„Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es gibt hundert.“ In seinem »Pyrenäenbuch« (1957) berichtet Kurt Tucholsky von seiner Begegnung mit Menschen, Landschaften und Orten der südfranzösischen Gebirgsregion. Darüber nachdenkend, welches nun die richtige Erlebnisform sei, entscheidet er sich für eine offene Erlebnisvielfalt. Der Zoologe, Meeresbiologe und Naturschützer Robert Hofrichter greift diesen Satz Tucholskys auf und überträgt ihn auf sein Buch »Im Bann des Ozeans«. Allerdings geht es ihm weniger um Begegnungen mit unserer Spezies. Und er begibt sich auch nicht auf Wanderwege in Gebirgsregionen, sondern der Österreicher, der zugleich der Präsident der Meeresschutzorganisation MareMundi und ein ausgezeichneter Naturfotograf ist, nimmt den Leser auf eine Reise zu unserer grünen Lunge, die eigentlich eine blaue ist, mit. Und was für eine!
Dabei wartet das Buch nicht unbedingt mit spektakulären Farbaufnahmen – von denen es dennoch einige wenige gibt – auf, sondern die Faszination der Lektüre besteht vor allem in der Opulenz seines vermittelten Inhaltes. Robert Hofrichter beschränkt sich nicht nur auf einige wenige „Appetithäppchen“, sondern er erzählt, berichtet und erklärt umfassend. Auch vor physikalischen Gesetzmäßigkeiten und geologischen Verwerfungen, vor Masseverteilungen, Wellenkunde, dem physikalischen Phänomen der Absorption oder der kambrischen Explosion scheut er nicht zurück. Vor allem naturwissenschaftlich Interessierte dürften dabei voll auf ihre Kosten kommen, wird doch immer ein Blick hinter die Fassade des Spektakulären und schnell, mitunter vielfach oberflächlich Vermittelten geworfen. Aber keine Angst, auch naturwissenschaftliche Laien werden nicht überfordert. Der Autor hat eine hervorragende Gabe, selbst Schwieriges, leicht und verständlich zu erklären und komplizierte Abläufe minimalistisch, aber einleuchtend zu erläutern. Herausgekommen ist eine wahrhaft spannende und vor allem lehr- und erkenntnisreiche Entdeckungsfahrt auf und zu der scheinbar so natürlichsten Sache der Welt – unseren Meeren und seinen Bewohnern.
Die ersten 30 Seiten lesen sich zunächst wie „ein kleines Mosaik aus verschiedenen marinen und maritimen Steinchen“, bevor der Autor anschließend auf einzelne Themen tiefer eingeht. Dabei begibt er sich zunächst ganz weit zurück und zwar fast bis zur Stunde Null, dem Urknall. In großen Schritten begleitet ihn der Leser durch die evolutionären Szenarien und ihre daraus hervorgegangen Fossilien. Hofrichter macht mit den riesigen „Strömungsbändern des Lebens“ bekannt, zu denen der Golfstrom, aber auch der unglaublich mächtigere, antarktische Zirkumpolarstrom gehört, bevor er sich ab knapp der Hälfte des Buches dem Leben zuwendet.
Nun geht es um Sex …Verzeihung… Fortpflanzung und ihre erstaunlichsten Auswüchse. „Selbst die einfachste Sexform im Meer ist kompliziert“, so der Autor. Man ist bei Wurmhochzeiten dabei oder begleitet Aal und Meeresschildkröte bei ihrer Wanderung zu Laich- bzw. Nistplätzen. Es wird von ungleichen Freundschaften und Kooperationen im Meer berichtet, aber auch von wahren Schlachtplätzen, bei denen der „immer lächelnde“ Delphin mitunter eine ziemlich unrühmliche „Nummer abzieht“.
Ein großes Thema gilt den größten Baumeistern der Erdgeschichte, der Wunderwelt der Korallenriffe. Darin tummeln sich mitunter hochgiftige Nesseltiere, „hübsche Kegelschnecken, die den Tod bringen können, winzige Kraken mit giftigem Speichel, perfekt getarnte Fische mit heimtückischen Giftstacheln und noch heimtückischeren Proteingemischen“. Derartige Szenarien lassen den Weißen Hai schon beinahe harmlos erscheinen.
Schon fast am Ende des Buches taucht Hofrichter in das nahezu unbekannte Universum, die schwarze, lichtlose und kalte Hölle der Tiefsee, die unter dem unvorstellbaren Druck von bis zu 1.000 Bar steht, hinab. Man mag es kaum glauben, aber auch hier und sogar im darunter liegenden Gestein des Meeresbodens wimmelt es von Leben.
Doch auch hier ist die Zerstörung bereits angekommen. „Die Abfälle unserer angeblich so hochentwickelten Zivilisation, die auf grenzenloses Wachstum und unersättlichen Konsum setzt, haben die tiefsten Tiefen des Ozeans erreicht. Das ist erschreckend. Es zeigt einmal mehr, wie brutal wir uns die »Erde untertan« machen und wie gedankenlos wir uns als außerhalb des Netzwerks allen Lebens stehend sehen. Aber das sind wir nicht. Wir sind Teil dieses Netzwerkes und es zu zerstören bedeutet, uns selbst die Lebensgrundlagen zu entziehen.“, so Robert Hofrichter.
„Kommt es mit dem Beginn des dritten Jahrtausends zu einer Wiedergeburt visionär denkender Menschen, die das entleerte Prinzip Hoffnung von neuem mit Ideen füllen, die weit in die Zukunft reichen?“, fragt der Liechtensteiner Philosoph und Psychologe Manfred Schlapp.
Am Ende schlägt man das Buch mit Tränen in den Augen zu. Tränen aus Trauer und Verzweiflung, wie es der Mensch in den letzten Jahren geschafft hat, diesen faszinierenden Lebensraum systematisch zu zerstören. Aber auch mit Tränen der Freude und Faszination, wenn man sieht, wie schnell sich die Schönheit der Meere und ihrer Bewohner doch erholen kann, wenn…. ja wenn….
Danke für dieses Buch, dem ich unbedingt eine große und interessierte Leserschaft wünschen darf. Es lohnt sich!
Robert Hofrichter
Im Bann des Ozeans. Expedition in die Wunderwelt der Tiefe
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (26. März 2018)
240 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3579086782
ISBN-13: 978-3579086781
Preis: 20,00 EURO