Das Denken der Nichtanderen. Eine Schadensbetrachtung von Ulrich Schödlbauer und Gunter Weißgerber

Kerze, Foto: Stefan Groß

Der letzte von Forsa ermittelte Bayern-Wahltrend zum 28.1. dieses Jahres ergab folgende Stimmenverteilung: CSU 37,1%; Grüne 22,4%; Freie Wähler 12,3%; AfD 8,0 %; SPD 6,9%; FDP 5,3%: Linke 3,0% (Quelle: https://dawum.de/Bayern/). Am 27. Januar 2019 nachmittags twitterte der Parteisoldat Uli Grötsch: »Als Generalsekretär @BayernSPD will ich, dass wir Speerspitze im Kampf gegen #Rechtsextremismus werden! Wir werden Demos anführen, Initiativen unterstützen und Bündnisse gründen. Die BayernSPD soll ein Zuhause für kleine Vereine sein, die sich gegen Rechts engagieren. #Nazisraus«

Rechtsextremismus? Der Forsa-Wahltrend führt die NPD nicht auf – akkurater lässt sich die Bedeutung dieser Partei im gegenwärtigen Parteienspektrum nicht bestimmen. Seit der Verfassungsschutz prüft, inwieweit die AfD als Beobachtungsfall in Frage kommt, weiß auch der letzte Stimmbürger, dass sie ein Extremismus-Problem hat, das sie lösen muss, will sie nicht über kurz oder lang in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Will die SPD diese Aufgabe für sie übernehmen (so wie sie sich bisher an den Hausaufgaben der CDU/CSU, deren Erledigung der Nach-Merkel-Zeit harren, gesund geschrumpft hat), so wird, anstelle der AfD, sie weiter der Tendenz zum Verschwinden folgen. Wer in dieser Zeit »ein Zuhause für kleine Vereine sein« will, »die sich gegen Rechts engagieren«, muss sich fragen lassen, ob nicht in Wahrheit er bei besagten Vereinen um ein Zuhause bettelt. Um welche kleinen Vereine es sich dabei im Einzelnen handelt, mag dahingestellt sein. Stattdessen sei hier die Frage gestellt, ob eine – noch immer staatstragende – Partei wie die SPD das ethisch-politische Recht besitzt, sich mit #Nazisraus-Parolen ins politische Abseits zu trommeln, als deren augenblicklich prominenteste Opfer der jüngst in Bremen brutal attackierte AfD-Abgeordnete Frank Magnitz und der an der TU Dresden mit einem akademischen Fußtritt vor die Tür beförderte CDU-Berater Werner Patzelt in der Aufmerksamkeit stehen.

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»Der Bock, für den das Los ›für Asasel‹ herauskommt, soll lebend vor den Herrn gestellt werden, um für die Sühne zu dienen und zu Asasel in die Wüste geschickt zu werden. … Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.«
Lev 16,8-21

Deutschland 2019: Nun bellen sie wieder. Viele glauben, mit einem eleganten ›Hashtag‹ sich der Geister der Vergangenheit entledigen zu können: #Nazisraus. Mag sein, die Jüngeren unter ihnen haben den heiseren Klang dieses ›Raus‹ nicht mehr im Ohr. Dafür steckt er ihnen noch dort, wo er herkommt: in der Kehle. Und er muss raus, raus, raus, am besten, wie es ein Prominenter nach dem Angriff auf Magnitz im Sprachdelirium via Twitter zuwege brachte, in strophig geordneten Stakkato-Sequenzen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Menschen nennt sich Linke und Sozialdemokraten und rühmt sich der politischen Abstammung von Verfolgten, denen das »Raus« zur bitteren Lebensrealität wurde. Zwar wurden sie dahingehend belehrt, in diesem ›Raus‹ stecke das »Nie wieder« der Schambedeckten – keine Gefahr! Mit der Scham allerdings ist das so eine Sache. Wer brüllt, hat sich ihrer bereits zur Hälfte entledigt. Die andere Hälfte folgt auf dem Fuß, dringt der fatale Reflex erst ins rechte Bewusstsein. Der unermüdliche Richard Schröder, Sozialdemokrat auch er, hat in diesen Tagen daran erinnert, dass jedes ›Raus‹, gleichgültig, wem es gilt, unsere Verfassung bricht, und damit unwillkürlich, wenngleich vielleicht unwillentlich, zum Ausdruck gebracht, dass die Geistesverfassung, die sich seiner bedient, zum Kotzen ist. In der Frankfurter Rundschau musste er sich postwendend belehren lassen: »Nichts ist falsch an ›Nazis raus‹, nie war es etwas anderes als ein Slogan, der sich die extreme Rechte natürlich physisch weg wünscht, aber nur ihre Geisteshaltung meinen kann.« (FR, 18.1.2019)

