Nicht weniger als der griechischen Mythologie hat sich Philip Roth in seinem neuen Roman bedient und mit Nemesis deren Rachegöttin in sein jüngstes Werk implementiert. Der Legende nach agierte Nemesis als die starke Macht, die das Universum im Gleichgewicht hielt; ein gerechtes,aber unerbittlich Verzweiflung verbreitendes Wesen oder besser, ein moralischer Sinn, sollte man die Götter mit Hybris beleidigen.
Roths Protagonist Bucky Cantor fungiert dabei als Mittler dieser Gottheit. Vielleicht wird an ihm gar ein Exempel statuiert. Auf jeden Fall stellt er das Bindeglied zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und der Menschheit dar, wenngleich er den Sinn, der im Sommer 1944 erteilten „Strafe“ nicht zu deuten vermag. Auf dem europäischen Schlachtfeld sterben seine Klassenkameraden und auf dem heimische Sportplatz seiner Schule, den er als aufsichtsführender Lehrer betreut, die ihm anvertrauten Jungen. Eine Polio-Epidemie greift um sich und rafft sinnlos unschuldige Kinder dahin bzw. macht sie zu lebenslangen Krüppeln. Noch ist der rettende Impfstoff gegen diese tückische Viruserkrankung nicht erfunden.
„Warum treffen solche Tragödien immer Menschen, die es am wenigsten verdient haben?“, fragt sich Cantor. Als Halbwaise wächst er bei seinen Großeltern im jüdischen Viertel von Newark auf. Die Mutter starb bei seiner Geburt, seinen Vater, einen Spieler und Dieb, hat er nie kennengelernt. Seine Ideale, mit denen er groß wurde, versucht er an seine Schüler weiterzugeben. Zähigkeit und Willenskraft, körperliche Stärke und Tapferkeit sowie Entschlossenheit, sich niemals herumstoßen oder als jüdischer Schwächling beschimpfen zu lassen, bringen ihm bei den Buben Bewunderung und Achtung entgegen. Nach einem souverän gemeisterten Vorfall mit italienischen Halbstarken wird er gar zum regelrechten Helden, zum verehrten und beschützenden großen Bruder.
Doch die Epidemie greift gnadenlos um sich und auch die Flucht zu seiner Verlobten an die Küste, stoppt sie nicht. Im Gegenteil: es mehrt sich der Verdacht, das gerade er, Bucky, der Unheilsbringer sein könnte.
„Und wenn du den Preis bezahlen musst“, bemerkte sein Großvater häufig, „dann bezahlst du ihn eben.“ Schien das Leben des jungen Mannes trotz aller Hindernisse durch seine Herkunft bisher in geordneten Bahnen zu verlaufen, so wendet Roth das Szenario kurz vor dem Ende abrupt. Seine relativ nüchterne, zum Teil auch bewegende Erzählung bricht ab und offenbart den wirklichen Lebensverlauf von Mister Castor, der – das wird nun klar – rückwirkend von einem ehemaligen, ebenfalls an Polio erkrankten Schüler Jahre später notiert wird und als Retrospektive dem Leser in „Nemesis“ vorliegt.
Falsche Ideale, Vorurteile, Ressentiments, Schuldvorwürfe, Verantwortlichkeit, aber auch der Glücksbegriff des Einzelnen sind die behandelnden Themen in Philip Roths neuem Roman. Und immer wieder die Suche nach dem Warum und die Frage nach einer göttlichen Gerechtigkeit. Dabei lotet er vorzüglich menschliche Verhaltensweisen in Extremsituationen aus, schaut ihnen sozusagen von außen in die Seele. „Er staunte über die Vielfalt des Lebens und über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber den Umständen.“ Die eigene Hilflosigkeit bahnt sich dabei in Form von Hass, Verachtung und Schuldzuweisungen ihren Weg durch die Köpfe der Menschen. Und nicht zuletzt bleibt die bittere Erkenntnis zurück, dass Sorglosigkeit und Abenteuer ganz schnell zu einer Hybris anwachsen können, die unter Berufung auf einen gerechten göttlichen Zorn, die Nemesis, gerächt wird. Dann jedoch hilft auch kein Davonlaufen mehr…
Philip Roth
Nemesis
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Titel der Originalausgabe: Nemesis
Carl Hanser Verlag, München (Februar 2011), 221 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3446236422
ISBN-13: 978-3446236424, Preis: 18,90 EURO
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