China und seine 1,3 Milliarden große Bevölkerung haben innerhalb weniger Jahrzehnte die gravierendsten Veränderungen in der fünftausend Jahre alten Geschichte des Landes vollzogen. Nach verheerenden sozialistischen Experimenten wie der Kulturrevolution hieß es plötzlich Markt statt Plan, Leistung statt politischem Bewusstsein, Öffnung statt Isolation und Individualismus statt Kollektiv. Dass das Aufeinanderprallen eines ungezügelten Kapitalismus mit dem sozialistischen Erbe und der chinesischen Tradition nicht spurlos an der Bevölkerung vorbeigeht, kann man sich dabei lebhaft vorstellen. Denn die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche der letzten dreißig Jahre haben nicht nur das gesellschaftspolitische Rahmenwerk in China verändert, sondern auch das Leben in der Familie. Wie leben chinesische Familien heute? Wonach streben Eltern für Ihre Kinder? Unter welchen Bedingungen werden ländliche und städtische Jugendliche groß? Welche Rolle spielen Religion und Traditionen im Familienleben?
Mo Yan hat in dem vorliegenden schmalen Büchlein einen Blick zurückgeworfen. Er setzt sich mit den oben genannten Fragen auf seine ganz persönliche Art und Weise auseinander. Anlass gab ihm die Bitte eines indischen Verlegers, einen Essay zum Thema „Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus in den letzten dreißig Jahren“ zu schreiben.
Rückblickend auf seine Kindheit und Jugend Ende der sechziger Jahre bis hinein in die Siebziger des vergangenen Jahrhunderts, versetzt sich der chinesische Literaturnobelpreisträger wieder in den kleinen, einsamen Jungen, „der sich, obwohl er der Schule verwiesen worden war, angelockt durch den Lärm auf dem Schulhof, verschüchtert durch das Schultor stahl“, um einem Tischtennisspiel seiner Mitschülerin Lu Wenli und seines ehemaligen Lehrers Liu „Großmaul“ zuzuschauen, in dessen Resultat letzterem der Pingpong-Ball in den Mund flog und im Hals stecken blieb. Mo Yan erzählt von körperlicher Züchtigung des Lehrerkollegiums an den ihn „Untergebenen“, den Ursachen seiner Schulverweisung, die eine „falsche ideologische Einstellung“ als Hauptgrund aufführen und von seinem rebellischen, bewunderten Klassenkamerad He Zhiwu, der sich der Obrigkeit entgegenstellt. Er berichtet von seinem Werdegang als Aushilfskraft in einer Baumwollmanufaktur, seinen Träumen in einer beengten Welt, in der er seine Begabungen nicht frei entfalten konnte, bis hin zu seinem Eintritt in die chinesische Armee. Ein Schritt, der ihm die Chance gab, sein Schicksal zu verändern: die Überwindung seines Bauernstatus und dem damit verbundenen Dasein als „Mensch minderwertiger Klasse“. Ein Schritt, der es ihm letztendlich ermöglichte, an der Universität zu studieren und fortan sein Leben der Literatur zu widmen. Immer wieder kreuzen dabei He Zhiwu und Lu Wenli seine Bahn. Und diese beiden sind es letztendlich auch, die das schmale Büchlein zum finalen Abschluss bringen: jeder mit einer anderen Biografie und divergentem Entwicklungspotential.
„Bei diesem Text (…) handelt es sich im Grunde um ein Stück meiner Memoiren. Wenn etwas nicht den Tatsachen entspricht, liegt es allein daran, dass mir meine Erinnerung, da schon so lange Zeit verstrichen ist, einen Streich spielt.“, schreibt der Autor. In kurzen, einfachen Sätzen und immer wieder eingeflochtenen chinesischen Sprichwörtern zeichnet Mo Yan ein wunderbares Bild des kommunistischen, im Umbruch befindlichen Landes und seiner damit konfrontierten Einwohner. Er offenbart dabei den im Hörigkeitseifer gefangenen Staat genauso wie die Kontroversen der traditionsreichen Landbevölkerung versus der sie rasant überrollenden Moderne. Unterschiedlichste Denkweisen der ihn mehr oder weniger das ganze Leben begleitenden oder auch nur marginal kreuzenden Personen werden aufgezeigt und geben dem Leser einen kleinen Einblick in die doch so unterschiedliche Ideologien der chinesischen Bevölkerung. Wehmut klingt mitunter zwischen den Zeilen, die aber immer wieder mit einer gehörigen Portion Humor abgemischt wird.
„Verehrte Leser! Bitte haltet mich nicht für schwatzhaft, weil in meinem Kopf zu viel durcheinanderschwirrt.“, bittet Mo Yan. Diese vermeintliche Redseligkeit, ich würde es eher als Gedanken- oder Erinnerungsmäander bezeichnen, ist auch keineswegs der Grund für die etwas zwiespältig aufgenommene Lektüre. Die Ausführungen des chinesischen Autors sind hochinteressant, zuweilen erschreckend, aber immer wieder amüsant erzählt. Sie geben durchaus einen – wenn auch nur begrenzten – so doch erhellenden Einblick in diverse chinesische Ideologien und daraus resultierende, für einen Europäer zuweilen befremdlich erscheinende Verhaltensmuster. Aber – und hier liegt für mich die „Hauptkrux“ – sie enthüllen eine sehr einfache Erzählweise, die ich einem Literaturnobelpreisträger nicht zuschreiben würde. Ob dies der Übersetzung geschuldet ist, kann ich nicht beurteilen, aber grammatikalisch, als auch in Ausdrucksform und Diktion gleichen seine Erinnerungen den Gedankengängen eines stilistisch nicht so souveränen Autors. Hinzu kommen die vielen eingeschobenen Sprichwörter, die ihren Sinnzusammenhang in der deutschen Übertragung nicht entfalten, mitunter gar verweigern, da sie in ihrem Kontext nicht erfasst werden können. Dadurch gehen dem nicht mit den chinesischen Traditionen verwachsenen Leser wahrscheinlich viele feine und hintergründige Bedeutungen und Anspielungen verloren. Nichtsdestotrotz: eine erhellende und kurzweilige Lektüre.
Mo Yan
Wie das Blatt sich wendet
Eine Erzählung aus meinem Leben
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse
Titel der Originalausgabe: Change
Hanser Verlag (Februar 2014)
112 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446243380
ISBN-13: 978-3446243385
Preis: 12,90 EUR
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