„Das Ende der Kritik“ von Ulrich Schödlbauer/Joachim Vahland, De Gruyter Verlag, Berlin 1997, Reprint 2018 109,- EUR
Der Berliner De Gruyter Verlag überraschte Anfang des Jahres mit dem Reprint eines Buches von 1997. „Das Ende der Kritik“ von Ulrich Schödlbauer, einem klugen Beobachter gesellschaftlicher Ermüdungsprozesse, die er aus seiner Sicht als „Ende der Kritik“ beschreibt.
Was bewegt einen Verlag, ein Buch nach über 20 Jahren erneut und zu keinem Massenwarenpreis zu veröffentlichen? Um dem Verfasser einen Gefallen zu tun? Sicher nicht. Zumal der Verfasser vom Reprint erst nach der Veröffentlichung erfuhr. Um Geld zu machen? Das sicherlich ebenfalls nicht. Ist der Titel auch eingängig und appetitanregend, der intellektuell anspruchsvolle wie wuchtige Text macht Arbeit. Der Markt dagegen bedient Schnellleser und füttert mit kurzen Parolen an.
„Das Ende der Kritik“ ist in dieser Hinsicht nicht wirklich marktkonform. Womit ich nun ebenfalls in den Bereich Kritik bzw. deren Ende eintauche. Schödlbauers Buch muss etwas anderes an sich haben, was den Verlag die Kosten eines Reprints mit ungewissen Marktchancen auf sich nehmen lässt. Ich gehe auf Spurensuche und lasse vorweg den Autor zu Wort kommen:
„Das Buch analysiert das Ende des kritischen Intellektuellen. „Ende der Kritik“ besagt zweierlei: erstens die im vergangenen Jahrzehnt [gemeint ist die Dekade vor 1997/ GW] offenkundig gewordene Erschöpfung linker wie rechter Gesellschafts- resp. Kulturkritik, zweitens – grundsätzlicher – das End- und Spielstadium des sich als Selbstaufklärung der Moderne, als Aufklärung in zweiter Potenz verstehenden Intellektualismus des 20. Jahrhunderts. Die Polemik dieses Buches verschmäht die Topoi der politisch-moralischen Intellektuellenschelte. Sie zielt auf das begrifflich-analytische Besteck, das in den Auseinandersetzungen der Intellektuellen zum Einsatz gelangte. Die Waffen sind stumpf geworden: hier liegt der entscheidende Grund für die Entkräftung intellektueller Kritik.“ (Text auf der Amazon-Seite des Buches).
Das ist ja ein Ding! Schödlbauer urteilt über einen aus seiner Sicht ermatteten und hohlen gesellschaftlichen Diskurs in den doch noch spannenden Jahren nach der friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit. Mit welchen Worten würde er heute das „Ende der Kritik“ schreiben? Heute sind seine 97er Wertungen längst Geschichte und doch frappierend aktuell. Aktueller denn je! Der Mehltau erlahmter Diskursbereitschaft von vor über 20 Jahren ist inzwischen zu einem dicken, gewalttätigen und repressiven Ungeheuer mutiert. Dieser Mehltau meint „gut“ zu sein und lässt eine offene, allgemeine, gesellschaftliche Diskussion scheinbar überhaupt nicht mehr zu. Warnte Schödlbauer 1997 vor einem Kollaps offener Diskussion, die die Grundlage jeder offenen Gesellschaft sein muss, so schimmert heutigentags ein intellektuelles Leichentuch zwischen der sogenannten Mainstreamdiskussion und den Internetblogs. In den Mainstream-Medien sitzt eine große Mehrheit vermeintlich progressiver Schriftführer und Anleiter, in den Internetblogs „The European“, „Achse des Guten“, Tichys‘ Einblick“, „Globkult“, „Salonkolumnisten“, „Ruhrbarone“ u.v.m. wird intellektuell frei von Selbstzensur geschrieben, was vor Jahren in den Mainstream-Medien noch Teil des Diskurses war. Am verschlimmbessertsten schießen inzwischen ARD und ZDF den Erziehungs- und Selbstzensurvogel ab. 1997 war Schödlbauer wenig optimistisch. Was würde heute in seinem Buch stehen?
