Promedia Verlag, Wien 2017
ISBN 978-3-85371-426-3
Der erste Abschnitt des neuen Buches trägt die Überschrift „Risse in der Megamaschine“. Zwischen beiden Büchern besteht offenbar Kontinuität. Auf den ersten Blick scheint jedoch verwirrend: Wenn bereits vom „Ende der Megamaschine“ die Rede sein konnte, warum müssen dann in der Folgepublikation erst noch „Risse in der Megamaschine“ erörtert werden? Hätte man nicht zuerst die Risse darstellen sollen, um allenfalls anschließend das Ende der Megamaschine zu verkünden? Diese Beobachtung nur am Rande.
Humane Ökonomie
Scheidler plädiert für den Versuch, eine bessere Zukunft im jeweiligen Hier und Heute beginnen zu lassen. Um tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen, bedürfe es keiner absoluten Mehrheiten. Vielmehr sollen 3 bis 5% der Gesellschaft genügen, sofern alles „klug und milieuübergreifend organisiert wird – denn in chaotischen Gesamtlagen können begrenzte Aktionen allergrößten Einfluss haben. Dann ließe sich eine am Gemeinwohl orientierte Wirtschaft aufbauen, die nicht länger der Geldvermehrung dient. Scheidler fasst den Ausstieg aus der Megamaschine ins Auge, während sie noch läuft. Einen Namen hat die neue Gesellschaftsform noch nicht. Wir könnten sie Gemeinwohlgesellschaft nennen oder – vielleicht besser – von einer „humanen Ökonomie“ sprechen, wie es David Graeber in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ (2011) tut. Scheidler macht deutlich, dass sich eine solche Wirtschaftsform – um diesen Titel zu verdienen – von destruktiver Konkurrenz ebenso weit entfernt haben muss wie von zentralstaatlicher Planung.
Das Chaos
Scheidlers Bücher „Das Ende der Megamaschine“ und „Chaos“ sind selbst kleine Megamaschinen. Aber im positiven Sinne: Es sind Megamaschinen der Verarbeitung und Aufbereitung eines umfassenden kapitalismuskritischen Materials, das uns unsere Lage und Chancen besser verstehen lässt.
Der neue Titel „Chaos“ ist bereits in Scheidlers Buch „Das Ende der Megamaschine“ von 2015 angelegt, wo er eingangs notiert: „Die zunehmende Instabilität des globalen Systems bringt… eine außerordentliche Situation hervor, in der auch relativ kleine Bewegungen großen Einfluss auf den Gesamtprozess und seine Ergebnisse nehmen können.“ Man versteht diese Aussage vielleicht am besten vor dem Hintergrund gewisser Prämissen des Welt-System-Analytikers Immanuel Wallersteins. Wallerstein zufolge ist der Kapitalismus ein System. Im Anschluss an den Chemiker Ilya Prigogine meint Wallerstein, dass allen Systemen eine begrenzte Existenzdauer beschieden ist. Alle Systeme, mechanische Systeme ebenso wie Lebewesen oder soziale Systeme, so Prigogine, beginnen irgendwann zu existieren; eine Zeitlang funktionieren sie „normal“, um irgendwann in eine Phase einzutreten, in der sie aufhören zu existieren. Das Symptom für den Niedergang eines historischen Systems ist Wallerstein zufolge ebendieses „Chaos“. Laut Wallerstein leben wir in Zeiten eines das kapitalistische Weltsystem erfassenden Chaos. Wir erleben das Ende eines 500 Jahre alten Systems. Wallerstein:
„Wir leben in einer sehr schlechten Zeit, wenn es um die persönliche Sicherheit und die Möglichkeit des Vorhersehens von irgendetwas geht. Aber es ist auch eine gute Zeit, da sie der menschlichen Kreativität mehr Raum gibt. In normalen Perioden haben wir sehr wenig Raum für authentische Veränderungen, während die Epoche des Chaos ihnen zum Durchbruch verhilft. Jede kleinste Aktion hat Einfluss auf den Verlauf des Spiels. Man kann also sagen, dass es eine sehr interessante Epoche ist. Oder wie es ein altes chinesisches Sprichwort sag: ‚Wir haben das große Glück, in interessanten Zeiten zu leben.‘“ (http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Weltordnung/wallerstein.html) Auf Scheidlers interessante Ausführungen zu China komme ich weiter unten zu sprechen.