Physisch weg wünschen, aber nur ihre Geisteshaltung meinen – nicht etwa ihre Arbeitskraft oder ihr Vermögen oder ihre Kunstsammlung oder ihr Zahngold: Es kotzt einen an, dergleichen im Tonfall moralischer Nachgeborenen-Überlegenheit lesen zu müssen, immer auch noch mit dem Wissen im Hintergrund, wer alles zur Zeit in die rechte Pfanne geschlagen wird und dass ›die Rechte‹ selbstredend stets ›radikal‹ genannt zu werden verdient. Es kotzt einen an wie vor Zeiten in der Toskana, als man den die entscheidenden Jahre älteren italienischen Trinkfreund nach seinen Deutschkenntnissen fragte und er spontan diesen Urlaut aus seiner Kehle hervorwühlte: »Raus!« Seine Kriegs-Erinnerung an alles Deutsche fasste sich darin zusammen: »Raus!« Die einen in Reih und Glied, die anderen an die Wand. Es kam eine Generation, die wusste, dass der Ausdruck ›kontaminiert‹ war, dass man ihn nur mit spitzen Fingern, am besten mit Handschuhen anfassen durfte, und die mit Ironie wettzumachen versuchte, dass er ihr hin und wieder in ›unschuldigen‹ Situationen entschlüpfte. Von dieser Generation scheint, wenigstens mental, nicht viel übriggeblieben zu sein. Wer geistig heiser geworden ist, brüllt mit, die anderen, denen das Ganze unheimlich klingt, schweigen betreten. Sie wissen: Wer seine Stimme zugunsten der Verfolgten erhebt, ist selber dran. Genau dies ist die Botschaft der sich schuldfrei wissenden Jäger*innen: »Raus!«

Damit das funktioniert, alle wissen es, darf es keine Verfolgten geben, nur Schuldige. Schuldig an was? Nun, an imaginären, in der Zukunft liegenden Verbrechen, deren man sie prophylaktisch beschuldigt. Oder auch nicht – dann genügt der Hinweis auf unser aller Vergangenheit, die bei dieser Gelegenheit auf wundersame Weise auf die der Angezählten und Ausgegrenzten zusammenschrumpft. So geht Entlastung.

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»Entgegen der abendländisch geprägten umgangssprachlichen Benutzung des deutschen pejorativen Begriffs ›Sündenbock‹ aus der Lutherbibel, wird dem Bock ›für Asasel‹ nicht wirklich Schuld für Unglück oder gar Sünde zugeschoben, weil Sünden im Judentum nicht übertragbar oder vererbbar sind (vgl. ›Erbsünde‹) und die ursprüngliche Vorstellung das öffentliche Geständnis der eigenen Sünden von der Gemeinschaft forderte.«
Wikipedia, Stichwort ›Sündenbock‹

