Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung und ohne die Gefahr, Schuld auf sich zu laden – man braucht kein Christ zu sein, um diesen Zusammenhang nachvollziehbar zu finden. Man braucht eigentlich nur die Zeitung aufzuschlagen und, wie ich dieser Tage, den Artikel über einen Manager darin zu finden, der eine beträchtliche Abfindungssumme eingestrichen hatte, obwohl er sein Unternehmen gar nicht verlassen hatte.
Was war geschehen? Seine Firma war, nachdem sie die Abfindungssumme gezahlt hatte, in Verlegenheit geraten, hatte den Führungsposten doch nicht wie geplant besetzen können und besagtem Manager entgegen der ursprünglichen Abmachung die Leitung angeboten. Der war darauf eingegangen. Er war bei der alten Firma geblieben, ohne darin allerdings einen Grund zu sehen, die Abfindung zurückzuzahlen. Alles sei mit rechten Dingen zugegangen, ließ er in diesem Artikel verlauten, das Geld – immerhin eine Summe in Millionenhöhe – sei längst vereinbart gewesen und stehe ihm mithin zu. Das war offenbar selbst für dieses Unternehmen etwas Neues, in dem die Manager in der Vergangenheit alle paar Jahre gewechselt hatten, wobei jedes Mal ordentliche Abfindungen fällig geworden waren.
Natürlich kann man so viel Selbstherrlichkeit empörend finden, und ich tue das auch. Ich teile auch die Verärgerung all jener, die Anstoß an dem Verhalten der Herren Esser, Ackermann und Co. nehmen. Und ich würde nicht einmal zögern, von einem Verfall der Sitten zu sprechen, denn die Fälle schamloser persönlicher Bereicherung häufen sich ja mittlerweile: VW, Mercedes, BMW, Mannesmann, Infineon – in mancher Chefetage scheint tatsächlich die reine Selbstbedienungsmentalität zu herrschen. Verlässt ein Manager seine Firma, plündert er nochmal schnell das Unternehmen aus. Andere gründen Scheinfirmen und wirtschaften in die eigene Tasche – oder fliegen, wie etliche Betriebsräte von Volkswagen, mal eben auf Firmenkosten nach Prag, schicken dort ihre Ehefrauen zum Einkaufen und machen sich selbst mit exotischeren Schönheiten an die Triebabfuhr. Ich finde das erbärmlich.
Dabei ist es nicht einmal so, dass ich diesen Leuten das bisschen Orgasmus missgönne. Ich bin auch nicht dagegen, dass Manager ordentlich bezahlt werden – es hat mich stets gewundert, weshalb hohe Managergehälter dermaßen erbost kommentiert werden, während die saftigen Einkommen von Fußballspielern oder Popstars keinerlei Unmut auslösen. Aber was ich beängstigend finde, das ist der Mangel an Selbstachtung, den diese Schnäppchenjäger von Format an den Tag legen. Gibt es eigentlich nichts mehr, was diese Leute noch unter ihrer Würde finden? Wissen diese Herrschaften nicht mehr, dass man sich für bestimmte Schurkereien einfach zu schade sein sollte? Haben sie kein Gefühl für Anstand mehr? Und verstehen sie das unter Glück – alle Tage Love Parade und Absahnen und Mitnehmen, so viel man kriegen kann? Ich kann nachempfinden, wenn mancher solche Leute hinter Gittern sehen möchte. Aber – machen wir uns nichts vor: Diese kleinen und großen Gauner, diese Betrüger und Schröpfer sind keine Monster. Sie haben sich auch nicht aus irgendeinem Reich des Bösen in unsere Mitte verirrt. Sie sind Produkte unserer Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die im Begriff steht, mit der eigenen Schuldfähigkeit auch das persönliche Gewissen aus der Welt zu schaffen.
Der Empörung über die Gier von Managern scheint mir jedenfalls eine ordentliche Portion moralischer Selbstgefälligkeit beigemischt zu sein. Reden wir anderen denn noch viel vom Gewissen? Hat es für uns denn noch eine Bedeutung? Oder ist es nicht vielmehr so, dass sich das persönliche Gewissen in den letzten Jahrzehnten nach und nach aufgelöst und in eine Art soziales Gewissen verwandelt hat – und von dem Bewusstsein, für die eigenen Handlungen Rechenschaft ablegen zu müssen, nur eine vage Empfindlichkeit für gesellschaftliche Zustände übrig geblieben ist? Der Verfall der Sitten auf den Chefetagen spiegelt wohl eher im vergrößerten Maßstab eine allgemeine Mentalität der Schamlosigkeit, deren Wurzeln tief in den Achtundsechziger-Humus hineinreichen.
