Das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles

Aristoteles stellt in seiner Metaphysik, die er „Erste Philosophie“ nennt, die Frage nach den Anfängen und Ursachen aller Dinge. Stoff oder Material ist für ihn die bloße passive Mög­lich­keit, die Form die Wirklichkeit des Dinges und das Werden des Dinges ist dann die Verwirklichung der im Stoff potentiell exis­tierenden Form. Während bei menschengemachten Dingen die Ursache für die Verwirklichung der Form von außen kommt, liegt diese Ursache bei Lebewesen in diesen selbst. Die Selbstverwirk­lichung der Form nannte Aristoteles „Ente­le­chie“ als etwas, was das „Ziel in sich trägt“. In lebenden Organismen entwickelt die Ente­lechie als formgebendes und zielsetzendes Prinzip das der Art gemäße Wesen.

Aristoteles war nicht nur Philosoph, sondern auch Naturforscher. Seine Natur­erkenntnisse gründete er wesentlich auf die Beobachtung und Erfahrung; so hat er Hunderte von Tierarten be­schrieben und klassifiziert und die Tiere zum Teil auch seziert. Aristoteles war überzeugt, daß der Mensch in der Lage ist, am Leitfaden der von jedermann wahrnehmbaren Erscheinungen den inneren Bau der Natur, der den menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zugänglich ist, zu erkennen. Spekulationen über das Unsichtbare haben sich dem Sichtbaren anzupassen und nicht umgekehrt. Platon und seinen Anhängern wirft er vor, „daß sie die Prinzipien, mit deren Hilfe man die Struktur des Naturgeschehens erkennt, nicht richtig anwenden, sondern alles auf gewisse vorgefaßte Meinungen zurückführen“ [1].

Aristoteles bezeichnet das, was die belebten Wesen im Gegensatz zu den unbelebten Dingen besitzen, als „Seele“. Das Verfahren, das er zur Erfassung der Seele anwendet, besteht darin, von der sichtbaren Wirkung der Seelenfunktion auf deren unsichtbare Ursache zu schließen. Seine Erkenntnisse über das Wesen der belebten Dinge hat Aristoteles in seiner Schrift „Über die Seele“ (De anima) zusammengestellt.

A. Lebensprinzip „Seele“ als Bestandteil eines Weltbildes

Am Anfang seines Buches „De anima“ stellt Aristoteles fest, daß der Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Seele befaßt, ein hoher Rang einzuräumen ist, „denn die Kenntnis von der Seele scheint zum Blick in das gesamte Sein beizutragen, vor allem im Hinblick auf die Natur“ [2]. Aristoteles meint damit, daß die Seelenlehre ein essentieller Bestandteil für ein Weltbild (Blick in das gesamte Sein) ist. Er spricht wohl aus eigener Erfahrung, wenn er sagt, daß es „zum Schwierigsten ge­hört, eine feste Mei­nung über die seeli­schen Vorgänge zu gewin­nen“. „So ist als ers­tes zu be­stimmen, welcher Kategorie die Seele zuzuordnen ist, ist sie ein Ding oder eine Wesenheit, eine Qualität oder eine Quanti­tät … Weiterhin ist zu prüfen, ob sie geteilt oder ungeteilt ist und ob alle Seelen von gleicher Art sind oder nicht“ [3]. Die erste Frage nach der Kategorie wird so beantwortet: Die Seele ist eine Wesenheit als „die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, der pot­entiell Leben be­sitzt“ [4], oder kürzer: Die Seele ist „Prinzip der belebten Wesen“ [5].

B. Unterteilung der Seele nach Funktionen

„Seele besitzen“ ist für Aristoteles nur ein anderer Aus­druck für „leben“. Nun bedeutet aber „Seele besitzen“ nicht das­selbe für eine Pflanze, ein Tier und einen Menschen. Pflanzen scheinen weniger beseelt zu sein als Tiere und jene wiederum weniger als Menschen [6].

