Religionen erkennt man daran, dass ihre Lehren aus verstaubten Büchern und zerfallenen Schriftrollen stammen. Spätestens wenn die Inhalte der Bücher wegen Widersprüchen oder unglaubwürdigen Ereignissen nicht hinterfragt werden dürfen, werden die Bücher heilig und gehören dem Kanon (griechisch Richtschnur) der Religion an. Nicht alle religiösen Bücher sind kanonisiert. Viele der Bücher verdanken ihre Aufnahme in den Kanon dem Zufall, manche fallen nach einiger Zeit wieder aus dem Kanon heraus. Manche sind höher, manche niedriger kanonisiert.
Für den Ungläubigen oder Anhänger eines anderen Glaubens sollte der fremde Kanon keinen Einfluss auf den gewohnten Alltag haben. Die Satzung eines jeden Vereins gehört zum Kanon. Eine Satzungsänderung des lokalen Kaninchenzüchtervereins geht ohne überragende mediale Anteilnahme am Katzen- und Hundefreund vorbei. Anders, wenn der Staat ein neues Gesetz hinzufügt, welches dem Bürger viel Geld aus der Tasche zieht. In einem solchen Fall ist die Aufnahme des Gesetzes in den staatlichen Kanon schmerzhaft und beeinflusst das Verhalten eines jeden Bürgers.
Gesellschaften und eingetragene Vereine (e.V.), die über einen Kanon verfügen, liegen gewöhnlich dem Staat auf der Tasche. Anfangs bekämpfen sich die verschiedenen Gesellschaften als Konkurrenten um Einfluss, Macht und Geld. Mit der Zeit sehen sie ein, dass es zum Vorteil aller gereicht, wenn sie sich aus dem Wege gehen oder gar zusammenarbeiten, um sich des Geldes des Steuerzahlers zu bemächtigen. So haben sich Gewerkschaften und Kirchen in Deutschland zum Vorteil beider geeinigt, die Claims des anderen zu respektieren. Die Kirche diktiert ihren Angestellten die Arbeitsbedingungen, die großen Gewerkschaften erhalten wie die Kirchen einen konkurrenzlosen Alleinvertretungsanspruch, den keine Spartengewerkschaft in Frage stellen darf.
Aus diesen zufälligen Beispielen lernen wir, dass der Kanon einflussreicher Gesellschaften sich wohl in das Privatleben des Bürgers einmischt und ihn um Geld erleichtert. Dies betrifft insbesondere unbescholtene Bürger, die keine Mitglieder oder Anhänger einer einflussreichen Kanon-Gesellschaft sind. So verwundert es nicht, dass Mitglieder des Deutschen Koordinierungsrates, des Dachverbandes der Christlich-Jüdischen Gesellschaften, sich vehement dagegen wenden, das Alte Testament AT aus dem Kanon der evangelischen Kirchen zu entfernen. Sie sehen darin einen weiteren Schritt zur zunehmenden Antijudaisierung der evangelischen Kirchen durch Entjudaisierung des evangelischen Kanons.
Prof. Dr. Notger Slenczka aus Berlin, der das AT aus dem evangelischen Kanon zwar nicht entfernen, jedoch dem AT einen geringeren kanonischen Rang zuteilen will, sieht es naturgemäß ganz anders. Er erkennt im Forschen nach religiösen Wahrheiten, die nach allgemeiner wissenschaftlicher Übereinkunft keine Wahrheiten sind, keinen Antijudaismus, wie sich der christliche Antisemitismus selber nennt. Unumstritten ist, dass ein evangelisch-christlicher Antijudaist den Herauswurf oder die Erniedrigung des “jüdischen“ AT herzlich herbeisehnt. Die Meinungen innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirche gehen jedoch weit auseinander, ob ein niedriges kanonisches Ranking oder gar die Dekanonisierung des AT die antijudaistischen Tendenzen innerhalb der evangelischen Kirche verstärken werden oder unbeeinflusst lassen.
Viele Christen gehen noch heute davon aus, dass sie mit den Juden das AT teilen. Dies ist nur bedingt richtig. Das Judentum kennt kein „Altes Testament“, sondern die „Thora“, die wie das christliche AT aus den fünf Büchern Moses besteht. Gültig ist für gläubige Juden nur das Original in Hebräisch, auch wenn Übersetzungen bei Bedarf zu Hilfe genommen werden. Die Unterschiede zwischen dem AT und der Thora sind beachtlich. Offensichtlich treten sie beim Dekalog, den Zehn Geboten hervor, die im Mittelpunkt der Thora stehen. Es gehtbei dem Kernstück der Glaubenslehren nicht um irrelevante Unterschiede. Im Gegenteil! Es ist beschwerlich, zwischen dem christlichen und dem jüdischen Dekalog eine Übereinstimmung zu finden. Um die Unterschiede zwischen einem deutschsprachigen AT und einer deutschsprachigen Thora zu erkennen, empfiehlt es sich, die Martin-Buber-Übersetzung einer beliebigen Martin-Luther-Übersetzung entgegenzustellen. Die Martin-Buber-Ausgabe reflektiert die Thora.
