Cioran
Es herrscht kein Mangel an musikwissenschaftlichen Abhandlungen. Anders verhält es sich mit Musik-Philosophie: Zeitgenössische Ästhetik befasst sich viel eher mit Bildender Kunst und Literatur. Sollte die viel beschworene Sprachferne aller Musik – aller guten Musik – deren theoretische ‚Zurichtung’ erschweren? Ist Philosophie über Musik am Ende unmöglich? Nicht ganz: Das 19. Jahrhundert hat mehrere gehaltvolle Musikphilosophien hervorgebracht. Vor allem Schopenhauer und Nietzsche sind zu nennen. Ihre Interventionen tragen den Stempel des Genies und scheinen beglaubigt durch die Kraft ursprünglichen Erlebens. Wie armselig nehmen sich jene ‚Musikphilosophien’ aus, die ‚aus Verlegenheit’ entstehen, als Lückenbüßer innerhalb eines Systems der Ästhetik: In musikalischen Belangen sind Kant und Hegel wahre Philister.
Im 20. Jahrhundert begegnen kaum irgendwelche ‚Musikphilosophen’. Gewiss, da ist Adorno. Doch was marxistisch, ‚dialektisch’, ist an seinen Schriften, erscheint veraltet. So gibt es recht besehen gibt es keinen, der E. M. Cioran, dem letzten Gnostiker, dem Aphoristiker, Hysteriker und Meisterdenker der Musik, das Wasser reichen könnte. Nicht, dass er viel geschrieben hätte. (Geschwätzig war er nie, er liebt Prägnanz und Kürze. Darum galt er als bester Stilist der Franzosen.) Allein, wir verdanken ihm manche der einsichtsvollsten, prägnantesten Bonmots zur Musik. Lassen wir einige Prägungen E. M. Ciorans Revue passieren.
Wie alle, denen Musik am Herzen liegt, ist Cioran durchdrungen von der Erfahrung, dass Musik an ‚ontischer’ Potenz der Philosophie und allen Wissenschaften überlegen ist:
« Les idées sont des mélodies defuntes. » (490)
[„Ideen sind abgestorbene Melodien.“ Zitiert nach der französischen Gesamtausgabe bei Gallimard, Paris 1995. Übersetzung Daniel Krause.]
Der Philosophie will es nicht recht gelingen, den ‚metaphysischen’ Vorrang der Musik vergessen zu machen. Selten wurde das so geistreich auf den Punkt gebracht:
«À quoi bon fréquenter Platon, quand un saxophone peut aussi bien nous faire entrevoir un autre monde.» (Ebd., 797)
[„Weshalb sich mit Plato befassen, wenn uns auch ein Saxophon eine andere Welt ahnen lässt.“]
Cioran bestimmt die ‚Diskursform’ der Musik – und die Gründe ihrer Überlegenheit:
«La méditation musicale devrait être le prototype de la pensée en général. Quel philosophe a jamais suivi un motif jusqu’à son épuisement, à son extrême limite? Il n’y a de pensée exhaustive qu’en musique. Même après les philosophes les plus profonds, on éprouve le besoin de recommencer à zéro. La musique seule nous donne des réponses définitives.» (Ebd., 313f)
[Alles Denken sollte dem Muster der musikalischen Kontemplation folgen. Welcher Philosoph hätte je ein Motiv vollständig ausgeschöpft, bis zur äußersten Grenze? Nur in der Musik findet wahrhaft erschöpfendes Denken statt. Selbst wenn man die tiefgründigsten Philosophen gelesen hat, empfindet man das Bedürfnis, von Grund auf neu anzusetzen. Nur die Musik gibt uns endgültige Antworten.]
Nicht allein Philosophie und Theologie werden in die Schranken gewiesen – Gott selbst bezieht seine raison d’être aus der Musik. Cioran fasst eine musikalische Theodizee und Kosmogonie ins Auge:
«Sans Bach, la théologie serait dépourvue d’objet, la Création fictive, le néant péremptoire. S’il y a quelqu’un qui doit tout à Bach, c’est bien Dieu.» (Ebd., 797)
[Ohne Bach würde der Theologie ihr Gegenstand fehlen: die eingebildete Schöpfung und das allumfassende Nichts. Wenn es jemanden gibt, der Bach alles verdankt, so ist es Gott.]
Cioran, der Sohn eines Popen, als Gotteslästerer? In Wahrheit ist er ein kraftvoller Denker religiöser Ekstase, Teresa von Avila seine liebste Lektüre. Es trifft nicht eigentlich zu, dass Cioran die Musik über oder neben die Religion stellt – Musik und Religion ist es um ein und dasselbe zu tun. Das Universum selbst stellt sich als Klanggebilde dar:
«La nostalgie de la mort élève l’univers entier au rang de la musique.» (Ebd., 451)
[Die Sehnsucht nach dem Tode erhebt das Universum in den Rang der Musik.]
