Zwei Jahre lang ging in Braunschweig ab November 2011 ein Wohltäter um, der Geld an Bedürftige verteilte. Alles begann mit einem Artikel in der „Braunschweiger Zeitung“ über einen Handtaschenraub in der Stadt. Wenig später lag ein Briefumschlag ohne Absender bei der Stiftung Opferhilfe. In seinem Inneren befanden sich zwanzig Fünfhundert-Euro-Scheine. Weitere Geldspenden für eine Suppenküche, die Braunschweiger Tafel oder eine Kita mit immer exakt 10.000 Euro folgten. Und oft lag dem Geld ein Artikel aus eben jener Zeitung bei, in dem ein bestimmtes Wort unterstrichen oder angekreuzt war. Der stille Engel outete sich nie. Offensichtlich las er von diversen Nöten in der Zeitung und schlich dann mit seinem Kuvert voller Scheine durch die Nacht, um seinen Geldsegen zu verteilen.
Genau diesen „Fall“ hat Daniel Glattauer in seinem neuen Roman aufgegriffen und daraus eine sprühend-witzige, aber auch nachdenkliche Geschichte gestrickt. Allerdings siedelt er sie in Wien an und webt zudem noch mehrere reale Ereignisse aus seiner Heimatstadt ein. Seinen Glücksinitiator und Ich-Erzähler nennt er Gerold Plassek. Der 43-Jährige mit Hang für absteigende Äste hat es sich als Journalist bei einem „weitgehend kulturlosen Blatt für ein weitgehend kulturloses Publikum“ mehr oder weniger bequem gemacht („Im Nichtstun war ich der ungekrönte Kaiser“). Nur der meist zu tiefe Blick in alkoholgeschwängerte Gläser gemeinsam mit seinen Kumpels in Zoltan's Bar reißt ihn von Zeit zu Zeit aus seiner Lethargie („Ich war nie hungrig gewesen, immer nur durstig.“). Doch plötzlich steht er ungewollt im Zentrum einer „höheren Bestimmung“: „Mein Schicksal war regelmäßig eine Spur zu hoch für mich. Okay, wenn es wenigstens jemals oben geblieben wäre. Aber nein, irgendwann kam jedes meiner höheren Schicksale zu mir herunter und sagte 'Guten Tag'. In diesem Fall in Form meines vierzehnjährigen Sohnes.“
Ab sofort sitzt Manuel, ein Vollpubertärer „mit Graswuchs über der Oberlippe und einer Stimmlage zwischen unsachgemäß bedienter Violine und vergammeltem Bass“, von dessen Existenz Gerold bis vor wenigen Wochen nichts ahnte, am Nachmittag in seinem Büro und stört mit seiner ablehnenden, altklugen Art und Weise sein Nichtstun erheblich. Zu verdanken hat er dies Alice – Manuels Mutter und einem kurzem „Boxenstopp“ seinerseits vor fünfzehn Jahren. Nun „betreut“ er also während ihrer Abwesenheit den Jungen täglich für einige Stunden, ohne dass jener auch nur ansatzweise die genetische Identität seines Erzeugers erahnt. Manuels anfängliche Antipathie wandelt sich allerdings zunehmend in Bewunderung und immer intensivere Sympathie. Der Grund: Ein anonymer Spender hat Gerold Plassek offensichtlich zu seinem Glücksboten erkoren. Denn genau seine kurzen Notizen in den „bunten Meldungen zum Tag“ geben den Anlass, diverse Geldspenden in immer der gleichen Höhe an unterschiedlichste soziale Einrichtungen fließen zu lassen.
Mehr und mehr lässt „Geri“ fortan sein alkoholumnebeltes Gehirn zu Höchsttouren auflaufen, um gemeinsam mit seinem Sohn auf soziale Brennpunkte medial aufmerksam zu machen. Als er sich vehement für dessen Basketballkumpel Machmut und sein Familie – eine von Abschiebung bedrohte tschetschenische Familie – einsetzt und sich zudem erfolgreich gegen den zunehmenden, rasch zum Gegenteil pervertierenden Medienrummel stemmt, steigt er endgültig auf der Beliebtheitsskala des Buben. „Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich in der Lage war, ihm ein echtes Vorbild zu sein, nämlich darin, wie man die Dinge subjektiv sehen konnte, wenn sie sich objektiv ganz anders darstellten. Damit konnte man gar nicht früh genug beginnen, denn das war auf Dauer wichtig, um zu überleben.“
Ob in seinen über viele Jahre unter dem Kürzel „dag“ auf der Titelseite des „Standard“ erschienen Kolumnen oder in seinen Romanen: Bei Daniel Glattauer darf und soll auch dort gelacht werden, wo es vordergründig gar nicht so komisch zugeht. Charmant und ernsthaft, mit großartigem Zeilenwitz und vielen kleinen, mehr zwischen den Zeilen versteckten, als plump offensiven Pointen, fährt der Autor zu absoluter Hochform auf. Mit seiner ausgeprägten und präzisen Beobachtungsgabe sowie einer fast schon körperlich spür- und fühlbaren Liebe zu Sprachmelodie und geschliffenen Formulierungen entpuppt sich „Geschenkt“ als Buch über einen abgestumpften Boulevardjournalisten, einen unauffälligen, sich nie vordrängenden Mann und spät berufenen Vater, der über seine offensichtliche Unscheinbarkeit hinauswächst und mit wenig Tamtam trotzdem großes Aufsehen erreicht. Ein packender, federleichter und doch inhaltsschwerer Text, bei dem charmant-humorvoll und gespickt mit jeder Menge Selbstironie die Wertigkeit der realen Welt hinterfragt wird. Und natürlich kommt auch hier die Liebe nicht zu kurz. E-Mails spielen allerdings nur eine marginale Rolle. Glattauers Protagonisten, die zuweilen mit einer kakiorangenen Ohrfärbung aufwarten, die kein „bekannter Maler jemals so hinbekommen hätte, weder Vermeer noch Gauguin – und schon gar nicht Van Gogh“, fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes eher intensiv auf den Zahn.
Fazit: „Jeder Satz war vollgepfropft mit Leidenschaft, und das war eine Kunst, die weder eine Journalistenschule noch eine Literaturschmiede lehren konnte – aus Buchstaben gebaute Gefühle in eine Badewanne zu gießen und sein Leserpublikum dort mitten hineinzusetzen.“ Dieser zitierte Satz aus Daniel Glattauers neuem Roman trifft den Duktus von „Geschenkt“ absolut treffend. Pathetisch überzogen könnte man ihn auch als „Kombipack aus Liebe und Schmerz“ bezeichnen. Ein Buch über das Große im Kleinen, das Bedeutende im Unscheinbaren, über Geben und Nehmen, über Verantwortung und Lebensleichtigkeit. Ein Text, der literarisch und stilistisch überaus gelungen und überzeugend eine Antwort auf die Fragen: Wer bin ich und was will ich? sucht.
Daniel Glattauer
Geschenkt
Deuticke Verlag (August 2014)
336 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3552062572
ISBN-13: 978-3552062573
Preis: 19,90 EUR
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