Im Herbst das reiht
der Feenwind
da sich im Schnee
die Mähnen treffen
Amseln pfeifen heer
im Wind und fressen.
Alexander alias Ernst Herbeck
Dass der 1920 in Stockerau in Niederösterreich geborene und am 11. September 1991 gestorbene Ernst Herbeck mit einer Karriere als psychiatrischer Langzeitpatient zu einem bewunderten Dichter wurde, der Gedichte geschrieben hat, die zum Schönsten zählen, was die österreichische Lyrik in der Gegenwart hervorgebracht hat, ist eine mehr als unwahrscheinliche Geschichte. In seinem 20. Lebensjahr fühlte er sich von fremden Stimmen verfolgt und hypnotisiert, was zu seiner ersten Einweisung in die Psychiatrie führte. Vier weitere sollten folgen. 45 Jahre blieb er mit der Diagnose Schizophrenie „auf Station“, davon das letzte Jahrzehnt als Bewohner im „Haus der Künstler“ in Gugging bei Klosterneuburg in Österreich. Jener als therapeutische Einrichtung gegründeten Wohngemeinschaft für künstlerisch begabte Patienten, die der Psychiater Leo Navratil Anfang der 80er-Jahre ins Leben gerufen hatte und die von Johann Feilacher, dem nunmehrigen Leiter des Künstlerprojekts, weitergeführt wird.
Über 30 Jahre lang hat Gerhard Roth, eine der wichtigsten Stimmen der österreichischen Intellektuellen und Freund derer, die am Rande der Gesellschaft existieren, diese Einrichtung in unregelmäßigen Abständen besucht. Immer wieder fuhr er „dem weißen Schild mit dem blauen Stern nach, bis zur bewaldeten Anhöhe. (…) Es liegt auf einer Anhöhe, am Rand des Laubwalds, fast nicht mehr innerhalb des Anstaltsbereich – weder ganz zur Hölle draußen noch ganz zur Hölle drinnen gehörig“. Den einstmals verfemten „Irren“ wurde eine neue Identität verliehen und „ihnen als Gegengewicht zur Welt ein Ort gestiftet, in dem das 'Reich der schlafenden Vernunft', wie Goya den Wahn umschreibt, nicht nur Ungeheuer gebiert, sondern auch einen exemplarischen Zugang zum Schöpferischen ermöglicht, zur Innenwelt, die den Kranken wie den Gesunden Fremde ist.“, ist im Buch zu lesen. 29 Gugginger Künstler erfahren in ihm eine Würdigung der ganz besonderen Art: mit großformatigen Farbabbildungen ausgewählter Werke, aber auch Fotos aus ihrem Alltagsleben und begleitenden Texten des Autors werden sie dem Leser vorgestellt. Mit seiner Gabe, seinen Gegenüber wie von allein durch seine Grenzen dringen zu lassen, porträtiert der Autor sie und ihre Werke. Entstanden sind ganz persönliche, ja intime, fast zärtlich zu nennende Annäherungen, die von der unglaublichen Sensibilität Roths und der Wertschätzung seines Gegenübers zeugen. Am 24. Juni 2012 feierte der Schriftsteller und Fotokünstler seinen 70. Geburtstag. Mit diesem schwergewichtigen Band erweist der Residenz-Verlag nicht nur ihm, sondern auch dem Leser ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk. Entstanden ist ein ungemein ästhetisches und literarisch ansprechendes Buch.
Schon Picasso, Max Ernst und die Surrealisten konnten sich dem Einfluss psychopathologischer Kunst nicht entziehen. Arnulf Rainer, ein zeitgenössischer österreichischer Maler, bemerkte einmal treffend, dass man Intelligenzquotient und Bildungsniveau im Zusammenhang mit der künstlerischen Kreativität vergessen sollte. In Gugging ist dies offensichtlich gelungen. Nicht mehr „irre Künstler“ und Patienten, die mit dem Attribut „geisteskrank“ abgestempelt werden, sondern Maler und Dichter stellen die Welt, wie sie ist, auf unterschiedlichste Art und Weise infrage und dar. Auf keiner Seite hat man den Eindruck, man würde exotische Ergebnisse kranker Geister. betrachten. Sei es nun August Walla mit der Darstellung seiner mächtigen Gegenwelt oder Johann Fischer, der in kalligrafischer Schrift mit seinen Bildgeschichten das gesamte Land Österreich erfasst, in den Werken aller Künstler der Art brut, der auch die Gugginger zuzurechnen sind, ist stets das Existenzielle spürbar. „Alles wird mit dem Staunen und der Verwirrung des Überraschten gesehen.“, schreibt Gerhard Roth. „Es sind Gedanken-Bilder, keine Produkte einer Nachahmung der Wirklichkeit.“ Sie haben sogar den Vorteil, dass ihr Zugang beim Schaffensprozess zum eigenen Selbst ein unverstellterer ist. Gerade „diese Direktheit macht zusammen mit der Begabung das Frappierende der Werke aus“, so Roth.
Vielleicht muss man sich gar die Frage stellen, was an der Diagnose 'Ein Geisteskranker als Künstler' stimmt und wie oft nicht gerade die Psychiatrie aus einem Künstler einen Geisteskranken gemacht hat. Die Mechanismen des künstlerischen Schaffens, die zum Beispiel die Gugginger zur Verfügung haben, sind bei ihnen ganz genau die gleichen wie bei jedem sogenannten Normalen. „Eines Tages werden die Hausers und Wallas, die Herbecks und Tschirtners recht behalten“, so Gerhard Roth und man pflichtet ihm unwillkürlich bei. „Es ist wunderbar zu sehen, wie ein Mann wie Walla, dem sich jedermann überlegen glaubt, und überlegen ist, sobald er den Pinsel in die Hand nimmt.“ Nach der Lektüre diesen großartigen Buches stellt man sich unwillkürlich die Frage: Wer ist denn eigentlich normal und wo ist der normale Mensch?
Gerhard Roth
Im Irrgarten der Bilder – Die Gugginger Künstler
Residenz Verlag, St. Pölten (Mai 2012)
358 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3701732728
ISBN-13: 978-3701732722
Preis: 39,90 EURO
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