Jeder weiß es oder hat es sich schon einmal gedacht: Die neuerdings in den gesellschaftlichen Raum gestellte Bezichtigung, ›Nazi‹ zu sein und damit an den Verbrechen der Nazis mitschuldig zu sein, sie, wer weiß, ein weiteres Mal begehen zu wollen, zielt offen nicht nur auf Leute, die sich in deren Genealogie ›verorten‹, auf Verlierertypen, die das Horst-Wessel-Lied grölen und ›nicht schuldig‹ plärren, dieweil sie Israel in den Orkus wünschen und Flüchtlingsheime in Brand stecken, sondern auf Bürger diesseits der Radikalismen, eben noch oder, besser, gleichzeitig in der ›Mitte‹ verortet, die der Anwurf maximal betroffen reagieren lässt: die mittlerweile dritte Generation der Scham. Die Gründe dafür sind komplex, aber das erhoffte Resultat liegt auf der Hand. Sie soll, abseits aller Parteibindung, politisch auf Linie gebracht werden, in Reih und Glied, ganz recht, mit dem ultimativen Mittel der Macht, das jeden Widerspruch im Ansatz erstickt: der Exklusion.

Das Wort hat einen schlechten Klang. Eben noch schwirrte der gesellschaftliche Raum vom Segen der Inklusion, jetzt, da Ausschluss gefragt ist, bricht es hervor. Wer verfügt über dieses Mittel? Wer maßt sich Verfügung darüber an? Was geht in einem Gemeinwesen vor, in dem demokratisch gewählte Repräsentanten sich mit Leuten solidarisieren, die jedem das Brandzeichen der Schande anzuheften versuchen, der nicht sie wählt? Nichts Gutes, sollte man meinen. Nichts Gutes, sagen die Selbstgerechten und zeigen mit langen Fingern auf die Partei des Bösen: die AfD.

Ein Literaturwissenschaftler bereichert den politischen Diskurs mit der Botschaft, die ›andere‹ Partei, die, wie fleißig suggeriert, mit allen Mitteln, selbst, wie vermutlich in Bremen gerade wieder geschehen, dem der physischen Attacke bekämpft zu werden verdient (auch wenn ›wir‹ uns, selbstverständlich, in bekannter Manier von aller Gewaltanwendung distanzieren), sei »(teils ausdrücklich, teils latent) rechtsradikal« – also in jedem Fall. Soll heißen: Ein Partei wird als ›ausdrücklich‹ und, wo dies offenbar nicht zutrifft, unausdrücklich radikal markiert: ›latent‹, also ›unterschwellig‹, in Regionen, die keiner wirklich kennt und in denen keiner so recht für sich bürgen mag.

Wie geht das?

Die deutsche, die europäische, die weiße Gesellschaft ist rassistisch – wenn nicht offen, dann eben latent. Die Gesellschaft kennt diesen Vorwurf und hat mit ihm leben gelernt. Das schließt Kollisionen im Gemüt von Zeitgenossen nicht aus. Nicht jeder ist bereit, sich den Schuh anzuziehen, der ihm da hingestellt wird. Es gibt Mitmenschen, die sich gegen die Anmutung wehren möchten, ohne zu wissen wie, außer sie geben sie ungerührt an die Mitmenschen weiter und machen sich dadurch willkürlich von ihr frei. Dann ist halt der Nachbar rassistisch oder die Partei, die man ohnehin klein halten will. Ich doch nicht.

Im politischen Alltagsgeschäft allerdings ist ›Latenz‹ eine giftige Kategorie, wie der Pauschalvorwurf des Antisemitismus gegen ›die Linke‹ immer wieder eindrucksvoll dokumentiert. In der Regel stützen sich Vorwürfe dieser Art auf Äußerungen Einzelner, manche davon aus dem Zusammenhang gerissen, andere unbedacht oder unbedarft, gelegentlich auch auf wacklige Auslegungen von Parteibeschlüssen. Es gibt schwarze Schafe, es gibt zwielichtige Prominente, die sich im dunklen Glanz ihres allzu simpel erworbenen Rufes sonnen, es gibt Plattformen, die ihrer Bezeichnung jede Ehre erweisen. Häufen sich die Verdachtsmomente, beobachtet und notiert der Verfassungsschutz. Gelegentlich teilt er, wie in diesen Tagen zur AfD, ein paar Brosamen seiner Sammeltätigkeit der Öffentlichkeit mit, die ihrerseits beobachtet und benotet.

