Chemnitz wird Europas Kulturhauptstadt 2025 – wozu viele beitragen möchten

Eldorado für Kreative

Treppe, Foto: Benedikt Vallendar

Der 28. Oktober 2020 dürfte in die Annalen der Chemnitzer Stadtgeschichte eingehen. Ziemlich überraschend wurde an diesem Tag das frühere Karl-Marx-Stadt zur „Europäischen Kulturhauptstadt 2025“ gekürt. Und nicht nur das. Zusätzlich zum Titel gibt es 50 Millionen Euro Beihilfen von Bund und EU, worüber sich auch die vier städtischen Kunstmuseen und Galerien freuen dürften. Schon jetzt steht fest: Viel Geld wird fließen in die Stadt mit dem Konterfei des umstrittenen Vollbartträgers und selbst ernannten Weltverbesserers aus dem fernen Trier. „Dabei ist Chemnitz schon jetzt interessanter als sein Ruf“, befand kürzlich die Buchautorin Paula Irmschler in einem Interview mit dem Radiosender MDR-Kultur. Das schlechte Image drehe sich vor allem um die schlechte Verkehrsverbindung nach Leipzig und die graubraunen Bausünden aus DDR-Zeiten, so Irmschler, die der Stadt mit ihrem 2020 erschienenen Roman Superbusen ein „literarisches Denkmal“ gesetzt hat, wie Spiegel-Online lobte. Wie aus dem Nichts war es der 1989 in Dresden geborenen Autorin gelungen, mit ihrem Erstlingswerk um eine Chemnitzer Mädchenband den Blick der Öffentlichkeit auf die Stadt am Fuße des Erzgebirges zu lenken.  

Linkes Gelärme

Daher sei der Geldsegen aus Brüssel und Berlin „bei uns gut angelegt“, heißt es auch aus dem Pressebüro von Oberbürgermeister Sven Schulze. Und dennoch. So manchen nervt es, wenn der Stadt die politisch konservativen Strömungen innerhalb des örtlichen Parteiengefüges vorgehalten werden. „Politischer und religiöser Extremismus hat bei uns keinen Platz“, sagt Stadtsprecher Matthias Nowak, ohne das jedoch an einer Partei oder Religion festzumachen. Der Hintergrund: Noch immer hängen Chemnitz die Bürgerproteste nach der Tötung eines jungen Mannes durch zwei arabische Asylbewerber im Sommer 2018 nach. Damals zogen aufgebrachte Bürger durch die Chemnitzer Innenstadt und brachten ihren Unmut über das Verbrechen der beiden Muslime zum Ausdruck. Der erste Täter wurde gefasst und zu neun Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, nach dem zweiten, einem Iraker, wird bis heute gefahndet.

Blick in die Zukunft

Dessen ungeachtet ist die Stimmung in Chemnitz weiter heiter bis wolkig. Was wohl auch an den vielen Baustellen liegt, die der neue Oberbürgermeister in den kommenden Jahren wird stemmen müssen. Ob Straßensanierung, Krippenausbau oder die Vermarktung leerstehender Wohnimmobilien – die Liste der Vorhaben ist lang und keiner weiß, ob bis zum Stichtag 1. Januar 2025 alles fertig ist.  „Es wird der Stadt so guttun“, zeigte sich die Lokalpolitikerin Barbara Ludwig (SPD) fast euphorisch, nachdem verkündet worden war, dass Chemnitz ab 2025 europäischer Kulturhotspot sein würde. Um sie herum lagen sich an diesem 28. Oktober – Maskenpflicht hin oder her – Menschen in den Armen und träumten von einer Stadt in bunten Farben.

Cityblick, Foto: Benedikt Vallendar

Spuren der Vergangenheit

Denn bis dato war die „Stadt der Moderne“, wie sie auf braunen Hinweistafeln an der Autobahn 72 genannt wird, vor allem wegen des Häftlingsfreikaufs aus dem früheren Kaßberg-Gefängnis bekannt, wo eine Gedenkstätte an ein weiteres, trauriges Kapitel DDR-Geschichte erinnert. Was nur Wenige wissen: Das frühere Karl-Marx-Stadt galt als heimliche Hauptstadt der SED, deren Hofarchitekten dort besonders rücksichtslos gewütet haben. Plattenbauten, breite Boulevards und grau-hässliche Verwaltungsgebäude im Zuckerbäckerstil bestimmen seit den siebziger Jahren das Stadtbild und bieten doch auch Chancen, die vor allem junge Menschen für sich zu nutzen wissen.

