Cora Stephan: Margos Töchter, Roman, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2020, 400 Seiten

wissen buch bibliothek gläser lehrbuch. Quelle: DariuszSankowski, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Fiktion oder Wirklichkeit? Bereits mit Ab heute heiße ich Margo (siehe meine Besprechung auf GlobKult) schrieb Cora Stephan in einer klugen wie einfühlsamen Weise, so dass es ab und an schwerfiel, Fiktion und Wirklichkeit zu trennen. Gab es Margo? Gab es Leonore? Gab es Clara? Gab es Stasi-Stahl? Jein. Diese Figuren sind Cora Stephans Schöpfungen. Soweit zum Nein im Jein.

Aber es gab und gibt solche Menschen unter uns, die genauso lebten, litten, sich verstrickten, Opfer und Täter, ja sogar Opfer undTäter in einem waren und sind. Selbst die Ideen der bis heute wirkende Sekte des Marxismus-Leninismus sind täglich spürbar. Die Antifa als quasi Subunternehmen verschiedener Ministerien ist anders als zu Teilungszeiten originärer Bestandteil politischer Anschauungen bis in höchste und allerhöchste Ämter geworden. Für so manchen ehemals Oppositionellen wirkt vor diesem Hintergrund der 3. Oktober 1990 inzwischen als der Tag des Beginns der West-Ausdehnung der DDR. Von wegen die DDR ist 1990 untergangen.

Erich Loest formulierte in seiner Fiktion Ratzel speist im Falco in trefflichen Worten seine Sicht auf die vermeintlichen Verlierer von damals, die für ihn die eigentlichen Sieger sind: Ratzel: »Wir haben den Staat und die Staatssicherheit abgegeben, denn die Stasi hat doch nichts mit der Partei zu tun. Wichtig ist, dass wir die Partei erhalten, das Parteivermögen retten und unsere Posten besetzen. Und wenn das Schwein fett genug ist zum Schlachten, übernehmen wir wieder die Macht.«

Soweit Erich Loest. Cora Stephan lässt auf Seite 267 ihren eigenen Ratzel namens Hans Stahl (Stalin sic?) zu Wort kommen. Stählern erklärt er der verunsicherten Leonore »Es ist noch nicht vorbei, weißt Du. … Das glauben nur die Plattmacher im Westen. Wir werden ihnen ihren Triumph vergällen«.

Was für ehedem Ostdeutsche normal ist, sich in das Damals im Stasistaat hineinzuversetzen, das dürfte einer in westlichen Gefilden aufgewachsenen dem prallen Leben schon immer zugewandten Frau bei allem guten Willen weniger leicht fallen. So die voreingenommene Vermutung. Selbsterlebtes wiegt anders als Erzähltbekommenes.

Cora Stephan widerlegt die Annahme eindrucksvoll. Nicht nur ich gewinne den Eindruck, da habe sich jemand in unsere Situation im Freiluftgefängnis DDR dermaßen tief eingelassen, die Erzählerin müsse eigentlich Nachbarin gewesen sein. Dazu kommen bei Cora Stephan die tatsächlichen Lebenserfahrungen aus dem alten Westen der Bundesrepublik. Ihr gelang mit den Töchtern nun zum wiederholten Male eine gesamtdeutsche Familiengeschichte, die nicht nur lesens- sondern auch verfilmenswert ist. Halt – wer verfilmt sowas noch in Zeiten des ›Great Reset‹? Ohne Filmförderung keine Filme. Ohne klimatologisch besorgte, ohne schwule oder lesbische, ohne nichtweiße junge Filmakteure gibt es keine Filmförderung mehr. Die Kassen sind standortabbau- und coronabedingt knapp, Geld ist nur noch gegen Haltung zu haben. Margos Enkeltöchter werden wohl mit Fahrenheit 451 im Wiederholungsjahr 1984 geboren werden und leben lernen müssen. Im Moment sieht es jedenfalls so düster aus. Aufhellung nicht in Sicht, nicht einmal auf der Farm der Tiere.

Nach diesem zugegebenermaßen sehr pessimistischen Blick ins Wasserglas zurück zum Roman und zu Margos Töchtern. Die Stasi war überall und überall in Ost- und Westdeutschland fing sie sich Komplizen, versuchte es zumindest. Und wenn das mittels des Leims der Pionierrepublik ›Wilhelm Pieck‹ am Werbellinsee organisiert wurde. (Dank an dieser Stelle an die Verfasserin, auch dieses Freiheitsdorf potemkinscher Prägung aus der Versenkung geholt zu haben. Wir vergessen zu viel). Seite 47: »An einem Abend mit Lagerfeuer und Geklampfe – Leonore hatte es gewagt, die Lieder aus dem Osnabrücker Singekreis vorzutragen – saß Clara plötzlich neben ihr, du Leo tat etwas, das ihr hinterher furchtbar peinlich war. Sie lud alles bei Clara ab – die Sache mit dem Pfarrer und ihrer Mutter und weshalb sie sich auf den Umzug aufs Land geradezu freute, obwohl sie nicht dort hingehörte. Ein Wunder: Clara hörte ihr zu. … Sie stellte Fragen, ganz ernsthaft, so, als ob sie es wirklich wissen wollte: Was tat ihre Mutter, was machte ihr Vater beruflich?…«

Mit Speck fängt man Mäuse, Leonore war mit Zuhören einzufangen und wurde zu einem sprudelnden Quell für Clara – die Kundschafterin des DDR-Friedens.