›Offen oder latent‹ ist jeder gefährlich – der eine mehr, der andere weniger. Jeder Einzelne, jede Partei kann entgleisen, kann sich bei (un)passender Gelegenheit oder in Folge persönlicher oder historischer Schocks radikalisieren – oder auch nicht. So gesehen war die Weimarer Republik latent faschistisch. Vielleicht war sie auch latent sozialistisch, wie die Sozialisten beider Couleur lange Zeit glaubten. Vielleicht war sie latent demokratisch und brauchte nur eine Diktatur, um das zu erkennen. Jeder Mensch ist ein potentieller Verbrecher. Sperren wir ihn ein? Geht nicht? Gut, dann sperren wir ihn aus.

Möglich, dass so etwas herauskommt, wenn man ein paar Jahrzehnte hindurch Essays über den Anderen (›the other‹) konsumiert, der bekanntlich stets zum Sündenbock von Gesellschaften taugt, die nicht gewillt sind, sich ihrer Probleme auf rationale Weise anzunehmen. Man erkennt den Mechanismus und bedient ihn doch. Warum? Vielleicht, weil man ihn allzugut kennt? Weil man weiß, dass ihm niemand, auch man selbst nicht, entrinnt? Weil man zu wissen glaubt, dass auch Aufklärung, will sie wirksam sein, sich ihm beugen muss? Ist sie dann noch Aufklärung? Ist sie dann nicht … das Gemeinte?

Das Gemeinte ist niemals einfach. In diesem Fall erscheint es, wie bei doppelter Buchführung üblich, doppelt: als Übel und als der, dem man es verübelt. Es bleibt aber, wie bei politischen Fehden üblich, das Gemeinte. Soll heißen, Aufklärung, die den Anderen – partiell – in Schutz nimmt, weil sie den Mechanismus der Ausgrenzung durchschaut, wird auf seine Seite geschlagen. So funktioniert Ausgrenzung. Dass sie auch gegen Umfrage-Mehrheiten funktioniert, ist der eigentliche Erkenntnisertrag dieser Jahre. Die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung – gleich der anderer europäischer Länder – lehnt die forcierte Masseneinwanderung der Merkel-Ära bei unverminderter Aufnahmebereitschaft für ›wirkliche Flüchtlinge‹ ab? Ein Missverständnis! »Das deutsche Hadern mit der Zuwanderung überschattet das wahre Problem.« (Thomas Straubhaar in der Welt vom 14.1.2019) Mit diesem Thema beschäftigen wir uns nicht – höchstens am Rande. Dafür haben wir schließlich die Populisten. Der Populismus ist fremdenfeindlich, das weiß doch jeder. Fremdenfeinde sind… Das weiß doch jeder. #Nazisraus! Wer den Mechanismus nicht kennt, wer ihn nicht kennen will, der ist, sagen wir, latent … oder besser, er ist bei ihnen in die Schule gegangen und kann es jetzt, wie er annimmt, besser.

Die ungeprüfte Überzeugung, ›besser‹ zu sein als die vorangegangenen Generationen, ganz gleich, wie man ist, woran man glaubt und wem man gerade in die Eier tritt, mag dem einen oder anderen Mitbewohner dieses Planeten naturgegeben erscheinen. Daneben handelt es sich um den fünften oder dreizehnten Aufguss des abgestandensten, moralinsüß gewordenen Hegelianismus, einer Geschichtssüchtigkeit und -hörigkeit, die Moral im Schilde führt und sie dabei mit Füßen tritt, wo immer sie gefragt wäre. Dabei bedarf es keiner besonderen Moral, um die Konkurrenz einer Partei, die, auf welch kritisierbare Weise auch immer, wirkliche (nicht eingebildete) Defizite des öffentlichen Handelns benennt, im demokratischen Staat als das zu nehmen, was sie ist: als Konkurrenz. Dass diese, nicht anders als einige ihrer Mitbewerber, Probleme mit den irrlichternden Rändern hat – nach Lage der Dinge vor allem mit dem rechten –, die sie lösen muss, will sie nicht den Weg der Rechtsaußen-Spukparteien gehen – geschenkt. Andernfalls trifft man sich vor Gericht.

