Das geteilte Bilderbuch

Wir reden viel über Pisa und Lesekompetenz, kümmern uns aber beschämend wenig um die ersten konkreten Leseanregungen in Form von Büchern. Wäre unser Interesse an dem, was Kinder zuerst zu lesen bekommen, größer, wäre der diskutierenden Feuilleton-Öffentlichkeit längst ein Problem aufgefallen: der gespaltene deutsch-deutsche Bilderbuchmarkt.

Vielleicht ist dem einen oder andern schon aufgefallen, dass die Schaufenster der Buchhandlungen an der Ostseeküste oder im östlichen Berlin im Bilderbuchbereich nur Neudrucke von DDR-Büchern enthalten. Die ostdeutschen Großeltern nötigen ihren Enkeln das auf, was sie als gute DDR-Erinnerung weitertragen möchten: ihre alte, schöne und etwas zu DDR-heile Kinderbuchwelt.
Natürlich gab es im deutschen Teilstaat ein paar wunderschöne, viele ordentliche und wenige kaum erträgliche Bilderbücher. Zu nennen sind ferner tolle Illustratoren wie Klaus Ensikat oder Egbert Herfurth, Künstler die heute zu Recht als Teil der deutschen Kinderbuchkultur gesamtdeutsch gefragt sind.

Während heute viele deutsche Erwachsene den Erstlesebüchern eher gleichgültig gegenüberstehen, kümmerte man sich in der DDR sehr intensiv um das, was Kinder lesen, sehen oder als Hörspiel hören sollten. So sehr, dass ein paar Manuskripte gar nicht zum Buch reifen durften: aus diffusen, aber immer auch politischen Gründen. Das berühmte Löwen-Kinderbuch von Reiner Kunze durfte nie erscheinen, auch der in der DDR viel verlegte Peter Hacks konnte sein aus meiner Sicht schönstes Bilderbuch nie in der DDR veröffentlichen: Der Bär auf dem Försterball.

Nein, dieser Titel befand sich nicht unter den Buchstapeln im letzten Weihnachtsgeschäft, das im Bilderbuchbereich im Osten zu 95 Prozent durch DDR-Nachdrucke bestimmt wurde. Kleine Kinder wollen Bücher vorgelesen bekommen – da können Eltern und Großeltern ihre eigene Nostalgie voll ausleben. Widerspruch setzt erst später ein, der Erfolg von den DDR-Jugendhelden wie Ottoka Domma oder Alfons Zitterbacke bleibt jedoch beschränkt. Die heranwachsenden Enkel lesen auf einmal Pferdebücher oder Gruselgeschichten, Krimis oder Cornelia Funke, vom Welt-Phänomen Harry Potter ganz zu schweigen. Der zunächst strikt getrennte Bilderbuchmarkt fließt bei älteren Kindern dann zu einem gesamtdeutschen zusammen. Aber entscheidend bleibt, was zuvor passiert ist.

Was stört ältere Ossis an den westdeutschen Bilderbüchern? Sie seien zu grell, hätten eklige Farben, außerdem zu teuer, zu unbekannt, zu elitär – einfach zu westlich. Da greift man lieber zum ordentlich bebilderten und nicht provozierenden „Hirsch Heinrich“ – der in die Ferne auszieht. Und sich umso schlechter fühlt, je weiter er sich von der Heimat entfernt. Aber keine Angst, er kommt zurück und alles wird wieder gut.

Nein, man muss die nette Geschichte nicht so DDRig interpretieren wie man sie deuten könnte. Es geht gar nicht um das einzelne Buch, sondern die Summe der zu braven, altmodischen, betulichen Titel. Gerade die Illustrationen wirken zum Teil sehr abgestanden. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass Westeltern ebenso gern ihre Lieblingsbücher den Kindern weitervermitteln. Das ist völlig richtig, der Mix aus Tradition und Neuem macht es. Manche DDR-Bücher könnten daher durchaus von dem einen oder anderen Westleser entdeckt werden – aber nicht als Teil der besseren Kinderbuch-Staatsliteratur, sondern als künstlerische Ergebnisse der Arbeit einzelner.

Tatsache bleibt, dass ostdeutsche Eltern und Großeltern ihren Kindern den Zugang zu interessanter, aktueller, anregender neuer Literatur, auch übersetzter verbauen. Nur im Bereich der sehr billigen Werke – oft in Begleitung einer Fernsehserie – klappt der Verkauf westlichen Lesematerials.

Als die Mecklenburger Autorin Susanne Beck ihre kritische DDR-Betrachtung als Märchen verarbeitet Kindern vorträgt, sind diese begeistert. Die Lehrer weniger, einen Verlag findet sie auch nicht. Wie auch – gibt es doch in der gesamten Ex-DDR nur drei Verlage, die überregional Kinderbücher verlegen. Und den legendären Kinderbuchverlag Ostberlin, der fleißig die alten Bücher nachdruckt. Er ist längst zum Reprint-Verlag verkümmert, weil die trotzig auf bewährtes setzenden Ostkäufer auch die neuen Bücher ihrer bewährten Autoren ignorieren.

Es gab einmal eine DDR, in der die Menschen nach ungewohnten und selten zu habenden Bilderbüchern aus dem Westen dürsteten. Diese Zeiten sind vorbei. Was das für das innerdeutsche Zusammenfinden bedeutet, müsste viel intensiver beobachtet und diskutiert werden.

Über Rathenow Lutz 17 Artikel
Lutz Rathenow, Schriftsteller, 1952 geboren, Studium der Germanistik/Geschichte. Kurz vor dem Examen 1977 wurde er aus politischen Gründen von der Universität ausgeschlossen. Er ist Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist und Gelegenheitsdramatiker. Rathenow ist Landesbeauftragter der Staatssicherheit in Sachsen.

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