Seele ist für Aristoteles kein einheit­lich­es Ganzes; von seinen Vorgängern übernimmt er die Praxis, ver­schiedene Seelenteile zu unterscheiden. Dabei macht er seinen Vorgängern allerdings den Vorwurf der Einseitigkeit bei der Untersuchung der Seele: „Nun ist es so, daß jene, die bisher über die Seele geredet und geforscht haben, nur die menschliche Seele untersucht zu haben scheinen“ [7]. Aristoteles stellt die Frage, in welchem Sinne man von Seelenteilen sprechen soll und von wie vielen. „In gewisser Hinsicht scheint es unendlich viele zu ge­ben, und nicht nur, wie manche meinen, den überlegenden, mut­vollen und begehrenden Teil, oder nach anderen den rationalen und irrationalen Teil“ [8]. Diese beiden Einteilungen der Seelenfunktio­nen, die in der Platonschen Akademie üblich waren, hält der Naturforscher und Empiriker Aristoteles für unzureichend. „Es gibt tatsächlich Teile der Seele, die sich prinzi­piell stärker unterscheiden als die genannten“ [9]. Er nennt dann die drei, sich am stärk­sten unterscheidenden Teile der Seele: den ernährenden Teil, der (außer dem Menschen) auch den Pflanzen und allen Tieren zu­kommt, den wahrnehmenden und empfindenden Teil, der bei den Tieren und beim Men­schen auftritt, und den denkenden Teil, der nur beim Menschen in Erscheinung tritt.

Die drei Seelenteile des Aristoteles werden in der neueren Lite­ratur meis­tens als vegetative oder Vital­seele, empfindende oder sensitive Seele und Ver­nunft- oder Geistseele bezeichnet.

C. Verhältnis zwischen Seele und Körper.

Von besonde­rer Wichtigkeit ist es, wie Aristoteles das Ver­hältnis zwischen der Seele als Lebensprinzip und dem zugrunde­liegenden Körper eines Lebewesens gesehen hat. Am Anfang des zweiten Buches von „De anima“ heißt es dazu: „Die Seele gibt es weder ohne Körper noch ist sie ihrerseits Körper“, und dann: „Sie (die Seele) ist zwar nicht Körper, wohl aber etwas an einem Kör­per, und darum ist sie auch in einem Körper, und zwar in einem Körper von bestimmter Beschaffenheit. Es gilt also nicht die Lehre der Früheren, die sie in einem Körper einfügten ohne genau­er zu bestimmen, in welchen und was für einen“ [10]. Hier wird ganz deutlich herausgestellt, daß einerseits ein grund­sätzlicher Unterschied zwischen Körper und Seele vorhanden ist (Seele ist nicht Körper), als auch andererseits eine unlösbare Gebundenheit der Seele an den Körper existiert (Seele gibt es nicht ohne Kör­per). Die Seele mit ihren drei Bestandteilen ist bei Aristoteles den menschlichen Sinnen und der menschlichen Erfahrung zugänglich und kein übersinnliches oder übernatürliches Phenomen. Die Kritik an seinen Vorgängern präzisiert er an ander­er Stelle: „Jene aber versuchen nur zu sagen, wie die Seele be­schaffen sei; jedoch über den Körper, der sie aufnehmen soll, geben sie keine weiteren Bestimmungen, als ob es möglich wäre, daß (wie die Pythagoreer erzählen) jede beliebige Seele in jeden beliebigen Körper eintre­ten könnte. Vielmehr hat doch jeder Kör­per seine eigene Form und Gestalt. … In Wirklichkeit muß die Seele den Körper haben, den sie braucht“ [11].