Komplizite Gesellschaft
Während Scheidler eine bedarfsorientierte Gemeinwohlgesellschaft ins Auge fasst, konstatiert er, dass die Mehrheit der Menschen passiv bleibt und sich so verhält, als hätte sie das Wort Klimawandel niemals gehört. Um die wenigen chronisch überlasteten Aktivisten etwas zu entlasten, empfiehlt Scheidler eine Reduktion medialen Konsums und Einschränkungen des Konsums und der Anwendung von Technologien, die die Menschen davon abhält, die reale Situation zu erkennen und zu verändern. Auf diese Weise bediene der Mobilfunk falsche Bedürfnisse.
Statt nun aber mit konkreten Dingen zu beginnen, so Scheidler wartet man auf den großen gesellschaftlichen Bruch und wird am Ende vom negativen Wandel überrollt. Hier touchiert Scheidler den Umstand, dass wir in einer, wie ich sie nennen möchte, kompliziten („mittäterlichen“) Gesellschaft leben.
Selbstredend ist die Mittäterschaft in der kompliziten Gesellschaft nicht überall freiwillig. Im Bereich der Lohnarbeit ist sie erzwungen. Vor diesem Horizont formuliert Scheidler schlagende Sätze wie: „Dieses System führt in eine Welt, in der die Menschen immer härter dafür arbeiten, die Welt immer schneller in den Abgrund zu wirtschaften, und am Ende, nach vollendetem Zerstörungswerk, selbst ausgebrannt zurückzubleiben.“ Hieraus ergeben sich für Scheidler Forderungen nach einer Zurückdrängung der Dominanz der Lohnarbeit und einer Reduzierung des Arbeitsvolumens zumindest auf die Hälfte des aktuellen Produktionsvolumens.
Terrorhysterie?
Von gesellschaftlicher Veränderung werden wir jedoch durch ein Terror-Narrativ abgehalten, welches den Status quo zementiere. Im Abschnitt „Terror: die große Ablenkung“ spricht Scheidler von „Terrorhysterie“ und benennt die wahren „Gefährder“. Zu ihnen gehört ein VW-Chef, der Hunderttausende potentiell tödlichen Lungenkrankheiten aussetzt; eine Kanzlerin mit ihrem Finanzminister, die die EU mit einer Kaputtsparstrategie zu ruinieren drohen oder Regierungen anderer NATO-Staaten, die eine neue Runde atomarer Aufrüstung eröffnen. Auch wenn diese Beobachtung zutrifft, scheint Scheidlers Zahlenwerk nicht immer einwandfrei. So konstatiert er, dass bei Terrorakten in der westlichen Welt zwischen 2000 und 2015 mit 595 Menschen vergleichsweise wenige Personen ums Leben gekommen sind. Offenbar hat Scheidler die Toten vom 11.9.2001 in New York vergessen. Eine andere Zahl: In „Die Grenzen der Biosphäre“ spricht Scheidler von acht Milliarden Tonnen Plastik, die seit den 1950er Jahren hergestellt wurden, dies entspreche dem Gewicht von einer Milliarde Elefanten; damit wöge ein Elefant durchschnittlich acht Tonnen, was nicht zutrifft.
Bedingungsloses Maximaleinkommen im Wohlfahrtsstaat für Konzerne
Wie groß die Aufgabe ist, vor der wir stehen, bemisst sich daran, dass Scheidler zufolge alle systemischen Kräfte, die sich in den zurückliegenden 500 Jahren gebildet haben, gegen den Wandel arbeiten und die Prämisse der modernen Megamaschine in die Poren der Gesellschaft eingeimpft und in unsere Köpfe unverlierbar eingeflüstert zu haben scheinen: aus Geld mehr Geld zu machen. Auf diese Weise sei unsere Phantasie gleichsam amputiert worden, weshalb Scheidler mit dem utopischen Aufbrauch in den Jahren ab 1967 sympathisiert.