Historische Schuld ist kein Feinstaub, für den man die Verantwortung per Handaufheben an den politischen Gegner delegieren oder den man per Grenzwertverordnung verbieten kann. Der Liberalismus mag eine Weltanschauung wie andere sein, Liberalität ist es nicht. Liberalität ist das Grundelixier einer Menschlichkeit, die sich hier und heute als Demokratie erfährt. Wer Parteien eintreten will, sobald sie den Inhabern der Macht gefährlich nahe kommen, der sollte sich besser fragen, ob sich bei ihm noch alle Knöpfe an der richtigen Stelle befinden. Er sollte sich auch fragen, ob er nicht gerade das Erbe verwirkt, von dem er hin und wieder behauptet, es sei das seine: das Erbe der Verfolgten, der Geschundenen, der Aufrechten, die Verfolgung und Tod auf sich nahmen, auf dass Menschlichkeit sei und, schillersch gesprochen, die Freiheit kein leerer Wahn. Die große Erosion, ganz recht, beginnt in der Mitte. Die SPD erfährt es zur Zeit in den Umfragen. Das Loch, das ihre Absenz reißt, ist gefährlich. Sie sollte es schließen, wenn nicht aus Eigenverpflichtung, so aus historischer Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen, in dessen Gestaltung die Lebensleistung so vieler ihrer Parteigänger und -größen eingegangen ist.

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»Über die etymologische Herleitung des Namens Asasel gibt es verschiedene Hypothesen. Sowohl akkadische, ugaritische oder ägyptische Wurzeln werden vorgeschlagen. Lev 16 ist innerhalb der Bibel die einzige Stelle zu Asasel. Erst später in außerbiblischer Literatur (Qumran und 1. Henoch) wird er zu einem Verbündeten des Anklägerengels Satan. Theologisch entspricht dieses außerbiblische Bild einem dualistischen Gottesverständnis. So werden auch im Animismus ethnischer Religionen schadenstiftende Geister durch bestimmte rituelle Handlungen besänftigt.«
Wikipedia, s.o.

Dualismus als Herrschaftsmaxime unterläuft den gesellschaftlichen Frieden: er spaltet. Zu den Grundregeln guten Regierens zählt die, ein Problem niemals auf einen einfachen Gegensatz zuzuspitzen. Wo es unvermeidbar wird, da ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Wo es ohne Not geschieht, da wird die Balance beschädigt – des Gemeinwesens, des inneren Menschen, gelegentlich auch der internationalen Ordnung oder eines ihrer Derivate.

Balance in diesem Sinn kann nicht diktiert, sie kann nur bewahrt, wiederhergestellt oder eben verletzt werden. Das liegt an der absoluten Disproportion der Masse der Regierenden und der Regierten, sprich: der von ihrem Handeln betroffenen Bevölkerungen. Politik ist nichts, was ein paar Amtsinhaber unter sich ausmachen könnten – sie fänden sich rasch ›entmachtet‹, sollten sie es auf den Versuch ankommen lassen. Regieren ist transitiv: regiert werden Subjekte, nicht ›Objekte‹ oder ›Sachverhalte‹. Bevölkerung ist weder vernünftig noch unvernünftig, weder von diesem Willen beseelt noch von jenem. Ihr Eigensinn tritt zutage, sobald die Balance erst einmal gestört ist: dann wird sie, im wahrsten Sinne des Wortes, gelegentlich unberechenbar. Frankreichs Gelbwesten exerzieren es gerade vor. Die deutsche Gesellschaft mag, gemessen an ihren politischen Konventionen, träger daherkommen als die französische. Doch die oberflächliche Differenz kann ihre tiefe Spaltung nicht überdecken.

