Das metrische Wir – der intellektuelle Überbau
Kolumnen zu schreiben ist wie Holzhacken – man spart sich den Aggressionstherapeuten. Im Rahmen meiner Recherche zum Thema Normalität, worüber ich ein Buch verfasse, gab mir jemand den Rat, Steffen Maus Buch „Das metrische Wir – über die Quantifizierung des Sozialen“ zu lesen. Mau ist Lehrstuhlinhaber für Makrosoziologie in Berlin und daher ging ich mit Interesse an die Lektüre.
Beim selben Verlag hatten eigentlich alle nennenswerten Sozialphilosophen der letzten 50 Jahre veröffentlicht, also seit 68. Und so las sich Maus Werk auch – wie eine Zusammenfassung der Weltsicht von vor 50 Jahren: böser Neoliberalismus, der gläserne Mensch, das arme Opfer. Das Beste war der Titel, danach ging es bergab. Auf rund 300 Seiten fand ich keine Erklärung, weshalb sich Menschen freiwillig dazu bereit erklären, vermessbar zu sein. Das Umfeld ist alles, die eigene Aktion nichts.
Hinter all dem schien eine Art kapitalistischer Mechanik zu stecken, die den arme Menschen in die Fänge dubioser Figuren trieb: ein bisschen wie weiland Blofeld, Bond-Antipode und Kapitalisten-Karikatur. Ähnlich einem Fußballspieler, dem nichts einfällt, um dann mit hohen Bällen das Kopfballungeheuer im Team irgendwie anzuspielen, verfiel Mau darauf, Byung-Chul Han zu zitieren, der es im Zweifel alles irgendwie genauso sieht. Unser heutiges Transparenz-Geblubber als ultimativer Sieg des Neoliberalen. Makrosoziologen wie Mau oder Heinz Bude wirken ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Sie sind zu jung, um 68er zu sein und zu alt, um sich vor ihrer Pensionierung eines Besseren belehren zu lassen – gegen jedes Argument.
Ausgelaugt – die Umsetzenden
Nicht ohne Häme schrieb Jan Fleischhauer diese Woche seine SPIEGEL-Online Kolumne, die die grassierende Einfallslosigkeit der SPD beschrieb. Schulz, ähnlich alt wie Heinz Bude und Andrea Nahles, die so jung wie Steffen Lau ist, sehen es doch tatsächlich als Agenda-Themen der Sozialdemokratie an, möglichst viel mehr Geld an die EU-Institutionen nach Brüssel zu überweisen und Familiennachzug für Asylbewerber möglichst großzügig zu handhaben. Per Twitter sprangen Norbert Bolz und Hugo Müller-Vogg ebenfalls nicht frei von Sarkasmus auf den Zug auf und fragten, ob das eine Agenda 2020 sei. Eine Sozialdemokratie, die diese Themen als vordringlich ansieht, hat die Bodenhaftung verloren.
Am Wahlabend lehnte Schulz zu Recht eine Große Koalition ab. Vordergründig waren es die 20,5%. Vielmehr ist die politische Linke gänzlich intellektuell ausgedünnt, ob nun SPD, Grüne oder Linkspartei. In meinem Interview mit Bolz war dies bereits letztes Jahr ein Schwerpunkt.
Wer einen Marathon läuft, kann danach nicht noch mit fünf Frauen schlafen (mein Beitrag zur Sexismus-Debatte): Martin Schulz hat sich da was vorgenommen: vier Jahre im Bett mit Mutti und Siggi-Pop. Meine Prognose Herzinfarkt und Exitus.
Wer lange fahren will, muss öfter tanken
Das Hauptproblem der 68er Bewegung scheint mir zu sein, dass man seine eigene Ideologie für eine ultimative Weisheit hält, die Marcuse als 10 Gebote vom Berg herabtrug und die auch 50 Jahre, also nach rund 18000 Drehungen der Erde um sich selbst, noch gelten.
All cops are bastards, Eigentum ist Diebstahl, die Rente ist sicher usw. ist dann nach ein paar Joints hängengeblieben. Wie stille Post im Kindergarten. Was die Frankfurter Schule meinte, ist nicht unbedingt das, was nach zwei Gläsern Rotwein und 20 Zigaretten in der WG-Küche als Idee von der Idee hängenblieb. Aber egal, scheiß drauf. Wir sind die Guten, uns hält keiner auf.
Wie bei jeder Religion braucht die 68er-Bewegung Märtyrer und hat sie in Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke. Als heutige Variante bietet sich ja Deniz Yücel an sowie der unbekannte Flüchtling.
Auch Kritiker des Kapitalismus gestehen ihm Reformfähigkeit zu. Nur wie steht es um die Reformfähigkeit der Augsburger Mottenkiste 68? Shlecht ohne C wie Christus.
Am Ende nur das Foul – die Bodenkolonne
Seit ungefähr 2014 gibt es eine wahrnehmbare konservative Gegenbewegung. Neoliberalen kann es ja egal sein, sie kaufen sich auch bei schlechten Argumenten heraus und frei, daher neoliberal als neue Liberalität, so denkt der 68er. Aber der Konservative als intellektuell Überlegener?!
Beim Wechseln der dritten Zähne merkt der/die/das 68er dann aber, dass nicht der Neoliberale, sondern der neue konservative Intellektuelle eine vollkommen unerwartete Gegenfigur im Jahr 2018 ist. „Ich denke, wir hätten das hinter uns“ – so die stereotype Antwort. Dummerweise reicht das nicht. Spürbar hat der neue Konservative zunehmend gute – oft gar bessere – Argumente, auf seiner Seite.
Geschichte geht weiter, und der Konservative musste sich selbst weiterentwickeln, um wieder die Lufthoheit in Diskursen zu gewinnen. Alle andere haben ja die Ferndenke à la Marcuse oder die Vorlagen von Wiedergängern wie Bude, Leggewie usw.
Mir selbst versucht ein ortsansässiger Kulturschaffender übel nachzureden, indem er erzählt, ich sei „reaktionär“. Jeder, der mit mir zusammenarbeite, setze sich dem Verdacht aus, ebenso zu sein, weshalb man von mir bitteschön Abstand gewinnen möge. Das ist kein Argument, sondern Gruppenzwang, und es funktioniert auch nicht. So mancher Linker ist genau da angekommen, wo er nie hinwollte: im Methodenkasten der Verachtenswerten. Oder übertragen auf den Fußball: wenn hohe Bälle nicht mehr helfen, dann wenigstens ausgestreckte Beine in die Knochen des Gegners.
P.S:
„Die fetten Jahre sind vorbei“ ist der Film, den ich zufällig beim Verfassen dieses Textes ansehe. Schon im Entstehungsjahr 2004 mutete er an wie ein Wiedergänger. Zielpublikum schien schon vor anderthalb Jahrzehnten bei Entstehung des Streifens der alternde Sowi-Lehrer gewesen zu sein, der sich im Kinosessel von Arthrose geplagt, an jungen Protagonisten labt, die seine Idee schablonenhaft ins neue Jahrtausend tragen. Moral des Films, der im Englischen „the eduk(?)ators“ heißt: der Revolutionär muss in das Eigenheim des Kapitalisten eindringen, um ihn umzuerziehen.
Umerziehung war wohl bekanntermaßen schon immer eine Maßnahme lupenreiner Demokraten.
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