Scheidler hilft unserer Phantasie auf die Sprünge, indem er dem verbreiteten Schimpfen auf Sozial-Schmarotzer endlich die richtige Zielgruppe zuordnet. Dies sind nicht die Empfänger von wenigen Hundert Euro monatlich, sondern die Empfänger eines „bedingungslosen Maximaleinkommens“. Nicht Sozialhilfe-Empfänger müssen sich schämen, sondern Personen, die in diesem Wohlfahrtsstaat für Konzerne ein leistungsloses Einkommen aus Eigentumsansprüchen beziehen: Sozialismus für Reiche auf dem Wege staatlicher Alimentierung der Konzerne. Während Zeitungen dem Sozialhilfeempfänger Bescheidenheit predigen, da ja die schönen Steuergelder fremder, schuftender Bürger für ihn aufgewendet werden mussten, zeigt Scheidler auf, wie gewählte Regierungen Steuergelder in die Hände der Reichsten kanalisieren.
Eigentum und Geld
Vor diesem Hintergrund sei die herrschende Eigentumsordnung ist zu revidieren. Sie spiegelt die extremistische Position des Römischen Rechts wider: Der Eigentümer an einer Sache genießt sein unumschränktes Recht auf eine Art und Weise, die alle anderen Menschen – unter Androhung von staatlicher Gewalt – davon ausschließt. Scheidlers berechtigte Ausführungen erinnern an diejenigen von D. Graeber in seinem Buch „Schulden“.
Wie zuvor in seinem Buch „Das Ende der Megamaschine“, vertritt Scheidler in „Chaos“ die Auffassung, vor 2300 Jahren habe die Geldwirtschaft erstmals im antiken Griechenland das gesamte Leben durchdrungen. Ob dies tatsächlich so war, darf unter Hinweis auf die Frage bezweifelt werden, inwieweit Geld als erste aus der älteren gesellschaftlichen Synthesis herausgelöste Proto-Ware tatsächlich alle anderen Dinge des täglichen und außeralltäglichen Bedarfs zu Waren gemacht hatte und es somit vor 2300 Jahren in Griechenland bereits eine eigenlogische Produktion von Waren gab (man lese hierzu etwa Robert Kurz‘ Buch „Geld ohne Wert“ (Berlin 2012)).
Zurecht erinnert Scheidler daran, dass Geld immer auch ein Fetisch ist, der soziale Beziehungen versteckt, es ist ein Symbol für Beziehungen zwischen Menschen. Fern davon, bloß ein neutrales Mittel für den Warentausch zu sein, ermöglichte Geld in der Spätantike und im frühneuzeitlichen Europa den Aufbau gigantischer Söldnerarmeen als Fundamente staatlicher Zwangsgewalt und expansionistischer Bestrebungen. Nicht erst mit Anheben der neoliberalen Ära, sondern seit 500 Jahren sind in Europa Staat und Kapital im Perpetuum mobile der Geldvermehrung verzahnt, sind Staaten eben keine Zusammenfindungen von Bürgern zwecks Gemeinwohlsteigerung, sondern Herrschaftsapparaturen mit dem Ziel der Geldvermehrung.
Sollte man folglich das Geld nicht besser abschaffen? Während der Gesellschaftskritiker Robert Kurz sich dafür aussprach, bleibt Scheidler vorsichtig: Die Abschaffung des Geldes sei weder einfach noch in allen Fällen wünschenswert. Ziel müsse eine „zukunftsfähige Geldordnung“ sein – was immer man sich darunter vorzustellen hat.
China
Im dritten Teil seines „Chaos“ preist Scheidler die chinesische Ziviliation mit ihrer bisherigen Geschichte als Alternative zum Westen. Was sind die maßgeblichen Unterschiede? Wie an vielen Stellen seiner Bücher zur Megamaschine scheint sich Scheidler auch für China an den Ausführungen Graebers (siehe sein Buch „Schulden“) zu orientieren: Wie in der westlichen Antike wurde das von Privatpersonen erfundene Münzgeld in China vom Staat monopolisiert und zur Bezahlung der Soldaten ausgebildeter Berufsarmeen eingeführt. Anders als die Staaten des frühneuzeitlichen Europas jedoch verschuldete sich der chinesische Staat zum Aufbau von Militär und Verwaltung nicht bei Händlern/Bankiers, sondern erhob von Anfang an Steuern. Im alten China wurden Märkte zwar durchaus gefördert, anders als in Europa wurden Monopole jedoch konsequent verhindert.
