Christine Lieberknecht: Erinnerung an Helmut Kohl: „Kanzler der Einheit“ – mit Vertrauen, Leidenschaft und Menschlichkeit

Helmut Kohl – Was bleibt? © Thomas Tröster
Helmut Kohl – Was bleibt? © Thomas Tröster

Von Christine Lieberknecht

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Es ist dieser bekannte Ausspruch von Mark Twain, der mir in den Sinn kommt, wenn ich die deutschland- und weltpolitischen Ereignisse zeit meines Lebens vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse. Es war in meinem  Geburtsjahr 1958, als die Sowjetunion den damaligen westlichen Alliierten Großbritannien, Frankreich und den USA unmissverständlich zu verstehen gab, dass Berlin eine „freie und entmilitarisierte“ Stadt werden solle. Ultimativ forderte der sowjetische Regierungs- und Parteichef Nikita Chruschtschow den Abzug der alliierten Truppen aus Berlin und einen Friedensvertrag mit Deutschland. Für den Fall der westlichen Verweigerung drohte er in einem zweiten Ultimatum mit der DDR einen separaten Friedensvertrag zu schließen, einschließlich der Übergabe der vollen staatlichen Souveränität. Dies hätte u.a. ein uneingeschränktes Kontrollrecht der DDR über alle Verbindungswege zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin bedeutet. Nach der Berlin-Blockade von 1948 lösten die sowjetischen Drohungen damit binnen weniger Jahre die „Zweite Berlin-Krise“ aus. Der Westen blieb standhaft. An der Verteidigung der Freiheit West-Berlins ließen die Westmächte keinen Zweifel. Beide Ultimaten verstrichen für die Sowjetunion ergebnislos. Die DDR errichtete am 13. August 1961 die Berliner Mauer gegen den Freiheitswillen ihrer eigenen Bevölkerung; die Mauer, die bis zum 9. November 1989 für 28 Jahre die DDR hermetisch von West-Berlin abriegeln sollte.

Auch heute, mehr als sechs Jahrzehnte nach den damaligen Ereignissen, beherrschen ultimative Forderungen, unterstrichen durch militärische Drohgebärden, von russischer Seite gegenüber den westlichen Ländern und deren Verteidigungsbündnis, der NATO, die aktuelle Nachrichtenlage. Auch heute geht es um Akzeptanz oder Verweigerung von Freiheit und Selbstbestimmungsrechten unabhängiger Staaten im Konflikt zwischen Russland und der westlichen Staatengemeinschaft. Die Gefahr eines beginnenden Krieges durch den Einmarsch russischer Truppen in souveräne Staaten im östlichen Europa ist nach dem europäischen Völkerfrühling von 1989/90 wieder sehr ernst und real geworden.

Wie großartig, wie wunderbar und weltgeschichtlich wohl einmalig, mutet angesichts der einstigen Blockkonfrontation zwischen Warschauer Pakt und NATO und den heutigen erneuten Expansionsbestrebungen und Drohgebärden Russlands die historische Ausnahmesituation der Überwindung des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, eingebettet in die europäische Einigung von 1989 und zu Beginn der 1990er Jahre, an.

Für mich ist das Gelingen der deutschen Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und in einem geeinten Europa die größte staatspolitische Leistung, die ein deutscher Bundeskanzler im Einklang mit unseren europäischen Nachbarn, gemeinsam mit Amerika und der Sowjetunion, zu meinen Lebzeiten überhaupt erreichen konnte. Freilich geschah das nicht voraussetzungslos, und nicht zuletzt waren es mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR, die den, bis an die Zähne bewaffneten, DDR-Machthabern unter Gefahr für das eigene Leben auch innenpolitisch die Stirn geboten hatten. Aber dass mit der mutig errungenen Freiheit in der DDR auch die Schaffung der staatlichen Einheit gelingen konnte, war alles andere als selbstverständlich. Heute wissen wir, wie schmal das zeitliche Fenster für diesen Glücksmoment der deutschen Geschichte war. Zum äußerst beherzten und gleichermaßen leidenschaftlich wie besonnenen Einsatz für die deutsche Einheit durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl gab es keine Alternative.

Im entscheidenden historischen Moment ergriff Helmut Kohl den „Mantel der Geschichte“ und wurde zum Garanten für Millionen ostdeutscher Landsleute zur Erfüllung ihrer jahrzehntelangen Sehnsucht nach Freiheit und Einheit.