Hier scheint die pythagoreische Weltenharmonie durch, wiewohl in den herbstlichen Farben eines radikalen, grundstürzenden ‚Pessimismus’. Doch so düster diese Zeilen klingen – sie enthalten – beinahe – einen Gottesbeweis:
«Il y eut un temps où, ne pouvant concevoir une éternité qui m’eût séparé de Mozart, je ne craignais plus la mort.» (Ebd., 798)
[Es gab eine Zeit, da ich den Tod nicht mehr fürchtete: Ich konnte mir eine Ewigkeit ohne Mozart nicht vorstellen.]
Mit Cioran ist Musik per se religiös, metaphysisch bestimmt – ganz gleich, ob im weltlichen oder geistlichen ‚Fach’. Es bedarf keiner liturgischen Indienstnahme oder erbaulicher Texte. Sonaten und Opern entfalten dieselbe transzendierende Kraft wie Oratorien und Choräle:
«Il n’y a au fond de musique que religieuse. Dans son sens ultime, la musique ne peut pas être l’organe d’expression de ce monde. De même: il n’y a au fond de musique que triste. […]» (Ebd., 246)
Cioran führt beide Perspektiven zusammen, in einem funkelnden Bonmot:
«La musique, système d’adieux, évoque une physique dont le point de départ ne serait pas les atomes, mais les larmes.» (Ebd., 798)
[Die Musik ist ein endloser Abschied: Sie ruft eine Physik in uns auf, die nicht auf Atomen gründet, sondern auf Tränen.]
Das ist gewiss keine neue Erkenntnis (wenngleich wie neu formuliert): Ein viel zitiertes Aperçu Franz Schuberts besagt, er kenne keine fröhliche Musik. Zwar gibt es Humor in der Musik, besonders bei Haydn: Das reicht vom derben ‚Furzen’ des Fagotts zu süffisanten harmonischen Wendungen und – nicht zuletzt – zur Parodie kompositorischer Einfalt. (Das bekannteste Beispiel ist Mozarts Ein musikalischer Spaß, KV 522. Hier werden dümmliche Komponisten aufs Korn genommen.) Auch gibt es heitere Stimmungen, speziell in jenen Sätzen, die mit ‚Allegro’ oder ‚Andante’ überschrieben sind. Doch Fröhlichkeit? Man müsste bis Rosamunde hinabsteigen (nicht Schuberts Rosamunde ist gemeint…). Ob ihre schenkelklopfende Lustigkeit nicht zugleich die Traurigkeit der Depravation verströmt, wie alle Schlager und volkstümlichen Lieder – es mag an dieser Stelle offen bleiben.
Ciorans erste Leidenschaft gilt Bach, aber als Kronzeuge fürs ‚Geistige in der Musik’ gilt ihm auch Bachs Antipode: Keiner hat Erhellenderes über Mozart geschrieben, Busoni, Alfred Einstein, Wolfgang Hildesheimer eingeschlossen. Ein schlimmes Versäumnis, dass im „Mozart-Jahr“ 2006 allerhand Bücher und Büchlein neu aufgelegt wurden – nicht aber Ciorans Schriften:
«Il se dégage de certains andantes de Mozart une désolation éthérée, et comme un rêve de funérailles dans une autre vie.» (Ebd., 798)
[Manches Andante von Mozart verströmt eine ätherische Trostlosigkeit, als träumte es von Begräbnissen im anderen Leben.]
Mozart und Bach bilden die Angelpunkte des musikalischen Weltbilds und Wertesystems E. M. Ciorans. Trotzdem vermag er, sich anders geartete Musik anzuverwandeln. Sie nimmt dann, unvermeidlich, das triste „Violett“ Cioranschen ‚Weltschmerzes’ an:
«Chopin a promu le piano au rang de la phtisie.» (Ebd., 798)
[Chopin hat das Klavier in den Rang der Schwindsucht befördert.]
Kein Zweifel: Wer seine Art von Musikalität nicht teilt, wird Ciorans Schriften – ihrem Gehalt nach – ablehnen müssen. In der ‚Außenperspektive’ scheinen Ciorans Schriften hochgradig idiosynkratisch, extravagant. Man kann sie in toto verwerfen – oder, von vornherein, einverstanden sein. Eines ist aber in jedem Fall zuzugestehen: Unter allen ‚Musikschriftstellern’ ist Cioran der größte Stilist. Solche Verdichtung, Prägnanz und Genauigkeit – Musikalität – ist selten, sonst nie, anzutreffen. Das wird jeder Leser, auch der Gegner, anerkennen. Auf den Klang der Sätze kommt es an:
„Ideen sind abgestorbene Melodien.“
Celibidache
Ein anderer Rumäne, geboren 1912 – wie E. M. Cioran – hat Ähnliches vertreten, in ähnlich idiosynkratischer, allerdings nüchternerer Form. Musik ist Sergiu Celibidache das Medium des Absoluten. (Das einzige.)