Würde er heute den Leipziger Hans Mayer überhaupt noch erwähnen? Auf Seite 159 wirft Schödlbauer eine Episode Mayers und Grotewohls an die Nebelwand bleierner Zeiten. Geschicktes Agieren, gut berechnetes opportunistisches Ducken, Wegducken, Katzbuckeln gehörten zum Überlebensinstrumentarium im Umgang mit den marxistisch-leninistischen Siegern der Geschichte. Eitle Menschen müssen die Instrumente noch besser beherrschen. Wollen sie später unter anderen Vorzeichen doch erst recht unbefleckte Autoritäten im Denkmalhimmel sein. Für die Zeitgenossen hatte Hans Mayer das ebenso geschafft wie für halbinformierte Spätgeborene. Das Katz-und-Maus-Spiel Mayers mit Grotewohl (oder Grotewohls mit Mayer?) – obwohl in einer selbsternannten Diktatur abgelaufen – offenbart beklemmend, was uns heute in Abwesenheit einer Diktatur täglich widerfährt.
Die Episode: „… Worin, so wäre zu fragen, bestände in diesem Milieu die Rolle des notorisch Nichtteilnehmenden, der Kunstfigur H. M.? Weiß er sich, als Unbeteiligter, von den ‚Widersprüchen‘ des Johannes R. Becher frei? Wovon frei? Von Zuversicht? Von Verzweiflung? Oder erschiene er hier, nach erneuter Selbstprüfung, am Ende nicht ganz frei so unteilnehmend wie in den vor der ‚Wende‘ gehaltenen Politikvorlesungen?
Die Antwort sollte niemandem leichtfallen. Schließlich geht es um die linke Innenansicht dessen, was Julien Benda in Frankreich schon früh den ‚Verrat‘ der clercs, der öffentlichen Vordenker, nannte. Oder auch nicht: Es geht um die Deutung, die das Geschehen Jahrzehnte später im Rückblick auf diesen hoffnungslos versandeten und schließlich stillgelegten Zweig der ‚Geschichte‘ einem entlockt, der dabei gewesen ist und – wenngleich gelegentlich an privaten Fronten – tapfer mitgefochten hat. Als Otto Grotewohl Mayer als „eine[n] der Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / VVN zu einem Gespräch über Personalfragen des kulturellen Lebens nach Berlin bittet“, da reagiert dieser, wie es dem ‚Amtsträger‘ ansteht: „Grotewohl wünschte das Gespräch, um einen offiziellen Widerspruch der Naziopfer gegen seine Berufungspläne zu vermeiden. Bei der wichtigsten Berufung, die dann erfolgte, hat er richtig gehandelt. Seine Argumentation hatte mich überzeugt“.
Man hätte das gerne ausführlicher erfahren: Welche Berufungen standen an, welche Argumentation hatte überzeugt? Der Erzähler hüllt sich in Schweigen; erklärlich, denn er weiß, dass Personalia mit Diskretion zu behandeln sind. Ein Amtsinhaber hat sich überzeugen lassen, ein Amtsinhaber hat zugestimmt. Eine Lappalie? Vielleicht. Aber die ‚Linie‘ setzt sich fort. … Ob ich bereit sei, ihn bei der Vorbereitung seiner Rede zu beraten? Auch das war ‚meines Amtes‘, und ich sagte zu.