Auf die Scham hatten es die Achtundsechziger ja besonders abgesehen. Als Produkt der bürgerlichen Triebunterdrückung war sie gewissermaßen vom Teufel und hatte in der schönen, neuen Welt der Befreiten nichts mehr verloren. Ja, die Befreiung von der Scham galt geradezu als die Befreiung schlechthin. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Denn nur, wer alle Hemmungen überwindet und alle Schamgrenzen überschreitet, kann sich voll und ganz als Herr seiner selbst fühlen. Es verschafft ein unüberbietbares Gefühl von Souveränität, im Bereich des Anstands die Regeln selbst zu bestimmen oder völlig außer Kraft zu setzen. Die Scham bindet den Menschen ja an Grundnormen, und nichts ist lustvoller, als Grundnormen zu überschreiten, nichts versetzt einen leichter in den Rausch der eigenen Machtfülle. Nichts rächt sich allerdings auch schlimmer. Denn in der Scham bestimmt der Mensch seine Grenzen, definiert er gewissermaßen seinen eigenen heiligen Bezirk. Sie ist im Grunde ein Zeichen des Respekts vor sich selbst. Wer diesen Respekt verliert, der ist zu allem fähig, für den gilt nur noch das elfte Gebot: Du sollst dich nicht erwischen lassen.
Wo das Gewissen versagt, breitet sich Selbstherrlichkeit aus – nicht nur bei Managern. Ich möchte deshalb an etwas erinnern, das in der Rechnung der Achtundsechziger genau‑
so wenig vorkam wie die Schuld: an die Verführbarkeit des Menschen. Vielleicht sollten wir etwas bescheidener von uns denken. Wir sind nun einmal nicht besonders willensstark. Wir sind verführbar. Werbeleute wissen das. Die machen sich keine Illusionen über die Schwächen unserer Natur, die können ein Lied davon singen. Es wird eben niemand als Held geboren. Niemand kommt mit natürlichen Abwehrkräften gegen die Verlockungen der Korruption zur Welt. Jeder bleibt sein Leben lang anfällig für die Versuchung, aus Machtgier oder Habsucht Grenzen zu überschreiten. Und wie leicht werden wir süchtig. Egal ob Drogen, Sex, Computerspiele oder schlechte Gewohnheiten, alles kann in Abhängigkeit führen. Deshalb ist es ein Zeichen von Selbstüberschätzung, wenn wir Hemmungen grundsätzlich abbauen zu müssen meinen, wenn wir Schamgrenzen prinzipiell für überflüssig halten, wenn wir Schamgefühle automatisch mit Verklemmtheit in Verbindung bringen. Aus meiner Sicht handelt es sich dabei jedenfalls viel eher um die Regungen eines intakten Gewissens, das Menschen ungeachtet ihrer Schwäche und Verführbarkeit zur Freiheit befähigt.
Im Grunde verträgt sich das moralische Versagen gieriger Wirtschaftsbosse bestens mit der Freiheitsvorstellung der Achtundsechziger. Denn diese Freiheit ist nirgendwo verankert, sie hat keinen Halt, weder im Verantwortungsbewusstsein noch im Gewissen noch in der Scham. Man kann sagen, dass es letztlich alle kulturellen Voraussetzungen der Freiheit waren, die die Achtundsechziger so erfolgreich bekämpft haben. Ihr Ziel war die bedingungslose Freiheit, oder anders gesagt, die uneingeschränkte Willensfreiheit, die erst da an ihre Grenzen stößt, wo der Staat ihr durch Gesetze Einhalt gebietet. Und diese Freiheit hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun. Die geht aufs Ganze. Die kennt nichts. Ein schönes Symbol für den Triumph der Willensfreiheit über die Selbstbestimmung ist das Victory-Zeichen des strahlenden Herrn Ackermann beim Verlassen des Gerichtssaals.
Selbstbestimmung und Willensfreiheit sind ja zweierlei. Die Willensfreiheit gehört zur Grundausstattung des Menschen; die Selbstbestimmung versetzt ihn in die Lage, innerhalb einer Gemeinschaft einen sinnvollen Gebrauch von seiner Willensfreiheit zu machen, also weder anderen noch sich selbst zu schaden. Im Kalkül der Achtundsechziger aber war beides ein und dasselbe. Warum auch einen Unterschied machen, wenn der Mensch sowieso von Haus aus gut, also im Prinzip harmlos ist, und umso harmloser, je leichter es ihm gemacht wird, seinen Willen durchzusetzen? Da bedurfte es gar keiner gesellschaftlichen Spielregeln, um ihn an den Freiheitsanspruch der anderen zu erinnern, da waren auch alle kulturellen Voraussetzungen entbehrlich, die ihn zur Selbstbeherrschung befähigen. Nur ausleben musste er sich dürfen, der neue Mensch, nur seinen Willen musste er bekommen – sozialverträglich würde er dann schon ganz von allein. Bewahrheitet hat sich das zwar nicht. Die Gesellschaft hat aber trotzdem davon profitiert, weil Menschen, die das Gebot der Selbstbeherrschung als Angriff auf ihre Freiheit empfinden, tolle Kunden sind.
Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie Ideologen sich verrechnen können, dass ausgerechnet der verhasste Kapitalismus vom Freiheitsbegriff der Achtundsechziger profitiert hat. Die Werbung hat sich diese Chance nämlich nicht entgehen lassen. Wenn nicht mehr zwischen Selbstbestimmung und Willensfreiheit unterschieden wird, kann sie erfolgreich suggerieren, dass jede Art von Wunscherfüllung ein Ausdruck individueller Selbstbestimmung sei, dass jeder, der etwas kauft, in den Genuss seiner Freiheit komme, sobald er das Portemonnaie zückt. Für Menschen, die mit dem Ideal der uneingeschränkten Willensfreiheit aufgewachsen sind, klingt das plausibel, und überhaupt: Leichter als an der Ladenkasse kommt man nirgendwo zu seinem Freiheitserlebnis. Kein Wunder, dass es in der Werbung von Freiheitsversprechen nur so wimmelt. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die Schützenhilfe der deutschen Kulturrevolutionäre für die Wirtschaft in dem Satz zusammengefasst: «Alle Wege der Achtundsechziger führen in den Supermarkt.» Beziehungsweise an die Firmenkasse, müsste man ergänzen.
Ich sehe in der Verwechslung von Selbstbestimmung und Willensfreiheit allerdings eine Gefahr, die weit über die Versuchungen hinausgeht, denen konsumsüchtige Teenager oder abfindungsversessene Manager erliegen können. Die menschliche Freiheit, die in der Willensfreiheit zum Ausdruck kommt, ist nämlich nichts Harmloses, aus dem einfachen Grund, weil der Mensch selbst nicht harmlos ist. Hier liegt meines Erachtens einer der entscheidenden Fehler, der den Achtundsechzigern unterlaufen ist. Ich will damit nicht sagen, dass der Mensch von Grund auf böse ist. Aber er ist verführbar, er ist schwach, er ist anfällig für das Böse, und deshalb ist auch seine Freiheit nichts Harmloses, nichts, was lediglich den Lebensgenuss erhöht. In Wirklichkeit ist sie sogar etwas Ungeheuerliches. Zur Freiheit gehört nämlich die Möglichkeit des Versagens – auch des Versagens im allergrößten Maßstab.
Die ganze Ungeheuerlichkeit der Freiheit zeigt sich für mich darin, dass Auschwitz möglich ist, dass es in unserer Macht liegt, unsere Freiheit auf das schändlichste zu missbrauchen. Wenn wir uns klarmachen, welche Folgen unsere Freiheit haben kann, dann brauchen wir uns erst gar nicht auf theologische Spekulationen einzulassen, wie ich sie manchmal zu hören bekomme, wenn es heißt, nach Auschwitz könne man nicht mehr an einen guten, an einen liebenden Gott glauben – der christliche Gott habe in Auschwitz seine Glaubwürdigkeit ein für alle Mal verspielt. Nein, nicht Gott hat dort ein Unheil zugelassen, das er eigentlich hätte verhindern müssen, der Mensch hat hier vollkommen versagt. Hätte Gott den Schlächtern in den Arm fallen sollen? Sind wir nicht sonst so stolz auf unsere Freiheit? Soll Gott immer dann eingreifen, wenn wir seine Gebote in den Wind schlagen? Gott übernimmt nicht die Verantwortung, wenn wir Menschen von Verantwortung und Schuld nichts mehr wissen wollen – da müsste er ständig dazwischengehen und die Regie auf Erden übernehmen. Auch im Bösen, ja gerade dort zeigt sich, wie weit die menschliche Freiheit reicht. Gott lässt uns immer unsere Freiheit. Wenn wir uns selbst vergessen, dann trifft auch uns die Schuld. Deshalb kann ich auch nach Auschwitz noch an Gott glauben, weil ich an die Freiheit des Menschen glaube und an die Möglichkeit, den rücksichtslosesten Gebrauch von ihr zu machen.