D. Verhältnis der Seelenteile zueinander

Im zweiten Buch von „De anima“ weist Aristoteles ausführlich nach, daß die Seelenteile vegetative Seele, sensitive Seele und Geist­seele eine Reihe oder Aufeinanderfolge bilden, und die Teile in dieser Reihe in einem ganz bestimmten Bedingungsverhältnis zuein­ander stehen. „Die Lage bei der Seele und bei den geometrischen Figuren ist eine ganz ähnliche. Immer ist nämlich im nachfolgen­den Glied der Reihe das frühere der Möglichkeit nach mitent­halten, bei den Figuren wie bei den beseelten Wesen: so im Vier­eck das Dreieck, im Wahrnehmungs­ver­mögen das Ernährungsvermögen. Darum muß man dem Einzelnen nachgehen, welches die Seele jedes Einzelnen ist, der Pflanze, des Menschen oder des Tieres. Prüfen wir nun, aus wel­cher Ursache sie derart in einer Reihe stehen. Ohne das Ernährungsvermögen existiert das Wahr­nehmungs­vermögen nicht“. Und weiter heißt es: „Das letzte endlich und nur im Be­sitze der wenigsten ist Über­legung und Vernunft. Und welche nun von den vergänglichen Wesen Überlegung haben, die haben auch alles übri­ge“ [12].

Aristoteles weist hier auf eine Gesetzlichkeit hin, die als das Gesetz der Bedingtheit von unten bezeichnet wurde [13]: die niederen Teile der Seele können ohne die höheren, nicht aber die höheren ohne die niederen existieren. Dieses Gesetz der Bedingt­heit von unten gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen den drei Seelenteilen, sondern auch für das Verhältnis des nie­dersten Seelenteils, der vegetativen Seele (und der Seele überhaupt) zum Körper. Heißt es doch: „Seele gibt es nicht ohne Körper noch ist sie ihrerseits Körper“. Die Seele ist von dem zugrundeliegenden phy­sischen Körper nicht abtrennbar.

Die Seelenlehre impliziert eine zweite Gesetzlichkeit, die der Unab­hängigkeit des höheren Seelenteils vom niederen in seinem Eigen­tümlichen [14]. In jedem höhere Seelenteil tritt ein Novum in Form eines neuen Prinzips hinzu, das in dem niederen Seelenteil noch nicht vor­handen ist, das zwar von den Funktionen des niede­ren Teils abhängt, sich aber aus diesen nicht ableiten läßt. Zum Lebendigsein bedarf es der Funktion der vegetativen Seele (Ernähr­ungs­vermögen), zum Tiersein zusätz­lich der Funktion der sensiti­ven Seele (Wahr­nehmungs­vermö­gen) und zum Menschsein schließlich noch der Funktion der Geist­seele (Ver­mögen der Ver­nunft).

E. Charakterisierung der Seelenteile

1. Vegetative Seele

Aristoteles begnügt sich nicht damit, die drei Teile der Seele hinsichtlich ihres Vermögens zu beschreiben und das Verhältnis der Teile zueinander und zum Körper zu untersuchen, er weist auch darauf hin, daß bei genauerer Charakterisierung der Seelenteile weitere Unterteilungen vorgenommen werden müssen. So unterscheidet er zwei unterschiedliche Leistungen der vegetativen Seele (ernährende Seele): Ernährung und Wachstum einerseits sowie Zeu­gung und Fortpflanzung andererseits. So heißt es: „Also ist zu­erst über Ernährung und Fortpflanzung zu sprechen. Denn die er­nährende Seele findet sich auch bei den anderen und sie ist die erste und allgemeinste Fähigkeit der Seele und Grundlage des Lebens für alle. Ihre Leistungen sind Fortpflanzung und die Nahrung gebrauchen. Denn dies ist die naturgemäßeste Leistung für die Lebewesen … : nämlich ein anderes hervorzubringen wie sie selbst, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie, soweit sie es vermögen, am Ewigen und am Göttlichen teilhaben“ [15]. Und weiter heißt es: „Es (das Lebewesen) dauert nicht als es selbst, sondern wie es selbst, nicht der Zahl, wohl aber der Art nach eines“ [16]. Nicht das einzelne (und vergängliche) Lebewesen wird erhalten, sondern die Art, die für Aristoteles etwas Beständiges ist.

