„Ich schreibe etwas zitterig, doch es geht. Aber wird Dich dies alles, was ich da schreibe, noch angehen, Claude? Bist du nicht am Ende auch eingestellt in das Gegenwärtige, das Zielbewusste, den Sinn der Zeit? Und ich veralte immer mehr mit meinen Gedanken an das vergangene, vergehende Paris und an die Gebärden eines Mädchenkindes, das inzwischen längst aus meinem Leben verschwunden und am Ende auch eingestellt ist in das Jetzt. Vielleicht ist sie inzwischen Braut oder kriegsgetraute Gattin eines Fliegerhelden oder U-Boot-Kommandanten.“
Arnold Wächter schreibt diese Zeilen, diesen Briefroman, aus dem Schützengraben des 1. Weltkriegs, an seinen Pariser Freund. Sehnsüchtige Erinnerungen an eine Zeit noch vor wenigen Wochen, Monaten. Trotz des momentanen Weltkampfes, des Entsetzlichen, das nicht benannt wird, sondern nur erahnen wird, malt er sich die Welt in seinen Gedanken und Worten neu. „Der letzte Mieter des Verfallenen“ schreibt sich im Dunkeln den Weg in das Vergangene wieder sichtbar. Er führt das unterbrochene Gespräch fort, dieses „ganze Aussichherausgleiten und sich als etwas anderes wiederfinden, während Auge und Geist doch nur Farben und Formen feststellen und Wissen und Erinnerung dazu Nachricht flüstern.“ Wächter spinnt sich im Vergitterten und Befremdeten in seine Erinnerungen ein. Erinnerungen an eine Stadt, die ihn eine kurze Zeit verführte, „das Leben der Lebendigen“ mitzuspielen und natürlich an die neunzehnjährige Berlinerin Charlotte. Lotte, die er auf einem Kinderfest einer Schulfreundin seiner mütterlichen Geliebten Hertha kennengelernt hatte, wo sie als Gaston verkleidet in eine Hosenrolle geschlüpft war. Das quirlige, knabenhafte Mädchen will malen und das richtige Paris kennenlernen. Wächter soll es ihr zeigen. Und so beginnt eine endlose flânerie zu Parks und Plätzen und zu Personen, ins Quartier Latin, zu St. Julien le Pauvre, der ältesten Kirche von Paris oder zu Landpartien in der douce France.
Es ist ein Hineingleiten in den Text Franz Hessels, ein Sichverlieben in „diese Prosa mit ihrer feinen Mischung aus Andeutungen und Genauigkeit, ihrem kunstvollen Geflecht aus leichthin Assoziiertem, Erinnertem, scheinbar Oberflächlichem und sehr präzisen Beobachtungen und Beschreibungen, garniert mit theaterhaft intensiven Dialogen.“, wie es Manfred Flügge in seinem Nachwort zu diesem herrlichen, auch optisch genussvollen Kleinod des leider etwas in Vergessenheit geratenen Schriftstellers überaus treffend zu formulieren weiß. Hessel bietet ein Sammelsurium an Beschreibungen und atmosphärisch dichten, oft alltäglich wirkenden Beobachtungen. Leicht kommen sie daher, und doch erfährt man aus ihnen viel über die Gesellschaft und ihre Verwerfungen. Empfehlenswert ist es, seinen leisen, unprätentiösen, unaufdringlichen, beinahe philosophisch zu nennenden Text mehrfach zu lesen, denn erst dann entfaltet er sich in seiner wahren Schönheit, mit seinen unzähligen biografischen Details und auch Kommentaren zur Zeit.
Die „Pariser Romanze“ ist ein unglaublich sensibles Werk, ein Sinnieren und Reflektieren über die Liebe, Freundschaft und Ehe, über Freiheit und Gebundenheit, über Heimat und Fremde, über Kunst und Leben, über Frankreich und Paris. „Und sie ist die Traumverwandlung des eigenen Lebens, als hätte der Autor jene Berlinerin nicht geheiratet, dabei war doch schon 1917 der zweite Sohn zur Welt gekommen, Stephan. Verfremdete Autofiktion, so könnten Fachleute dergleichen nennen.“, erläutert Flügge. Viele Personen aus der „Pariser Romanze“ verkehrten mit Hessel. So entlarvt sich der Angeschriebene Claude bei genauerem Hinsehen als Kunstmakler, Übersetzer und Gelegenheitsjournalist Henri-Pierre Roché, mit dem seine Frau Helen kurze Zeit nach dem Erscheinen ein Verhältnis beginnt. Lotte ist natürlich Helen. Picasso mutiert zum Maler Bilbao und Ephrussi steht für den bulgarischen Künstler Jules Pascin. Eine Strategie der sanften Umdeutung wie in allen Hessel-Texten.
Fazit: „Pariser Romanze“ entpuppt sich als sehr persönliche „Paris-Mythologie“, als Prosa-Dichtung, und hier möchte ich noch einmal Manfred Flügge zu Wort kommen lassen: „in die man sich immer wieder neu verlieben kann, wie in jene vertraute und doch immer wieder 'wunderbare fremde Stadt', ganz behutsam versteht sich, und manchmal dem Augenschein zum Trotz.“ Ein Text, der in wunderschön gebundenes Halbleinen, mit Fadenheftung und einem durch die Malerin Simone Lucas gestalteten Einband einen ebenbürtigen Rahmen erhält.
„Denn in dem beständigen Vergehen hörte nichts auf. Und im Einschlafen fühlte ich noch Licht in der Dunkelheit, und Duft im Geruch meiner ausgelöschten Kerze.“ (Franz Hessel: Pariser Romanze)
Franz Hessel
Pariser Romanze
Papiere eines Verschollenen
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge
Lilienfeld Verlag (September 2012)
134 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3940357286
ISBN-13: 978-3940357281
Preis: 18,90 EUR
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