Freiheit ist immer ein Wagnis. Machen wir es uns also nicht zu leicht. Die Willensfreiheit allein befähigt noch nicht zur Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung ist an die Bereitschaft zu Verantwortung und Selbstbeherrschung geknüpft, und die wird keinem in die Wiege gelegt, die ist von ganz bestimmten kulturellen Voraussetzungen abhängig. In Europa zählen zu diesen Voraussetzungen die Traditionen des Christentums und der Aufklärung – beide haben unsere Vorstellung von Freiheit geprägt, und beide haben dazu geführt, dass der Selbstbestimmung in unserer Kultur eine größere Bedeutung zukommt als in jeder anderen.
Den Anstoß dazu hat das christliche Denken gegeben, das von Anfang an von einem persönlichen Gewissen und der Einzigartigkeit jedes Menschen ausgegangen ist – unter dem Einfluss dieses christlichen Grundgedankens hat sich die Vorstellung vom Wert des einzelnen Menschen, von seiner Individualität und seiner Menschenwürde allmählich herausgebildet. Es war der christliche Philosoph Boethius, ein Zeitgenosse des heiligen Benedikt, der die menschliche Individualität als Person definiert hat, ausgestattet mit Freiheit und Verantwortung vor Gott und dem Guten. Die Aufklärung hat die Freiheit dann auf der Skala unserer Werte an die erste Stelle gesetzt. Seither lagern sich alle anderen Werte, an denen wir uns im öffentlichen wie im privaten Leben orientieren – Gleichheit, Gerechtigkeit oder Frieden etwa -, gewissermaßen um die Freiheit herum, zielen auf sie ab und beziehen ihre Bedeutung durch sie. Wenn die Rechtsprechung eines Staates nicht die Freiheit aller zum Ziel hätte, wäre sie bloß Willkür. Auch die Gleichheit würde sich da, wo sie mehr schaffen soll als die Voraussetzung für Freiheit, umgehend in ein Mittel der Unterdrückung verwandeln. Und der Frieden schlägt in Friedhofsruhe um, sobald er auf Kosten der Freiheit geht. Schließlich meine ich auch, dass für das Lebensglück und das Selbstbewusstsein des Einzelnen kein Wert entscheidender ist als die Freiheit.
Wie zerbrechlich diese Freiheit ist, das hat sich vor allem in unserer eigenen Geschichte gezeigt. Aber erst heute, wo wir die Folgeschäden von 68 einschätzen können, erkennen wir, dass auch die kulturellen Fundamente dieser Freiheit wegbrechen können – und wir erleben, dass ohne Gewissen und Vernunft von unserer Freiheit nur noch die Narrenfreiheit übrig bleibt.
Ich wollte den Weg in die Sackgasse zurückverfolgen, in der wir uns befinden, um hinter die Gründe für unsere Mutlosigkeit zu kommen, für den Pessimismus und die lähmenden Selbstzweifel, die uns befallen haben. Ich glaube, dass wir die Hälfte dieses Wegs jetzt überblicken können, nachdem klar geworden ist, dass der Mythos von 68 seine ungebrochene Kraft nicht aus dem Versprechen größerer Freiheit bezieht, sondern aus der Verheißung kindlicher Unschuld. Dass wir uns dem romantischen Projekt der Achtundsechziger also weniger aus Freiheitsliebe angeschlossen haben als in der Hoffnung, nach dem Desaster der Hitlerzeit den Glauben an uns selbst zurückzugewinnen. Und ich verstehe sehr gut, dass es zu nächst befreiend wirken musste, den Sündenbock gefunden zu haben und der Gesellschaft mit ihren Traditionen, mit ihrer ganzen christlich-bürgerlichen Kultur die Schuld aufbürden zu dürfen, um für sich selbst die Freiheit und nichts als die Freiheit reklamieren zu können.
Inzwischen ist offenkundig geworden, dass wir uns falsche Hoffnungen gemacht haben. Die verheißene Unschuld hat mit Freiheit nichts zu tun. Sie ist das Gegenteil von Selbstbestimmung. Man darf sich nicht viel mehr davon versprechen als den unerschütterlichen Glauben an die Harmlosigkeit der eigenen Freiheit und an die Bedrohlichkeit der Freiheit aller anderen. Für das Selbstbewusstsein, das Vertrauen auf die eigene Kraft, den Glauben an den Nutzen einer gemeinsamen Anstrengung gibt die Lösung der Achtundsechziger nichts her. Sie schürt nur das Misstrauen gegenüber der Gesellschaft und verleitet dazu, vom Staat umso mehr zu erwarten, je höher sich die Probleme türmen. Deshalb klammert sich die vaterlose Gesellschaft an Vater Staat – und nicht einmal unsere Regierungspolitiker können das verhindern.
Abtprimas Notker Wolf, „Worauf warten wir? Ketzerische Gedanken zu Deutschland“
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