2. Sensitive Seele

Das Novum, welches Tier und Pflanze scheidet, ist das Wahr­nehmungsvermögen der sensitiven Seele bei den Tieren. Aristoteles macht deutlich, daß das Fehlen der Wahrnehmung bei den Pflanzen nicht in erster Linie durch das Fehlen von Sinnesorganen (Organe für das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Tasten) bedingt ist, sondern durch das Fehlen eines „Mittleren“. „Ebenso wird klar, weshalb die Pflanzen nicht wahrnehmen, obschon sie eine Teilseele besit­zen … Ursache ist, daß sie kein Mittleres haben und kein Prinzip, das fähig ist, die Formen der Wahrnehmungs­gegenstände aufzunehmen“ [17]. Mit dem „Mittleren“ meint Aristoteles nicht bloß ein körperliches Zentrum, sondern ein seeli­sches. Dieses Zentrum, welches die Formen der Wahrnehmungs­gegenstände aufzu­nehmen vermag, würden wir heute als „Zentralnervensystem“ bezeichnen. Von einem menschlicher Erfahrung zugänglichen Phänomen, das nämlich Tiere im Gegensatz zu Pflanzen die Fähigkeit haben, „die Formen der Wahrnehmungsgegen­stände aufzunehmen“, schließt Aristoteles auf ein bei Tieren vor­handenes und als sensitive Seele bezeichnetes unsichtbares Prinzip.

3. Geistseele

Das, was den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeich­net, ist nach Aristoteles die Geistseele. Der Geist, von dem diese Seele ihren Namen hat, wird von dem Philosophen in zwei Kategorien unterteilt. „Es gibt also Geist von solcher Art, daß er alles wird, und wiederum einen von solcher, daß er alles be­wirkt als ein besonde­res Verhalten, wie etwa das Licht. Denn auf eine gewisse Weise macht auch das Licht die der Möglichkeit nach vorhandenen Farben zu wirklichen Farben. Dies ist der abgetrennte Geist, der lei­denslos ist und unvermischt und seinem Wesen nach Wirklichkeit“… „Aber erst, wenn er (der Geist) abgetrennt ist, ist er das, was er wirklich ist, und nur dieses ist unsterblich und ewig. Wir erinnern uns aber nicht daran; denn der eine Teil ist wohl lei­denslos, der leidensfähige Geist aber ist vergäng­lich, und ohne diesen gibt es kein Denken“ [18]. Und an anderer Stelle wird gesagt, „daß der (leidensfähige) Geist der Mög­lichkeit nach die denkbaren Dinge sei, aber der Wirklichkeit nach keines, bevor er denkt. Dies muß so sein wie auf einer Schreib­tafel, auf der faktisch noch nichts geschrieben ist. Das­selbe gilt für den Geist“ [19].

Aristoteles läßt sich dahingehend verstehen, daß der leidensfähige Geist mit der Geistseele gleichzusetzen ist, denn die Geistseele ist, wie die anderen Seelenteile auch, an den Körper gebunden und damit vergänglich. Bevor der (neugeborene) Mensch mit dem Denken beginnt, ist die Geistseele leer – wie eine unbeschriebene Schreibtafel. Die Geistseele wird deshalb denkend und vernünftig, weil in sie „von außen“ der (abgetrennte) Geist „einbricht“ [20]. Die Geistseele und der abgetrennte Geist ist für Aristoteles das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Dieser Unterschied wird in der folgenden Stelle konkretisiert: „Nun ist der Mensch unter allen tierischen Wesen allein im Besitz der Sprache, während die Stimme, das Organ für Äußerungen von Lust und Unlust, auch den Tieren eigen ist“ [21].

Mit dem „abgetrennten Geist“ meint Aristoteles offen­sichtlich die durch Sprache und (im späteren Verlauf der Mensch­heitsgeschichte) durch Schrift überlieferte Erkenntnis der Vor­fahren und Mitmenschen. Die überlieferte Erkenntnis ist vom Körper des Einzelmenschen trennbar (und daher leidenslos und ewig), und ohne Einwirkung dieser Erkenntnis kann sich die Geistseele des werdenden Menschen nicht entwickeln.

