. Dazu gehört auch das Recht des Menschen, sich „am Staate als Mitglied, als Bürger […] zu erhalten“.15

Werden diese immanent staatsbürgerlichen Rechte gewahrt, so sieht Krause kein Problem darin, auch diejenigen Staaten innerhalb des Bundes zu integrieren, die eine monarchische, aristokratische, republikanische, weltliche Verfassung oder sogar eine kirchliche Hierarchie haben.

Nachdrücklich hält Krause aber daran fest, daß die allgemeine Verfassung weder monarchisch, aristokratisch, republikanisch oder kirchlich geprägt sein darf. „Die Verfassung des Bundes kann daher nie persönlich monarchisch seyn, sondern bloß in so fern eine Monarchie, als der Bund in der Einheit und Gleichheit des Gesetzes sich selbst regiert.“16

Bei der Aufnahme von Staaten in den Staatenbund darf es keine Rolle spielen, ob sich diese, wenn sie das Menschenrecht wahren, in einer ökonomisch schlechten Verfassung befinden. Der Bund hat dann dafür zu sorgen, daß intensivere Handelsbeziehungen zu diesen Staaten aufgenommen werden, was kurz über lang zur Unabhängigkeit führen werde. Sowohl die Hilfe des Bundes, daß sich der Staat zu einer unabhängigen Einheit bilde als auch die Pflicht, diese Unabhängigkeit zu ermöglichen, zählt Krause zu den Rechtspflichten des Staatenbundes.

Dieser Staatenbund hat auch darüber zu entscheiden, wie mit Völkern umgegangen wird, die dem Bund noch nicht beigetreten sind, oder andere Bünde gefährden.17 Im Falle, daß einzelne Staaten den allgemeinen Bund bedrohen, hat der Bund als ganzer als Recht, über Krieg oder Frieden zu entscheiden. Das allgemeine Völkergericht hat dann zu untersuchen, ob es sich bei den Rechtsverstößen um ein völkerrechtliches Verbrechen handelt. Als juridicum parium darf es aber keine Strafen verhängen, sondern muß das Unrecht freilegen und den jeweiligen Staat auffordern, dieses zu beseitigen. Beseitigt der einzelne Staat das Unrecht nicht, so darf dieser aus dem föderativen Staatsbund ausgeschlossen werden.18

Der Staatenbund „promulgirt seine innere Verfassung allen Völkern, und erklärt zugleich, daß er jedes Volk des Erdrundes als sein Brudervolk, als gleichberechtigten Bürger des Reichs der Menschheit auf Erden anerkenne, es sey nah oder fern, klein oder groß, reich oder arm, mächtig oder schwach, auf höherer oder niedriger Stufe der Bildung; daß er bereit sey, jedem entstehenden Rechtsstreit zwischen ihm oder einem seiner Bundstaaten und einem noch nicht vereinten Volke in friedlicher Unterhaltung, nach seinem promulgirten völkerrechtlichen Gesetzbuche, zu schlichten, und zu verhüten, daß nicht zwischen den Streitenden ein rechtloser Zustand eintrete, den bloße Gewalt und Glück des Kriegs enden könnte; daß er keinen anderen Einfluß auf äußere Staaten begehre, als den freier, vernunftgemäßer Mittheilung gemeinnütziger Einrichtungen und Vorschläge […]. Der Bund erklärt ferner, daß er Verzicht leiste auf jeden Erwerb an Land und Leuten durch die Gewalt des Kriegs oder durch Überlistung, für sich selbst als ganzen Bund und für jeden der in ihn vereinten Staaten, und daß er als Grund des Rechts durchaus nie und nirgends Gewalt, sondern bloß vernünftige und von den Völkern durch Verträge angenommene Rechtsgründe anerkenne; und daß er bereit ist, jedes Volk als Mitglied aufzunehmen, wenn dasselbe die Bedingungen des Grundvertrags eingehen werde.“19

Abschließend ist festzuhalten: Krause greift die Idee Kants vom ewigen Frieden auf, entwickelt diese aber weiter, wenn er nicht bei einem „negativen“ Frieden stehen bleibt, sondern nach einem Reich des Friedens sucht, das der universale Weltstaat ist, in welchem sich alle Mitgliedsstaaten als eineMenschheit begreifen.

Damit ist der Visionär Krause seiner Zeit weit voraus, ja, er greift Ideale auf, die heutzutage – im Rahmen der Idee eines internationalen Friedens – zunehmend an Bedeutung gewinnen, da sich dieser Frieden nur umsetzen läßt, wenn sich alle Völker an die universale Rechtsidee – das „Noumenon“ Recht – halten. Der „Erdrechtsbund“ oder Weltstaat wird für Krause dabei zu derjenigen Instanz – vergleichbar mit den „Vereinten Nationen“ –, der die Rechte aller Menschen und aller Staaten schützt und im Notfall auch verteidigt.

1  Vgl. dazu die Schrift von Krause: Der Glaube an die Menschheit. Erläutert durch ein Lehrfragstück. Mit einer Krauses „Urbild der Menschheit“ entnommenen Liste von dessen Verdeutschungen und einer Einleitung herausgegeben von Alfred Unger, Berlin 1928, S. 1ff.

2  Krause: Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wissenschaft (1911), S. 633.

3  Krause: Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas 1814, hg. von H. Reichel, Leipzig 1920, S. 8f.

4  Krause: Der Erdrechtsbund an sich selbst und in seinem Verhältnisse zum Ganzen und zu allen Einzeltheilen des Menschheitlebens. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers, hg. von Georg Mollat, Leipzig 1893, S. 35.

5  A.a.O., S. 36.

6  Ebda.

7  A.a.O., S. 12.

8  A.a.O., S. 11.

9  Krause: Der Glaube an die Menschheit (1928), S. 31.

10  Krause: Der Erdrechtsbund (1893), S. 131.

11  A.a.O., S. 91.

12  A.a.O., S. 107.

13  Krause: Entwurf eines europäischen Staatenbundes (1920), S. 25.

14  A.a.O., S. 23.

15  Krause: Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wissenschaft (1911), S. 632.

16  Krause: Entwurf eines europäischen Staatenbundes (1920), S. 22.

17  A.a.O., S. 24.

18  A.a.O., S. 25.

19  A.a.O., S. 29.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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