Leonore hatte auf ihrem Weg keine Chance, dem RAF-Umfeld auszuweichen. Genossen müssen geschützt werden, der demokratische Staat ist Gegner. Leonore bekommt die Gratwanderung hin. 1968-West (APO) und 1968-Ost (Prager Frühling – Leonore spürt wichtige Unterschiede. Im Westen ging es ideologisch überhöht um die Weltrevolution, im Osten nackt um die Freiheit. Leonore stellte auf Seite 100 desillusioniert fest, dass es selbst bei den Germanisten um den »tendenziellen Fall der Profitrate« ging.

Ich versetze mich in diese Zeit und bekomme die Tür nicht zu. Soviel Blödheit war uns, ich bitte für diesen Ausdruck um Entschuldigung, die wir im östlichen sozialistischen Versuchslabor der West-68 leben mussten, nicht vorstellbar. Das mit dem Wunsch nach Einheit hätten wir uns 1989 anders überlegt, hätten wir geahnt, wieviel solcher Blödheit wir nach 1989 in der realen Bundesrepublik antreffen würden.

Leonore spürte das alles auch. »Aber die Magie war verraucht, seit August 1968. … Sie verstand sie nicht mehr, die Leute, die von der Sowjetmacht als ›Vaterland des Sozialismus‹ schwärmten. … Der Traum war ein Irrtum gewesen, man konnte den Sozialismus nicht reformieren. … Leonore fühlte sich zwischen den Fronten.«(S. 101).

Leonore stolpert über Buchenwald. Nicht nur über das nationalsozialistische Konzentrationslager, auch über das kommunistische Speziallager. Unschuldig nach 1945 ins Lager und dort sogar sterben? Für Leonore ein Dilemma. Dann die ›Werwölfe‹ … für Leonore kam es immer dicker. »Als ich das Lager endlich verlassen durfte, war ich achtzehn. … so um die siebentausend sind im SpezLager II verreckt. … Aber. wir waren schuld am Krieg.“ Auch im Krieg gibt es Regeln. Auch für den Fall der Niederlage. Die Zivilbevölkerung war zu schonen.«

– ein Gespräch zwischen Leonore und Helga Schubert auf den Seiten 106/107.

Cora Stephan »schickt« Jana, Leonores Tochter später im Jahr 2011 auf den Seiten 145 bis 150 in die Stasiunterlagenbehörde nach Berlin. Das kann sie ihr nicht ersparen. Die Autorin hat sich das alles selbst angeschaut, sich mit Zivilbevölkerung, vielen Zeitzeugen und Opfern über diese Situationen unterhalten. Wer wissen will, wie es sich anfühlt, kann auch Margos Töchter lesen. ›Es‹ kommt authentisch rüber. Glückwunsch! »Nach einem halben Tag auf dem unbequemen Behördenstuhl tat Jana alles weh, nicht nur das Herz«.

Cora Stephan erspart dem Leser nichts. Auch nicht die Hysterie nach Tschernobyl, nicht den NATO-Doppelbeschluss (Seite 188), nicht das Waldsterben (Seite 189), nicht den RAF-Terror der 80er Jahre (S. 190), jede Welle wird angesprochen.

Der stählerne Hans Stahl schickt 1977 – auf Seite 287 – seine Kundschafterin des Friedens Clara in den Westen. Sie möge sich bereithalten. Stahl zitiert Ulbricht, der schon vor Jahren von einer wachsenden Kooperation der DDR mit der BRD und sogar von einer möglichen Konföderation gesprochen haben soll. »Es ist nicht ausgeschlossen, dass es irgendwann zu einer Vereinigung beider deutscher Staaten kommt«.

Dreizehn Jahre später häufen sich bei Clara alias Gila Heger die Aha-Erlebnisse. Sie lernt den Wirtschaftsboss und Sozialdemokraten Detlev Karsten Rohwedder kennen und gegen ihre ursprünglichen Anschauungen schätzen. Rohwedder war als gebürtiger Ostdeutscher mit Herzblut dabei. Dieser Mann kam nicht als kalter Abräumer und brutaler Existenzenzerstörer. Rohwedder fand eine völlig desolate Wirtschaft vor. Gila, die Stasifrau in Clara, begriff das und unter Tränen schrieb sie drei Tage nach dem Mord an dem Mann »der ihr Freund geworden war« ihren letzten Artikel für den Rundblick. »Der Mann war nicht linken Spinnern im Wege gewesen. Er hatte eine Gefahr für die alten SED-Genossen bedeutet.« (Seite 362). Ihr Text wurde nicht gedruckt. Aha. »Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. Wie Lenin sagte: ›Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück‹. Der Kampf geht weiter. Bist du dabei?« – Hans Stahl an Clara alias Gila auf Seite 371.  

Der Roman ist bis zuletzt spannend. Ich empfehle das Selberlesen und höre an dieser Stelle auf. Bis auf eine grundsätzliche Bemerkung als Liebhaber der Rockmusik: Für Rockmusikinteressierte sind Cora Stephans Einschübe von Rocktiteln aus Teilungszeiten besonders interessant. Ostdeutsche Jugendliche konnten das alles nur durch den Stacheldraht mitbekommen und erhaschen. Der Westen war ein großer Sehnsuchtsort für Beat-Fans und später Rück-Freaks. Die Jugend im Westen konnte ihre Idole livehaftig erleben, unsereiner wurde für hundert statt vierzig Prozent abspielen von Westmusik und wegen des Liedchens Moscow von »The Wonderland« vom Discomachen per FDJ-Beschluss im März 1975 befreit.


zuerst erschienen auf GlobKult

Finanzen