In Anlehnung an Edmund Husserl und dessen Phänomenologie – der ‚Lehre von den Phänomenen’, d.h. den ‚Bewusstseinsinhalten’ – hat Celibidache ein Vokabular etabliert, das es gestattet, das ‚Geistige in der Kunst’ zu erfassen: Musik besteht nicht aus Tönen, sondern aus deren Beziehungen. Sie „transzendiert“ den Klang, ist demnach nicht ‚hörbar’.
„Bei einer Reihe von klanglichen Wahrnehmungen verschwindet jede einzelne Erscheinung und es entsteht die Frage: Was bleibt? Was bleibt, ist die Beziehung, die nur durch Transzendenz erfahrbar ist. Der transzendierende Geist ist weder bei dem ersten Glied einer Relation, noch bei dem zweiten, sondern er überschreitet alle beide und eignet sich die Essenz ihrer […] Beziehung an.“ (Sergiu Celibidache: „Über musikalische Phänomenologie“, München 1985, 27)
Musik entfaltet sich als Wechselspiel zweier gegenläufiger Tendenzen: „Expansion“ und „Kompression“, „extroverter“ und „introverter“ Kraft. Diese Ausdrücke lassen sich näherungsweise durch ‚Anspannung’ und ‚Entspannung’, ‚Kadenz’, übersetzen. Der eine Augenblick extremster Anspannung muss als der Höhepunkt jeder Komposition gelten:
„Wie weit kann die Expansion sich ausdehnen? Bis sie sich nicht weiter ausdehnen kann! Dieser […] Punkt jeder expansiven Entwicklung heißt der ‚Höhepunkt’. Dieser Wendepunkt, wo die extroverte Richtung der Expansion in die introverte umschlägt, ist der […] Angelpunkt, um welchen sich jede Form von musikalischer Architektur funktionell gliedert.“ (Ebd., 45)
Das Zusammenhang von „Expansion“ (Differenz, Distanz zur Grundtonart) und „Kompression“ (Identität, Wiederholung, Rückkehr zur Grundtonart) beschreibt das Universalgesetz aller Musik – so Celibidache –, gleich, ob es sich um Palestrina handelt oder Alban Berg. Beim Variationen- wie beim Sonatensatz wird dieses Widerspiel offenkundig, doch auch die Fuge, selbst Schönbergs Reihentechnik wären zu nennen. Zumal die Themen Brahmsscher Sinfonien erscheinen nicht als in sich abgeschlossene Gestalten, sondern – im Sinne „entwickelnder Variation“ – als ‚Knoten’ von Entwicklungsmöglichkeiten. Dichte beziehen solche Themen aus der Anzahl künftig einzulösender Variationsmöglichkeiten, als Katalysator eines möglichst komplexen Entwicklungszusammenhangs. (Die dichteste solcher Texturen ist Brahms mit dem ersten Satz seiner Vierten Sinfonie gelungen.) Nicht zufällig zählt Brahms neben Bruckner, Haydn und Beethoven zu Celibidaches musikalischen Hausgöttern.
Dies Sicht auf Musik mag dazu verhelfen, eine Merkwürdigkeit der Musikpsychologie zu verstehen: Bachs „Goldbergvariationen“ sind weder das bekannteste noch das beliebteste Werk der Musik, als eigentlich „gelungen“ gelten sich ebenso wenig – Glenn Gould konnte ungestraft behaupten, manches darin gehöre zum Dümmsten, was Bach geschrieben habe –, aber kaum irgendwelche Musik wird so innig geliebt: In Umfragen firmieren die „Goldbergvariationen“ – von niemand anderem als Gould vorgetragen – als jenes Werk der Musik, das Hörern am meisten am Herzen liegt. Es handelt sich, unzufälligerweise, um eine Variationenfolge: Hier liegt jenes Formprinzip vor, das Differenz und Identität, „Expansion“ und „Kompression“ – und damit das Gesetz das Atems – am eindringlichsten formuliert (nicht weniger als einunddreißig Mal). So verwundert es nicht, dass E. M. Cioran die „Goldbergvariationen“ als „über-essentielle“ Musik bezeichnet: Musik, die hinsichtlich ihres ontischen Reichtums „überdeterminiert“ scheint – und darum die halb bewusste Liebe der Hörer weckt.
Zum Schluss
E. M. Cioran und Sergiu Celibidache helfen gleichermaßen, solche Zusammenhänge verstehen. Deswegen ist es geboten, beide zu lesen – und 1912 als annus mirabilis zu verehren.
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