Der zielsichere Einsatz von Helmut Kohl für die deutsche Einheit kam bei ihm aus seinem tiefsten Herzen. Niemals hatte er zu Zeiten der Teilung die Ostdeutschen aufgegeben. Privat bereiste er mit seiner Familie die DDR, weil ihn die Menschen im Osten Deutschlands interessierten. Auch ich selbst habe Helmut Kohl stets als den Menschen zugewandt erlebt. Dabei spielten weder Stand noch Hierarchie eine Rolle. Er interessierte sich, kam ins Gespräch und wollte wissen. Sprichwörtlich ist sein enormes Gedächtnis. Helmut Kohl vergaß nichts, nicht im Kleinen und nicht im Großen. Er hatte ein feines Gespür für Vertrauen, für Bodenständigkeit und Redlichkeit. Helmut Kohl kannte die Geschichten der Menschen, die ihn umgaben und denen er begegnete. Er kannte die Geschichten von Krieg und Frieden und die Geschichten von Triumpf und Niederlagen von Staaten, die sich fest in das kollektive Bewusstsein von Völkern und Volksgruppen eingebrannt hatten. Auch er selbst war geprägt von den Kriegserlebnissen seiner Familie, dem frühen Tod seines Bruders Walter im Zweiten Weltkrieg.

Sein aus den persönlichen Erlebnissen heraus geprägter leidenschaftlicher Wille zum Frieden, verbunden mit einer jederzeit abrufbaren profunden Kenntnis deutscher und europäischer Geschichte und seinem aufrichtigen Interesse an den Menschen, für die und mit denen er Politik machte, gaben ihm persönliche Überzeugung und Sicherheit, auch in Konfliktsituationen das Richtige zu tun und am Ende mit den notwendigen Mehrheiten durchzusetzen. Ohne Wenn und Aber stand Helmut Kohl zum NATO-Doppelbeschluss, der seinen Vorgänger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Schmidt von der eigenen Partei verlassen, das Amt gekostet hatte. 300.000 Demonstranten im Bonner Hofgarten waren zwar eine gewaltige Zahl. Aber sie waren nicht die Mehrheit des deutschen Volkes. Ohne Wenn und Aber hielt Helmut Kohl als Bundeskanzler am Gebot der deutschen Wiedervereinigung fest, auch wenn andere das als „revanchistisch“ und als „Gefahr für den Frieden“ betrachteten.

Helmut Kohl zeichnete sich aus durch eine wohl begründete und klare Haltung, bei der er keine Kompromisse kannte. Genauso klar und verlässlich war er in dem Vertrauen, das er anderen entgegen brachte und in gleicher Weise von anderen erfuhr. Dieses Vertrauen der entscheidenden Akteure zur Vorbereitung und Durchsetzung der deutschen Einheit untereinander ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Das galt für das Verhältnis des deutschen Bundeskanzlers zum damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush ebenso wie zum Generalsekretär der KPdSU und sowjetischen Staatspräsidenten Michael Gorbatschow. Unvergessen ist mir das persönliche Bekenntnis von Helmut Kohl am 17. Juni 2005 am einst „heißesten Ort im Kalten Krieg“, dem ehemaligen östlichsten Stützpunkt der Amerikaner in der hessisch-thüringischen Rhön, auf point alpha. Vor etwa 7.000 Menschen gab Helmut Kohl Einblicke in seine Situation als deutscher Kanzler, die vom Mainstream des Zeitgeistes so wohl kaum je erfasst worden sind. Für die Erlangung der Wiedervereinigung unseres Landes hingegen war das, was damals zwischen den drei Staatenlenkern möglich war, existentiell. Helmut Kohl erinnerte daran, dass es möglich ist, „auch unter Politikern in entscheidender Verantwortung Vertrauen zu haben, Vertrauen zu erwerben und Freundschaft zu schaffen. Das kann man nicht kommandieren und das geht nicht über Nacht. Aber zu meinem Leben in den entscheidenden Stunden, die gerade auch heute hier im Mittepunkt stehen, gehört einfach die Erfahrung, wenn man ganz allein ist, dass man jemanden anrufen kann, mit George Bush sprechen und ihm sagen kann: Ich kann das nicht, was ihr in Amerika jetzt denkt, ich muss aus meiner deutschen Sicht etwas anderes sehen und sagen. Und dass der Freund dann einen Moment überlegt und sagt: Du hast recht, mach das. Oder ich nehme das andere Beispiel, das hier schon genannt wurde: In der Nacht nach dem Fall der Mauer. Als die wichtigsten Machthaber in Ostberlin und auch wichtige Leute in Moskau zu Michael Gorbatschow sagten: Die Deutschen machen eine Revolution, verwüsten die sowjetischen Einrichtungen, Herr Generalsekretär, sie müssen die Panzer rauslassen. Heute am 17. Juni ist ja der Gedanke ganz nah. Wenn Michael Gorbatschow in dieser Nacht nicht vertraut hätte und gesagt hätte: Ich glaube das nicht, und ich glaube auch nicht, dass Dr. Helmut Kohl so denkt, dann hätte die Entwicklung eine andere nehmen können. Ich glaube, Ihnen hier nicht schildern zu müssen, was gewesen wäre, wenn die erste Panzerdivision durch Ostberlin gerollt wäre… ich wünsche mir, dass die jetzige Generation, und ich sage das nicht ohne Grund, dass sie weniger übereinander und mehr miteinander redet.“ (in: J. Aretz/ C. Lieberknecht, Hrsg.: „Von Gorbatschow bis Biermann. Der Point-Alpha-Preis für die Einheit Deutschlands und Europas“ , Essen 2018, S.38)

