Nur 37, auf den ersten Blick beinahe unspektakulär zu nennende Gemälde hat der niederländische Maler Jan Vermeer hinterlassen. Sie zeigen Szenen aus dem bürgerlichen Alltag, oft einzelne Figuren in geschlossenen Räumen mit schmucklosen Wänden, in die aus einem seitlichen Fenster Tageslicht fällt. Doch sie gehören, wie das berühmte „Mädchen mit dem Perlenohrring“, zum Besten, was die goldene Zeit der niederländischen Malerei hervorgebracht hat. Vor allem seine späten Arbeiten verbildlichen immer wieder einen zeitlichen Moment der Störung innerhalb der dargestellten Situation. Sie sind nahezu aufgeladen mit einer akuten, anhaltenden Verunsicherung – damit einhergehend aber auch einer völlig neuartigen Aktivierung des Betrachters.
Joel Haahtela, den 1972 geborenen finnischen Schriftsteller und Psychiater, könnte man den skandinavischen Vermeer der Literatur nennen. Nicht unbedingt daher, dass einige Bilder des niederländischen Meisters in die Handlung seines neuen Romans eingebunden sind, sondern vor allem wegen seines Duktus. All seine Bücher – drei sind bis dato auf Deutsch erschienen – durchwabern leise, subtile und mäandernde Töne und ein bestimmendes Thema: „Unter der Oberfläche liegt Verborgenes oder: Auf den Spuren menschlicher Geheimnisse“. Dieses Mal zieht eine Frau, die auf ihren hohen Absätzen durch den stürmischen Oktoberregen der finnischen Hauptstadt trippelt, die Aufmerksamkeit seines namenlosen Ich-Erzählers auf sich. Als eine Windböe ihren Schirm davonträgt, kommen die beiden ins Gespräch. Die Pariserin Magda Roux ist auf der Suche nach ihrem Exmann Paul, mit dem sie immer noch losen Kontakt pflegt. Doch seit einem halben Jahr hat sie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Einzig eine Postkarte ist ihr Anhaltspunkt, die auf seinen Aufenthalt in Helsinki hinweist. Der junge Mann bietet Magda seine Hilfe bei der Suche an, gerät allerdings zunehmend selbst in eine beinahe fieberhafte Abhängigkeit bei der Aufdeckung allerlei hermetischer Verbindungen. Und so wie Magda bald darauf spurlos im Nichts verschwindet, taucht eine andere Frau vor ihm auf: die 2004 in der finnische Hafenstadt Kotka auf mysteriöse Weise umgekommene Schriftstellerin Raija Siekkinen. Mit dem Eintauchen in das Leben und Werk dieser Autorin („Mit jedem Tag sank ich tiefer in die Welt des Buches, die mich selbst dann nicht losließ, wenn ich ihr entfliehen wollte. Sie bestimme alles um mich herum.“) manifestiert sich zugleich ein vages Bild von der zerbrochenen Ehe des Erzählers.
„Die Verschwundenen von Helsinki“ offenbart erneut das für Haahtela so typische Bloßlegen menschlicher Geheimnisse in immer kleinere Teile, bei denen „doch so vieles verborgen blieb; immer noch gab es Stellen, bis zu denen sein Blick nicht reichte.“ Dabei verzweigt sich seine Erzählung in immer neue Richtungen und man kann nie sicher sein, welchem der vielen Pfade der Protagonist folgt. Der finnische Autor ist ein Magier des Auslebens von Gleichzeitigkeit, „hier am Fenster und dort im Nebenraum, oder eben zwischen zwei Menschen, die ohne voneinander zu wissen zur gleichen Zeit lebten.“ Der Leser fungiert dabei als „Pförtner zwischen zwei Welten, und der eigentliche Zweck seiner Tätigkeit lag wahrscheinlich darin, Zweifel zu wecken“. Dabei schwingt in seinem Buch immer etwas Schweres mit, das sich nicht sofort erschließt; „wie bei einem Spätsommerspaziergang am Strand, wenn im Wasser Fichtennadeln schwammen, die Oberfläche ganz glatt und der Herbst zu spüren war, auch wenn es keinerlei Anzeichen dafür gab, noch hatte sich nichts verändert“ oder „als gäbe es einen unendliche Raum, der immer wieder durchquert werden müsste, ein sonderbar hallender Raum“.
Joel Haahtela hat einen psychologisch eindrucksvollen und sensitiven Roman über die Geheimnisse des menschlichen Lebens geschrieben, der gleichzeitig eine Suche nach sich selbst, „nach der eigenen, einsam hallenden Stimme“ ist. Das menschliche Interesse am Einzelnen steht bei ihm ganz klar im Vordergrund. Der finnische Autor ist ein ausgezeichneter Beobachter, der sehr feinfühlige Charakterstudien zeichnet. In Sandra Doyen hat er eine sensible Übersetzerin gefunden, die die geheimnisvolle Aura, des „sich langsam im Nebelschleier hüllenden Horizonts“ großartig wiederzugeben vermag. Letztendlich wirken sein Zeilen wie Jan Vermeers Pinselstriche: auf den ersten Blick eine beinahe unspektakuläre, diffuse Handlung, die jedoch durch gespickte Momente der Störung belebt wird. Und manchmal, „wenn die Bedingungen stimmten und die Zahnräder sich zum exakt richtigen Moment ineinanderlegten, konnte man beinahe alles sehen.“
Fazit: Joel Haahtela, dessen Romane bereits mehrmals für Literaturpreise nominiert wurden, vermag auf großartige Weise, in leisen Tönen, beinahe wie die sphärische Musik seines Landsmannes Sibelius, den Romanfiguren unerwartet eine neue, unvorhergesehene Richtung zu verleihen. Sein Buch handelt vom Suchen und Finden, vom Vergessen und Erinnern, von Zielen im Leben und von Gelegenheiten, die es zu ergreifen gilt. Ein Text, der sich zugleich vorwärts und rückwärts durch die Zeit bewegt.
Wunderbare Literatur aus Finnland, die es unbedingt zu entdecken gilt.
Joel Haahtela
Die Verschwundenen von Helsinki
Aus dem Finnischen von Sandra Doyen
Titel der Originalausgabe: Katoamispiste
Berlin Verlag (März 2013)
125 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3827011396
ISBN-13: 978-3827011398
Preis: 15,99 EUR
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.