Aristoteles besaß ein fundiertes Wissen über die Ontogenese, über die Keimesentwicklung bis zum vernunftbegabten Menschen, das in Anbetracht des zeitgenössischen Streites, wann der Mensch zum Menschen wird, geradezu sensationell anmutet. Im zweiten Buch über die Zeugung und Entwicklung der Tiere geht er ausführlich auf die Entstehung der verschiedenen Seelenvermögen bis zum Tierwerden bzw. Menschwerden ein [22]. Es heißt dort: „Die Samen und Keime der Tiere (und Menschen) leben ebenso gut wie diejenigen der Pflanzen und sind bis zu einer gewissen Zeit entwicklungsfähig. Daß sie also die Ernährungsseele haben, ist klar; … aber im weiteren Verlauf müssen sie auch die Empfindungsseele bekommen, kraft deren sie Tiere sind. … Denn das Ziel und die Vollendung geschieht zuletzt … Es ist eine sehr wichtige Frage, um deren Beantwortung man sich nach Kräften bemühen muß, wann, wie und woher diejenigen Geschöpfe das Denkvermögen erhalten, die mit dieser Kraft begabt sind. … Anfangs scheinen alle Föten eine Art Pflanzenleben zu führen; erst in der Folge ist bei ihnen von der Empfindungs- und Denkseele zu sprechen. Denn sie müssen sie sämtlich der Anlage nach vorher besitzen, ehe sie sie der Wirklichkeit nach haben“. Aristoteles überlegt dann, welche Seelenteile in dem sich entwickelnden Menschen vorhanden sind und welche erst von außen hineinkommen. Er stellt fest, daß die ernährende und die empfindende Seele, die beide körperlicher Organe bedürfen, nicht von außen hereinkommen. Über die Denkseele äußert er sich an dieser Stelle nicht, er sagt jedoch, „daß das Denkvermögen, der Verstand, allein von außen hereinkommt und allein göttlich ist“.

Zusammen mit dem in „De anima“ Gesagten ergibt sich das folgende Bild für die Ent­wick­lung vom menschlichen Keim zum Menschen: Die Er­nährungsseele ist im Keim von Anfang an vorhanden, im weiteren Verlauf der Entwicklung kommt die bereits vorher angelegte Empfindungsseele zur Wirksamkeit. Die Denk- oder Geistseele (der „leidende“ Geist) ist zunächst nur potentiell vorhanden (Vergleich mit der unbeschriebenen Schreibtafel bzw. der Farbe, die ohne das Licht nicht zur Wirkung gelangt) und wird erst durch den von außen hereinkom­menden „abgetrennten“ Geist zur Wirklich­keit. Der letzte Schritt zur Mensch­werdung kann sich somit erst nach der Geburt vollziehen.

F. Die für die Körper geltenden Prinzipien

Aristoteles hat in seiner Seelenlehre die Prinzipien untersucht, die den Körper eines Lebewesens zum eigentlichen Lebewesen machen. Der Körper ist der Stoff, der durch die als vegetativen Seele, sensitive Seele bzw. Geistseele bezeichneten Prinzipien seine Form als Pflanze, Tier bzw. Mensch erhält. Über die Prinzipien, die für die Körper im allgemeinen gelten, gleichgültig, ob es sich um Körper von Lebewesen oder um leblose Dingen handelt, hat sich Aristoteles in seiner Seelenlehre nicht geäußert, dazu muß man seine Physik und seine Metaphysik zu Rate ziehen. Am Anfang seiner Physik sagt Aristoteles, wann ein Ding als erkannt gelten kann: dann nämlich, „wenn wir die letzten Gründe und seine letzten Prinzipien und wenn wir es bis in seine Elemente hinein erfaßt haben“ [23].

