Das Andere an Andersen

Märchenhafte Köpfe schnitt Hans Christian Andersen aus Papier – zum Entzücken von Klein und Groß.

Das Buch „Hans Christian Andersen – Poet mit Feder und Schere“, hrsg. von Anne Buschhoff und Detlef Stein, gestaltet von „one/one studio“, Amsterdam/Bremen, 340 Seiten, illustriert, 39 Euro, Köln: Wienand Verlag 2018, ISBN 978-3-86832-451-8 erschien zur gleichnamigen Ausstellung der Kunsthallte Bremen (bis 24. Februar 2019).

Wer es sich, weshalb auch immer, versagen muss, nach Bremen zu reisen, um seinem Lieblings-Dichter einmal ganz anders zu begegnen, ihn nämlich als Verfertiger poetischer Papierarbeiten kennenzulernen, der greife zu diesem Buch. Es begleitet nicht nur, es führt ein in die wunderbare Ausstellung und lässt ihn so schnell nicht mehr los. Hans Christian Andersen (1805 – 1875) in einem wohl selbst für Verehrer und Kenner seiner fantastischen Texte unbekannten Metier zu erleben, ist reines Schau- und Lesevergnügen, in orangenes Ganzleinen gebunden, verlockend durchillustriert und eigenwillig präsentiert.

Was den Erzähler HCA angetrieben haben mag, sich auf ein Nebengeleis künstlerischer Betätigung wie das Ausschneiden und Komponieren von Sammel-Bildchen und Magazin-Ausrissen zu begeben und handgefertigte Buch-Originale (im doppelten Wortsinn) zu schaffen, um Kindern ein einmaliges Blätterwerk zu schenken, mag das Geheimnis des „Täters“ bleiben. Das kindliche Spiel der Herstellung von auf den ersten Blick absonderlich geratener Figurenpanoramen passt nicht schlecht ins Konzept ungezwungener „Zwischendurch“-Betätigung, die dem „Veranstalter“ Gelegenheit bot, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Meist wusste der Scherenschneider nicht, welche Gestalt am Ende seiner oft noch handschriftlich ergänzten Arbeiten herauskam.

Im (auf Deutsch erst 1984 bei Carlsen) erschienenen „Bilderbuch für Christine“ (das Fräulein Stampe war 3, ihr „Onkel“ HCA 54 Jahre alt) haben wir 5 ganzseitige Papierfantasien zu bewundern, an denen der Opa der Beschenkten, Adolph Dresen, mitwirkte. Was beiden befreundeten alten Herren 1859 nur eingefallen war, ihr Elaborat in dieser Weise (s. Foto) zu kollagieren! Furchterregend blickt der aus Goldpapier durch Faltschnitt entstandene Großkopf mit Riesenohrringen, von Schwänen umgeben, drein. Manches Märchen-Motiv ließ HCA in seine Papierarbeiten bildhaft, freischwebend und durchaus unvernünftig gewählt einfließen: Schwan, See, Baum, Sonne und Mond, Engel und Wichtel. Da tummeln sich Masken, Tänzerinnen, Regenschirmträger und andere wunderliche Gestalten in exotischen Szenerien. Kopfgeburten der Art, die Künstlern wie Andy Warhol ja gefallen mussten. Der Bogen von HCA, dem Scherenschneider, zur modernen Kunst, wird gern geschlagen.

Was die Autoren sowohl mit ihren erläuternden Beiträgen als auch hinsichtlich deren Bebilderung leisteten: so unterhaltsam wie kenntnisreich kunsthistorisch eingeordnet. Das Begleitbuch zur höchst empfehlenswerten Ausstellung ist ein gelungener Beitrag zur Abrundung des Bildes eines fantasieüberschäumenden „Freidenkers“ des 19. Jahrhunderts, aber auch eine Einladung, doch nach Bremen zu reisen. Der Geist des großen Dänen, der vor 165 Jahren auf der Reise nach Paris hier anhielt, vielleicht um eine Gemälde-Schau des örtlichen Kunstvereins zu besuchen, weht noch. Auch wenn damals die Kunsthalle Bremen noch gar nicht stand.

Foto

Märchenhafte Köpfe schnitt Hans Christian Andersen aus Papier – zum Entzücken von Klein und Groß.

 

 

Über Hans Gärtner 499 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.