Anders als am 17. Juni 1953 sind am 9. November 1989 in Berlin die Panzer in den Kasernen geblieben. Das wechselseitige Vertrauen zwischen Helmut Kohl, George Bush und Michael Gorbatschow hat die gesamte Zeitenwende von 1989/90 hindurch getragen. Es mag pathetisch klingen, für mich sind sie die drei Großen der Weltgeschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert. Um diesem persönlichen Bekenntnis, in dem ich mich mit mehr Menschen unseres Landes einig weiß, als es die allgemein veröffentliche Meinung und manche Vertreter der historischen Profession eventuell vermuten lassen könnten, öffentlich Ausdruck zu verleihen, engagiere ich mich seit vielen Jahren im 2003 gegründeten Kuratorium Deutsche Einheit e.V.. Die Verleihung des ersten „Point-Alpha-Preises für herausragende Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas in Frieden und Freiheit“ am 17. Juni 2005 gemeinsam an die früheren Präsidenten Amerikas und der Sowjetunion und den „Kanzler der Einheit“ hatte Helmut Kohl sichtlich bewegt. Der symbolträchtige Flug dreier Adler und deren sichere Landung auf den Armen von Bush, Gorbatschow und Kohl als Zeichen von Freiheit und Stärke für alle drei Nationen gehören zu den einmaligen und unauslöschlichen Bildern jenes Tages der Dankbarkeit und Freude inmitten einer Landschaft, die einst durch Stacheldraht und Todesstreifen durchschnitten war.

Auch ganz persönlich hat mir Helmut Kohl mit seinem leidenschaftlichen und erfolgreichen Einsatz für die deutsche Einheit in einem geeinten Europa in meinem Leben Chancen eröffnet, von denen ich vor der Friedlichen Revolution in der DDR nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Von ihm habe ich lernen können, dass es in der Politik, nicht anders als auch sonst im Leben, auf den Menschen ankommt, auf Zugewandtheit und Vertrauen. Helmut Kohl war für mich ein Meister im Hinweis auf zum Teil Jahrhunderte lang zurückliegende historische Ereignisse und deren Verständnis für aktuelle politische Entwicklungen und für Möglichkeiten und Zwänge, unter denen politische Verantwortung wahrgenommen werden konnte und musste.

Schade, dass die von Helmut Kohl zu Beginn seiner Kanzlerschaft angestrebte „geistig-moralische Wende“ im Gegensatz zu seinen großen deutschland- und europapolitischen Erfolgen nicht erreicht werden konnte. Das hätte nur gelingen können, wenn er – weit über seine Partei hinaus – Mitstreiter für dieses wichtige Ziel gefunden hätte. In seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 hat er sich dazu bekannt, den Frieden zu verteidigen und die Verlässlichkeit der Deutschen im Bündnis der freien Staaten zu gewährleisten. Und er hat – meines Wissens als erster Bundeskanzler – eine moralische Position bezogen, die heute endlich Gemeingut geworden ist. Helmut Kohl hat formuliert, dass wir in Zukunft nicht länger „auf Kosten der nachwachsenden Generationen“ leben dürfen.

Helmut Kohl – er war der Kanzler der deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Er war aber immer auch eine politische Persönlichkeit, für die in erster Linie Freiheit und Wohlfahrt der Menschen zählte, in seiner Zeit und weit darüber hinaus.

Titelbild:

© Thomas Tröster

Helmut Kohl – Was bleibt?

ISBN-13: 978-3-96940-465-2
2. überarbeitete Auflage 2023

Engelsdorfer Verlag
Preis: 18,00 Euro

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Über Christine Lieberknecht 1 Artikel
Christine Lieberknecht, CDU, war von 2009-2014 Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. Von 2008 -2009 war die evangelische Pastorin Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit. Von 2004-2008 Vorsitzende der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag. Von 1999-2004 war sie Präsidentin des Thüringer Landtags. Von 1994-1999 war Lieberknecht Thüringer Ministerin für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei, Bevollmächtigte des Freistaats beim Bund. Von 1992-1994 war sie Thüringer Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Bevollmächtigte beim Bund. In den Jahren von 1991-2019 war sie Mitglied im Thüringer Landtag, von 1990-1992 Thüringer Kultusministerin und von 1984-1990 Pastorin im Kirchenkreis Weimar.