Bunt und digital

Denn auch das gehört zur Wahrheit: Vieles wurde in Chemnitz in den letzten Jahren saniert, auf den neuesten Stand gebracht und dem digitalen Zeitalter angepasst. Modernes und der Mief des Vergangenen bilden in der „sächsischen Provinzstadt“, wie sie die Süddeutsche Zeitung einmal bezeichnet hat, eine leicht provozierende Melange, die abstoßend und faszinierend zugleich wirkt. Die geographische Abgeschiedenheit ist zugleich eine Stärke, glaubt gar der Historiker Wolfgang Blaschke von der FU Berlin.  Studenten aus aller Welt schätzen die gut ausgestattete Technische Universität, die vielen Grünflächen und auch die höchst günstigen Mieten zwischen vier und sechs Euro kalt pro Quadratmeter; ein Umstand, der vor allem der alternativen Kulturszene zugutekommt und auch religiöse Gruppen in die Stadt lockt, die dort beten, leben und missionieren, wie etwa der Neokatechumenale Weg, der in Chemnitz recht engagiert auftritt.

Auf die wachsende religiöse Vielfalt in der Stadt hat sich auch die Katholische Studentengemeinde (KSG) St. Boromäus eingestellt. „Wir freuen uns über jeden, der uns sucht und findet“, sagt Studentenpfarrer Marek Müller und betont die wachsende Internationalisierung seiner Gemeinde. Die katholische Kirche trage dazu bei, dass Chemnitz bunter und vielfältiger wird, und dass es abseits von Uni und Hochschulen besinnliche Oasen gebe, so Müller.

Bunte Innenstadt, Foto: Benedikt Vallendar

Im Visier der Staatssicherheit 

In den neunziger Jahren war die KSG Chemnitz auf knapp zehn Mitglieder zusammengeschrumpft, derweil zu DDR-Zeiten mehr als hundert dort ein- und ausgingen – oft im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das sich vor allem an den zahlreichen Verbindungen der Gemeinde zum kapitalistischen Ausland störte, wie ein ehemaliger, hauptamtlicher Mitarbeiter später gegenüber dieser Zeitung einräumte. Heute aber – Corona mal ausgeklammert – seien die KSG-Veranstaltungen in der Hohen Straße 1 wieder „gut besucht“, heißt es auf Nachfrage aus der Verwaltung.  

Mit Puschen zum Aldi

Was auch immer sich über Chemnitz schreiben ließe: In vielem ähnelt es dem, was man über andere Städte schreiben könnte. Und doch gibt es Dinge, die das Leben dort von anderen Universitätsstädten unterscheidet. „Fast wie im früheren Westberlin“, urteilt die Historikerin Jenny Krämer über Chemnitz, einer früheren Inselstadt, wo es längst nicht so schnieke zuging, wie in Düsseldorf, Hamburg oder München. Will sagen: Wo es fast schon normal war, wenn jemand mit Morgenmantel und Gummipuschen in der Warteschlange vor der Kasse stand, um sich mit Kaffee, Zigaretten oder Rosinenschnitten einzudecken; und das auch schon Mal gegen elf Uhr vormittags, wie es Krämer in ihrer Studentenzeit wiederholt erlebt hat, und was auch in bestimmten Ecken von Chemnitz gar nicht so selten vorkommen soll, wie sich die Leute erzählen. Mal abgesehen vom noblen Kaßberg-Viertel, das im Herbst 1989 völlig heruntergekommen war und heute von einem Zeitgeist zeugt, bei dem die Jahre der kommunistischen Diktatur immer mehr hinter einem Nebelschleier des Vergessens und Verdrängens zu verschwinden drohen.

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Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.