Alle Körper sind nach Aristoteles aus Elementen zusammengesetzt, die er auch als einfache Körper bezeichnet; „Diejenigen, die von den Elementen der Körper sprechen, meinen dasjenige, wohin sich als letztes die Körper zerlegen“ [24]. In Weiterentwicklung alter Vorstellungen trennte er die himmlische Welt, die vom Fixsternhimmel bis herab zum Mond reicht, von der irdischen Welt. Für die irdische Welt übernimmt Aristoteles die klassische, auf Empedokles zurück­gehende Elementenlehre [25], danach bestehen die zusammengesetzten irdischen Körper aus Wasser, Erde, Feuer und Luft [26], [27]. Die „Welt über dem Monde“ ist aus einem eigenen Element aufgebaut, das Aristoteles Äther nennt [28] und das später als fünftes Element (lat. quinta essentia, Quintessenz) bezeichnet wird.

Als Beispiel für einen zusammengesetzten Körper nennt Aristoteles das Fleisch, das sich aus den Elementen Feuer und Erde zusammensetzt; allerdings ist diese Zusammensetzung keine einfache Mischung „wie ein Haufen“, sondern wird mit der Zusammensetzung einer Silbe verglichen: „Es ist die Silbe etwas, nicht nur Buchstaben, Vokale und Konsonanten, sondern noch etwas davon Verschiedenes, und ebenso ist das Fleisch nicht nur Feuer und Erde oder Warmes und Kaltes, sondern auch noch etwas davon Verschiedenes“ [29].

In seinem Beispiel für den zusammengesetzten Körper „Fleisch“ nennt Aristoteles nicht nur die Elemente „Feuer und Erde“, aus denen das Zusammengesetzte besteht, sondern auch den Gegensatz „Warmes und Kaltes“ als wirkendes Agens. Was er unter diesen Agens versteht, geht aus den folgenden Stellen hervor: „Die Prinzipien treten notwendig als Gegensatzpaare auf“ [30] und „Daß das Seiende und das Wesen aus Gegenteilen zusammengesetzt werden, nehmen fast alle einhellig an; alle setzen Gegenteile als Prinzipien an: die einen nämlich das Ungerade und Gerade, die anderen das Warme und Kalte …“ [31]. Die Fundamental­gegen­sätze Warm-Kalt und Flüssig-Trocken werden von Aristoteles als Prinzipien betrachtet, denen alle Körper unterworfen sind [32]. Diese Fundamentalgegensätze haben daher für die antike Philosophie eine Bedeutung, die derjenigen vergleichbar ist, welche die für die Materie geltenden Gesetze der Physik für die heutige Naturwissenschaft haben.

Alles Wirkliche ist für Aristoteles geformter Stoff, dies gilt somit auch für die leblosen Körper und, wie wir heute sagen würden, für die Materie: „Die sinnlich erfaßbaren Wesen aber verfügen alle über Stoff“ [33]. Es muß daher einen „ersten Stoff“ oder Urstoff geben, der völlig ungeformt ist: „Wenn es aber ein Erstes gibt, das nicht mehr nach einem anderen als >>von diesen her­rührendDem ungeformten, ersten Stoff, der gewissermaßen unterhalb der Wirklichkeit steht, stellt Aristoteles auf der anderen Seite die reine Form gegenüber, die keines Stoffes bedarf und die er das „erste“ oder „unbewegliche Bewegende“ nennt [36]. Die stofflose, reine Form steht oberhalb der Wirklichkeit und ist ebenso wie der ungeformte, erste Stoff als etwas nur Gedachtes den Sinnen nicht zugänglich. Die reine Form ist der Gott der Philosophen.

G. Die vier Seinsbereiche des aristotelischen Weltbildes

Grundlage für das Verständnis des ganzheitlichen aristotelischen Weltbildes ist die Erkenntnis, daß das Stoff-Form-Verhältnis Aufstufungscharakter besitzt: Geformtes kann seinerseits wieder Stoff für einere höhere Formung sein. Mit Hilfe der Seelenlehre, der Ur­sachenlehre und des Begriffs des „Urstoffes“ als des absolut Ungeformten gelangt man zu einer Stufenleiter der Natur, die aus vier Stufen besteht:

Der „Urstoff“ ist als Ungeformtes nur der Möglichkeit nach Körper (Materie), damit er der Wirklichkeit nach Körper ist, muß ein Prinzip (Materieprinzip) wirksam werden, das dem Urstoff eine Form verleiht. Aristoteles verstand unter diesem (Materie)Prinzip die Fundamentalgegensätze Warm-Kalt und Trocken-Flüssig, nach heutigem Erkenntnisstand besteht das Materieprinzip aus den Gesetzen der Physik. Das Körperlich-Materielle ist die erste Stufe der Stufenleiter der Natur.