Zwar seien bereits im 11. Jh. in China Schwarzpulver und Feuerwaffen erfunden worden, so Scheidler in „Chaos“, doch „ließ sich das Land nicht auf einen Rüstungswettlauf ein wie die Europäer, die diese Erfindungen im 13. Jahrhundert importierten und von da an bis zum heutigen Tage eine nicht enden wollende Spirale der Aufrüstung in Gang setzten…“ Der Zweck des chinesischen Militärs sei nicht die Eroberung gewesen, sondern die Landesverteidigung.
Scheidlers Ausführungen zu China könnten geeignet sein, ein fragwürdiges Bild zu vermitteln: Bereits im 2. Jahrhundert vor der Zeitrechnung wurde in China Stahl hergestellt: Stahlwaffen ersetzten Bronzewaffen. In der Han-Dynastie war die Eisenherstellung das bedeutendste und aktivste Handwerk. Im Jahr 117 v.d.Z, nach Einführung eines staatlichen Monopols für Eisen, wurden 48 Gießereien mit jeweils bis zu 1000 beschäftigten Arbeitern eröffnet (vgl. Jacques Gernet, Die chinesische Welt). In China reiht sich die Militärwissenschaft in eine lange Geschichte technischer Fortschritte ein. Im Jahr 1044 erschien eine wichtige Abhandlung über die Kriegskunst mit dem Titel „Sammlung der wichtigsten Militärtechniken.“ Und aus dem Jahr 1621 ist eine weitere große Abhandlung über die Kriegskunst überliefert.
Der Zeitraum vom 11. bis 13. Jahrhundert ist in China eine Phase erheblicher Weiterentwicklungen in der Militärtechnik. Wahrscheinlich im Kontext alchemistischer Experimente in taoistischen Kreisen wurde in China das Schießpulver erfunden und zu Beginn des 10. Jahrhunderts militärisch angewandt. Joseph Needham schreibt über das Schießpulver: „Es stimmt nicht, dass die Chinesen… so human waren, es nur bei Feuerwerken einzusetzen.“ (Joseph Needham, Wissenschaftlicher Universalismus) Man stellte Brandgeschosse her (fliegendes Feuer) sowie Sprenggranaten. Es entstanden Spezialkorps mit Soldaten etwa für Brandwaffen oder für Wurfmaschinen. Die Erfindung oder Perfektionierung neuer Waffengattungen, die man schließlich in Arsenalen serienmäßig herstellte, wurde durch Prämien gefördert. Hierzu gehört ein Petroleum-Flammenwerfer. Im Jahr 1132 wurden Mörser oder Raketenwerfer aus dicken Bambus- oder Holzrohren genutzt. Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Wurfmaschinen mit Sprenggranaten bestückt. Anfang des 13. Jahrhunderts kennt China den Einsatz von Explosivgeschossen mit Metallhülle. Während der Kriege zwischen der Song-Dynastie und den Mongolen kamen Mörser mit Metallrohren aus Eisen oder Bronze zum Einsatz. In seinem Buch „Die militärische Revolution“ spricht Geoffrey Parker von einer „Perfektion metallener Kanonenrohre Mitte des 13. Jahrhunderts“ in China. Bei alledem, so J. Gernet, scheint die Zerstörungskraft chinesischer Feuerwaffen wegen eines größeren Salpeteranteils im chinesischen Schwarzpulver geringer gewesen zu sein als die Vernichtungskraft europäischer Waffen.
Vor dem mutmaßlichen Import von Schwarzpulver und/oder Feuerwaffen wurde in Europa gegen Ende des 12. Jahrhunderts aus China die Mangonel oder Steinschleuder übernommen. Die Steinschleuder sollte die Kriegführung noch vor der Entwicklung der Feuerwaffen revolutionieren. Denn sie machte Belagerungen gefährlicher, weil sie sich auf Befestigungsanlagen fast ebenso zerstörerisch auswirkte wie Kanonenschüsse (hierzu das Kapitel „Die chinesische Renaissance“ in Gernets Buch „Die chinesische Welt“).