Aber gewiß, gewiß: wer hätte sich da etwas vorzuwerfen? Und doch ist der gepreßte Ton einer Selbstrechtfertigung kaum zu überhören, die bei Nebenumständen verweilt, antifaschistische Reminiszenzen bemüht, um unvermutet mit der Beschwörung von Loyalitäten zu enden. Etwas… ist dem Autor peinlich bei der Erinnerung an solche Szenen, die ihn als Beteiligten vorführen, so wie es seines ‚Amtes‘ war. Das ‚Amt‘ salviert den Intellektuellen wie nur irgendeinen der ins ‚Projekt‘ Verstrickten. Mehr noch, es gibt ihm die Fasson, die es ihm als Intellektuellen erlaubt, sich im Nachhinein aus der Situation zu entfernen, als habe sie nie für ihn bestanden. …“
Warum fällt mir Ende Mai 2018 ausgerechnet die Episode Mayers und Grotewohls, die ja eher eine Offenlegung Mayers zu sein scheint, in Schödlbauers Buch so ins Auge? Vor wenigen Wochen wurde Uwe Tellkamp dem Mainstream-Verdikt unterworfen. In einem Dresdner Streitgespräch kritisierte er Frau Merkels bedenkenlose Zuwanderungspolitik. Ohne in seinen Gesprächsvorbereitungen an die allumfassende Kritikmaschinerie des DANACH zu denken. Warum auch? Tellkamp lebt in einer Demokratie, die er immer als offene Gesellschaft schätzte. Die Gedanken sind frei, man muss und soll sie frei diskutieren.
Ich denke, Tellkamp würde es heute nicht anders machen als vor zwei Monaten. Vielleicht würde er die empirisch nicht belegbaren 95 Prozent Wirtschaftsflüchtlinge nebulöser skizzieren. Aber das wäre es dann sicher schon an Änderungsbedarf von seiner Seite. Ansonsten hat er sich nichts vorzuwerfen. Nur das mit der offenen und freien Gesellschaft, das unterzieht er sicher just in dem Moment einer freundlichen Revision. Da ist wohl etwas verloren gegangen? Siehe das „Ende der Kritik“.
Tellkamp lief in das Messer, weil er nicht vom Holze eines Hans Mayer ist. Entschuldigend für Mayer mag gelten können, als dieser berechnend kroch, lagen noch vierzig erbärmliche DDR-Jahre vor ihm. Gute Hoffnung, daraus anständig hervorzugehen, konnte da kaum aufkommen. Tellkamp hat den Vorteil, die Diktatur als kleines Rädchen mit in den Orkus geschickt zu haben. Das gibt Selbstbewusstsein und das Wissen, wenn Diktaturen flöten gehen, dann sind Demokratien wohl eher und leichter ins Lot zu bringen. Was für Mayer mit Knast hätte enden können, ergießt sich derzeit mit negativer Liebe über Tellkamp. Auch Hass ist vergänglich. Die Kritiker sind auf der Suche nach vermeintlich Neuem neuenalten Subjekten nicht abhold.
Das „Ende der Kritik“ ist heute aktueller den je. Ich empfehle es der geneigten Leserschaft und mache mit dem Inhaltsverzeichnis Appetit: Krisengerede – Wertetheater – Die verlorene Sache – Das Jahrhundert der Intellektuellen.
Rezensenten zitieren allgemein wenig und setzen eigene Beschreibungen der Materie als Stilmittel ein. Schödlbauers Parforceritt durch das Universum der Kritik und des Diskurses gewinnt durch seine Formulierungen. Die geneigte Leserschaft soll ja ihn und nicht mich lesen wollen. Deshalb ende ich mit einem letzten Zitat von Seite 180: „Vorausgesetzt aber, die Kritik sei am Ende, so fragt sich noch immer, an welchem. Vielleicht ist die Frage ebenso leichtfertig wie unfair. Sie setzt voraus, es sei gerecht, alle im Zeichen der Modernisierung vorgetragene Kritik über einen Leisten zu schlagen. Auf diese Voraussetzung scheint ‚am Ende‘ auch die umfassendste Verabschiedung hinauszulaufen. In dem Punkt bleibt Vorsicht geboten.“
Das zum „Ende der Kritik“ von 1997. „Das Ende der Kritik in der Ära Merkel IV“ steht noch aus?