Ein Körper (Materieanhäufung) ist nur der Möglichkeit nach ein Lebewesen, damit er der Wirklichkeit nach ein Lebewesen ist, muß ein zweites Prinzip, die vegetative Seele, wirk­sam werden, das den Körper (die Materie) überformt. Das Vegetative stellt somit die zweite Stufe der Leiter dar.

Ein vegetatives Wesen ist nur der Möglichkeit nach ein empfindendes Wesen, damit es wirk­lich ein solches ist, muß ein drittes Prinzip, die sensitive Seele, wirksam werden, das die vegetativen Phänomene überformt. Das Sensitive ist die dritte Stufe der Leiter.

Ein empfindendes Wesen ist nur der Möglichkeit nach ein denkendes Wesen, damit es der Wirklichkeit nach ein solches ist, muß ein viertes Prinzip, die Geistseele, wirksam werden, das die Phäno­mene des Wahrnehmens und Empfindens überformt. Die Geistseele ist zunächst leer; damit sie mit dem Denken beginnen kann, muß der „abgetrennte Geist“ in sie „einbrechen“. Das Geistige ist die vierte und letzte Stufe des Stufenbaus der Natur.

Die von Aristoteles postulierten vier in der Natur obwaltenden Prinzipien (Materieprinzip, vegetative Seele, empfindende Seele, Geistseele) sind die Ursache für die vier Bereiche der Wirklichkeit (Materielles, Vegetatives, Sensitives, Geistiges) und die vier in der Natur vorkommenden Wesenheiten (lebloses Ding, Pflanze, Tier, Mensch).

H. Einwände gegen das Weltbild des Aristoteles

Soweit die moderne Naturwissenschaft überhaupt vom Weltbild des Aristoteles Kenntnis genommen hat, wurden bisher zwei Haupteinwände gegen dieses Weltbild ins Feld geführt, der eine Einwand kam von seiten der Physik, der andere von seiten der Evolutionsbiologie.

Seit Bacon und Descartes, den Vordenkern der modernen wissen­schaftlichen Metho­de, wird Aristoteles der Vorwurf gemacht, sein Weltbild sei spe­kulativ. Aristoteles war als Naturforscher in erster Linie Bio­loge und weniger Physi­ker. Er hat versucht, seine an Lebewesen erworbenen Vorstellungen von einem zielgerich­teten (teleolo­gischen) Verhal­ten auch auf physikalische und kos­molo­gi­sche Phä­nomene zu über­tragen und sich hier mit Recht dem Vorwurf der Speku­lation ausge­setzt [37]. Die Kritiker von Aristo­teles übersehen allerdings, daß beim Aufbau eines Weltbildes zunächst die Er­kenntnis wesentlich ist, ob und wieviele Teilwirk­lichkeiten existieren (dies ist ein Problem der Philosophie), und daß die genaue Beschreibung der Teilwirk­lichkeiten (dies ist ein Problem der Ein­zelwissenschaften) demgegenüber eine sekundäre Rolle spielt. Die moderne Naturwissenschaft ist ein eklatantes Beispiel dafür, daß die exakte Beschreibung einer Teilwirk­lichkeit (der materiellen) bei gleichzeitiger Negierung der übrigen Teilwirklich­keiten zwangs­läufig zu einem falschen Welt­bild führt.