Nun wird es Zeit, die Gründe zu überprüfen, weshalb das AT einen niedrigen Rang im Kanon der evangelischen Kirche erhalten soll.
Prof. Slenczka ist der Überzeugung, dass die gesamte Bibel die Ankunft des christlichen Gottes zu preisen hat, was beim Neuen Testament augenscheinlich der Fall ist. Er ist gleich den Juden der Meinung, dass die Thora zu Zeiten, als das Neue Testament noch nicht das Licht der Welt erblickt hat, keineswegs die Ankunft eines christlichen Messias herbeigesehnt hat. Die Juden erwarten einen jüdischen Messias, der sich von Jesus, auch wenn er als Jude geboren worden ist, in allen wesentlichen Punkten unterscheidet. Für Prof. Slenczka ist Jesus nach der Thora höchstens der Messias für Judenchristen, also Juden, die zum Christentum konvertiert sind oder Jesus als Messias anerkennen. Letztere betrachten sich weiterhin als Juden, auch wenn sie aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Die Thora gehört zum hohen Kanon der Jews for Jesus!
Heidenchristen, die heute die allermeisten Christen weltweit darstellen, finden in der Thora keine Erwähnung. Somit findet für die allermeisten Christen auch Jesus in der Thora keine Erwähnung. Somit erhält die christianisierte Thora, das AT, wie auch die ursprüngliche hebräische Thora einen niedrigen kanonischen Rang, da sie nur ein Vorläufer der christlichen Glaubenslehre und somit des Kanons ist! Die frühen Judenchristen haben nicht auf das Neue Testament gedrängt, ihnen hat die Thora vollkommen gereicht. Paulus, der Religionsgründer, ist ein hellenisierter Jude. Ob die Verfasser des Neuen Testaments geborene Juden sind, lässt sich nicht belegen. Vieles spricht dafür, dass sie Heidenchristen sind, die nicht für die wenigen Juden die Thora mit einem Neuen Testament vervollständigen, sondern für die Heiden der gesamten Welt ein Neues Testament schreiben, das die Gültigkeit der Thora beendet.
Der Standpunkt von Prof. Slenczka ist logisch nicht widerlegbar und somit wissenschaftlich richtig.
Beabsichtigt der Deutsche Koordinierungsrat nur den Antijudaismus in der evangelischen Kirche eindämmen oder hat der Koordinierungsrat weitere existentielle Absichten?
Der Deutsche Koordinierungsrat, der Dachverband der Christlich-Jüdischen Gesellschaften, darf die Auffassung von Prof. Slenczka nicht teilen, weil diese Auffassung sich gegen das Selbstverständnis und die Existenz des Deutschen Koordinierungsrates richtet. Insbesondere läuft der Koordinierungsrat Sturm gegen die Möglichkeit, das AT aus dem evangelischen Kanon ganz zu entfernen. Der Sinn der Gesellschaften für Christlich-Jüdischer Zusammenarbeit ist die Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, liegt also nur auf religiösem Gebiet. Die meisten Christlich-Jüdischen Gesellschaften haben es geschafft, den Judenstaat Israel vom Judentum zu entkoppeln, da ein relevanter Teil ihrer christlichen wie jüdischen Mitglieder zum Antizionismus neigen. Das AT/die Thora ist das letzte gemeinsame Band, welches Christen und Juden in den Gesellschaften für Christlich-Jüdischer Zusammenarbeit eint. Löst sich das letzte gemeinsame Band auf, so brechen auch der Deutsche Koordinierungsrat und mit ihm die Christlich-Jüdischen Gesellschaften auseinander.
Nun darf man Prof. Slenczka keineswegs vorwerfen, bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten den Untergang der Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit im Sinn gehabt zu haben. Laut Prof. Slenczka verrichten die deutschen Gesellschaften für Christlich-Jüdischer Zusammenarbeit eine notwendige Arbeit, damit die Evangelische Kirche nicht auf den als Antizionismus getarnten Antisemitismus hereinfällt. Denn angesichts der 2000 Jahre jüdischer Exilgeschichte hält Prof. Slenczka den Staat Israel in sicheren Grenzen für absolut wünschenswert und alternativlos.
Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Notger Slenczka,
Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie/Dogmatik
der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
für die hilfreiche und ausgezeichnete Beratung
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