Es gab eine Besetzung Vietnams (1406-27) durch China, den Krieg der Ming gegen Japan 1595-98 und gegen Korea 1593-98). Im Jahr 1497 waren chinesische Kanonen im Kampf gegen Vietnam in großem Stil zum Einsatz gekommen. Kanonen und Handfeuergewehre mit größerer Zerstörungskraft wurden in Ostasien (Japan) von den Portugiesen übernommen, während man in China zunächst weiter auf traditionelle Mörser vertraute. Erst seit den schwierigen Kämpfen des Heeres der chinesischen Ming-Dynastie gegen Truppen des japanischen Shogun Hideoshi in Korea 1593–1598 bemühten sich die Ming um einen Einsatz europäischer Geschütze. Wir haben es demnach mit einem „Re-Import“ einer in den Grundzügen in China erfundenen, aber in Europa mit größerer Zerstörungskraft versehenen Waffengattung zu tun (so die Überlegung Gernets).
Obwohl die Chinesen mit bewaffneten Expeditionsschiffen Ceylon invadierten oder 1522 mit ihrer Schiffsartillerie vor Tunmên eine portugiesische Flottille schlugen, vertrauten die Ming-Machthaber offenbar weder auf dem Land noch zur See auf Musketen oder Geschütze. Dies mag laut Geoffrey Parker in seinem Buch „Die militärische Revolution“ mit der geringen Treffgenauigkeit oder einer nichtgemeisterten Gefahr explodierender Waffen zusammenhängen.
Wie jeder andere Staat, sei auch der chinesische immer schon ein Herrschaftsapparat gewesen. Aber Kriegsführung und Ausbeutung sind laut Scheidler in China enge Grenzen gesteckt worden. Dem steht entgegen: China unterhielt Kolonien und beutete seine Nachbarländer regelrecht aus: Die Mongolei, Tibet, Japan, Indonesien – wie wir etwa in Fernand Braudels „Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts“ nachlesen können. Halten wir uns an Jacques Gernets Werk „Die chinesische Welt“, so sind Handwerkeraufstände und Aufstände im Bergbau vom Ende des 16. Jahrhunderts an charakteristisch für die Ming-Zeit. Mitte des 15. Jahrhunderts war das staatliche Monopol auf die Ausbeutung von Bergwerken zunächst gelockert worden, um dann umso brutaler durchgesetzt zu werden. Laut Gernet zählte man 1,5 Millionen Vertriebene oder Tote.
Scheidler selbst erwähnt den Taiping-Aufstand ab 1851, in dessen Verlauf 20-30 Millionen Menschen ihr Leben verloren. In der Darstellung Scheidlers strebte die Bewegung zwar nach einer klassenlosen Gesellschaft, „war aber zugleich zutiefst autoritär, repressiv und von religiösem Fanatismus geprägt.“ In seiner Darstellung bleibt u.a. unberücksichtigt, dass die Taiping-Bewegung zugleich feministisch war: Der seit der Song-Zeit verbreitete Gebrauch des Füßeeinbindens bei jungen Mädchen wurde verboten und bei der Landverteilung erhielten Frauen ein ebenso großes Stück wie Männer. Während der Taiping-Führer Hong Xiuquan in der Darstellung Scheidlers „von einem amerikanischen Missionar mit christlich-apokalyptischem Gedankengut versorgt wurde“, wurde die Taiping-Bewegung laut Jacques Gernet insbesondere auch vom Buddhismus, Taoismus und weiteren Traditionen geprägt, und den christlichen Missionaren sei das durch und durch heterodoxe Element des Christentums der Rebellen aufgefallen. Spätestens an dieser Stelle scheint es, dass Scheidler manche chinesische Übel dem Westen anlasten will, für die er nicht unbedingt verantwortlich zeichnet.
Zum chinesischen Sonderweg gehören nach Scheidler die Erfolge von Volksaufständen. In markantem Unterschied zum Westen in Antike und früher Neuzeit sei in China das revoltierende Volk immer wieder maßgeblich für den Sturz unterdrückerischer Regierungen gewesen. Dieser Sichtweise steht allerdings folgende Darstellung Jacques Gernets entgegen: „Die Bildung von Armeen, die von der Zentralmacht unabhängig waren, die Sezession aristokratischer Familien, die Infiltrationen und Aufstände von ehemaligen Nomadenstämmen, die sich in China angesiedelt hatten, und die Invasionen aus der Steppe haben bei den ‚Dynastiewechseln‘ eine größere Rolle gespielt als die Bauernaufstände.“
Doch selbst wenn zutrifft, dass es in der chinesischen Geschichte nicht zu weniger menschlichem Elend gekommen ist als in der Geschichte des Westens, kann Scheidler mit Recht einen chinesischen Sonderweg festmachen: Bis auf den heutigen Tag behält der chinesische Staat „die Kontrolle über das Finanzsystem, den Kapitalverkehr, die Währung und Teile der Industrie… Nur dadurch kann China langfristige ökonomische, soziale und auch ökologische Ziele über Jahrzehnte hinweg verfolgen und ist nicht, wie die meisten anderen Staaten, Marktbewegungen hilflos ausgeliefert.“ So sei der Rückgang der Armut in der Welt in den Statistiken der Weltbank nahezu gänzlich darauf zurückführbar, dass in China in zurückliegenden Jahrzehnten eine halbe Milliarde Menschen die Armut hinter sich ließen. Dieser Aufstieg besticht zumal im Vergleich mit Indien.