Der zweite Vorwurf, der Aristoteles gemacht wird: Sein Welt­bild sei statisch und enthalte nicht den Gedanken der Evolution. Aristoteles fand als Natur­forscher überall gegeneinander abge­grenzte und unver­änderliche Arten von Lebe­wesen vor und die Aus­rottung ganzer Arten durch den Menschen gab es damals noch nicht; für ihn war die Art „ewig“. Aristoteles scheint ein Beleg dafür zu sein, daß es zur Schaffung eines Welt­bildes in erster Linie auf die Er­fassung des „Seins“, nicht des „Werdens“ ankommt. Aris­toteles ist es gelun­gen, mit seinem Seele-Prinzip das, was „Leben“ ist, zu defi­nieren, ohne das Phänomen der Evolution zu kennen. Dagegen scheint es für den modernen Evolutionsbio­logen unmöglich zu sein, eine prägnante Definition für „Evolution“ zu geben, ohne eine Definition von „Leben“ zur Verfügung zu haben[38].

Daß sich im Weltbild des Aristoteles sehr wohl der Gedanke der Entwicklung findet, zeigen seine Überlegungen zum Werden eines Menschen vom Keim bis zum vernunftbegabten Wesen [22]. Die bis heute kontrovers diskutierte Frage, wann ein Mensch zum Menschen wird, kann gar nicht vernünftig beantwortet werden ohne Berücksichtigung der Lehre des Aristoteles von der dreigeteilten Seele und ohne seiner Forderung zu entsprechen, bei einem Entwicklungsprozeß strickt zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden. Als Möglichkeit läßt das aristotelische Weltbild sogar den Gedanken der Evolution zu, wenn man sein Postulat, „daß es Prinzipien und Ursachen gibt, die entstehen können und vergänglich sind“ [39], auf die von ihm charakterisierten Prinzipien für das Lebendige (vegetative Seele, sensitive Seele, Geistseele) bezieht.

I .Anmerkungen

Verwendete Abkürzungen von Aristoteles’ Werken:

De an.: De anima (Die Zitate sind der Übersetzung von O. Grigon, „Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst“ (Zürich 1950) entnommen.)

Hist. an.: Historia animalium

De gen. an.: De generatione animalium

De re publ.: De re publica

Phys.: Physica

De gen. et corr.: De generatione et corruptione

[1] De caelo III 7, 306a.

[2] De an. I 1, 402 a.

[3] De an. I 1, 402 a – 402 b.

[4] De an. II 1, 412 a.

[5] De an. I 1, 402 a.

[6] Hist. an. VIII 1, 588a – 589a.

[7] De an. I 1, 402 b.

[8] De an. III 9, 432 a.

[9] De an. III 9, 432 a.

[10] De an. II 2, 414 a.

[11] De an. I 3, 407 b.

[12] De an. II 3, 414 b – 415 a.

[13]Hartmann, N: Die Anfänge des Schichtungsgedankens in der Alten Philosophie. Abh. Preuß. Akad. Wiss. Jg. 1943. Berlin. S.24.

[14] Ebd. S. 26.

[15] De an. II 4, 415 a – 415 b.

[16] De an. II 4, 415 b.

[17] De an. II 12, 424 a – 424 b.

[18] De an. III 5, 430 a.

[19] De an. III 4, 429 b.

[20] De gen. an. II 33 – 36, 736a,b.

[21] De re publ. I 1, 2, 1252a – 1253a.

[22] De gen. an. II c. 33-36, 736a,b.

[23] Phys. I 1, 184a.

[24] Met. D 3, 1014a.

[25] Met. A 7, 988a.

[26] Met. B 5, 1002a.

[27] Met. H 1, 1042a.

[28] De caelo I 3, 270b.

[29] Met. Z 17, 1041b.

[30] Phys. I 5, 189a.

[31] Met. G 2, 1004b.

[32] De gen. an. II 3, 330b.

[33] Met. H 1, 1042a.

[34] Met. Q 7, 1049a.

[35] De gen. et corr. II 3, 330b.

[36] Met. L 6, 1073a.

[37]Mayr, E.: Die Entwicklung der biologischen Gedanken­welt. Berlin 1984. S. 74.

[38] Ebd. S. 319.

[39] Met. E 3, 1027a.

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