Wer meint, dies sei ein Plädoyer für mehr Toleranz, am Ende gar ›gegen Rechts‹, der irrt. Geht es um mehr oder minder genehme Minderheiten und ihre statistische Eigenart, werden gewisse Gruppen ganz tolerant, um dem politischen Gegner eins auf die Mütze geben zu können. Die Wahrheit lautet: Toleranz ist ein sehr schwacher Schutz für die Freiheit. Im Grunde ist sie selbst noch nicht richtig in der Freiheit angekommen. Toleranz ist ein Relikt des Obrigkeitsstaates. Der liberale Rechtsstaat schützt die Freiheit. Dazu muss er so stark sein, dass niemand gegen ihn ankommt. Soll heißen: Ohne gewachsenen Rechtssinn der Bürger geht es nicht.

Solange politische Handlungsträger und ihre Schönredner mit dem Rosa-Luxemburg-Satz hausieren gehen, Freiheit sei die Freiheit des Andersdenkenden (vor allem dort, wo man sich unsinnigerweise selbst als ›andersdenkend‹, sprich: als potentielles Opfer konstruiert), haben sie die Freiheit nicht wirklich begriffen. Wo alle frei sind, gibt es keine Andersdenkenden, allenfalls Denkende. Inhaltliches Denken denkt immer anders oder gar nicht. Repetiermaschinen denken nicht. Wer von Toleranz gegen Andersdenkende redet, glaubt zu wissen, wie das richtige, rechte, eben nicht andere Denken zu gehen hat.

Mit Karl Popper zu reden: die offene Gesellschaft ist einfach die richtige, weil sie die einzige Gesellschaftsform ist, welche die Freiheit auf Dauer bewahrt. Deshalb darf es in ihr keine Toleranz gegen die Anhänger anderer, sprich: geschlossener Gesellschaften geben. Ein ›bisschen‹ Toleranz ist immer gestattet, sie steht dem Starken gut zu Gesicht, solange er der Starke und der andere schwach ist. Ansonsten hat es sich mit der Toleranz. Man muss seine Rechte in Anspruch nehmen, man muss seine Rechte verteidigen, man muss das Recht verteidigen. Man muss die Freiheit verteidigen, die sich im liberalen Rechtsstaat bekundet, man muss den liberalen Rechtsstaat verteidigen. Die offene Gesellschaft im Sinne Poppers ist nicht grenzoffen, sondern ergebnisoffen. Sie ist das Labor für Versuch und Irrtum. Wie soll man den Irrtum begrenzen und korrigieren, wenn man ihn toleriert?

Man mag es drehen und wenden, solange man will: ›Hepp hepp‹ und ›Rausraus!‹ waren und sind extreme Ausdrucksformen des Ungeistes, denen der Zugang zur öffentlichen Bühne verwehrt bleiben muss. Wer sich ihrer, naiv oder nicht, bedient, der will sich der demokratischen Institutionen bemächtigen, ohne den Preis zu entrichten, den sie jedem Bürger abverlangen – den Preis des Geltenlassens der Person. Niemals und nirgends können (und dürften) sie für demokratische ›Haltung‹ stehen, geschweige denn sie auf dem Weg erklärter Feindschaften simulieren. Demokrat ist, wer argumentiert: in der politischen Arena oder, wenn’s sein muss, vor dem Verfassungsgericht. In der politischen Arena sind alle Ungleichen gleich und alle Gleichen ungleich. Gerade daraus erwächst, wovon am Ende jeder Einzelne profitiert – politische Kultur.

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Von Ulrich Schödlbauer erscheint in diesen Tagen: Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, Manutius Verlag Heidelberg 2019, 381 Seiten, ISBN 978-3-944512-25-9.

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