Wie schon in seiner Vergangenheit sei auch das heutige China „nicht von den Wünschen des militärisch-industriellen Komplexes dominiert.“ Wegweisende friedenspolitische Perspektiven scheinen für Scheidler gleichsam in die chinesische Geschichte eingeschrieben. Hierin gründet für ihn die Zukunftsträchtigkeit einer neuen europäisch-asiatischen Sicherheitsarchitektur, die an die Stelle der Feindbilder pflegenden und Konflikte schürenden NATO tritt. Sie gehöre „auf die Tagesordnung von allen Menschen, die sich für eine friedliche Transformation einsetzen.“
Dazu passt nicht ganz, dass der chinesische Präsident Xi Jinping in seiner Eröffnungsrede auf dem 19. Parteitag der KP am 18. Oktober 2017 klar vom chinesischen Führungsanspruch in Asien redete. Er bemerkte, die bis 2035 auf den neuesten Stand der Technik zu bringenden chinesischen Streitkräfte seien zum Kämpfen da. Die chinesischen Rüstungsbemühungen dienen nicht unbedingt nur der Landesverteidigung. Der Bau von Landeplätzen auf künstlichen Inseln scheint nur eine Zwischenlösung zu sein: Eine Flugzeugträgerflotte ist in Vorbereitung. Haben wir es wirklich mit dem Erwachen eines friedlichen Riesen zu tun?
Chinas gigantisches Infrastrukturprojekt OBOR (One Belt One Road) zur Entwicklung Asiens – auch neues „Seidenstraßenprojekt“ genannt –, ist ein Entwicklungsplan, der über Asien hinaus bis nach Europa und Afrika reicht. Autoritäre Regimes asiatischer und afrikanischer Staaten dürften die chinesische Kombination wirtschaftlicher Erfolge mit einem autoritären politischen System attraktiv finden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die von Scheidler nicht hinreichend erörterte Frage, welches Wertesystem im Windschatten chinesischer wirtschaftlicher Dominanz zumal im Hinblick auf verbliebene Presse- und Meinungsfreiheiten gedeihen mag. Ein wirtschaftskonformer Konfuzianismus könnte wie in früheren Zeiten zum ideologisch-imperialen Aushängeschild chinesischer Großmacht werden. Und schließlich soll via OBOR die chinesische Währung, der Renminbi, zur globalen Reservewährung werden (vgl. Ulrich Menzel, Welt am Kipppunkt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2016, S. 37f und Siegfried Knittel, Chinas Aufstieg, Amerikas Rückzug, Japans Ängste, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2018, S. 15f). Zu befürchten steht, dass in die beklagenswerte Marktkonformität westlicher Demokratien zusätzlich ein gewisses Maß an China-Konformität exportiert werden wird.
Mumfords Megamaschine
Die vorangegangenen Ausführungen wollen die Scheidler zukommenden großen Verdienste bei der aufrüttelnden Aufhellung der Gegenwart nicht in Abrede stellen. Gleichwohl möchte ich nun auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der mich bei der Lektüre von Scheidlers Büchern ein wenig störte: Ich habe den Eindruck, dass er die Autoren, aus denen er schöpft, nicht gebührend würdigt. In der Selbstdeklaration handelt Scheidlers Buch „Das Ende der Megamaschine“ „von der Geschichte und Vorgeschichte dieses Systems, das sich in einer beispiellosen Expansionsbewegung um den gesamten Erdball verbreitet hat…“ Er nutze „den metaphorischen Begriff der ‚Megamaschine‘, der auf den Historiker Lewis Mumford (1895-1990) zurückgeht.“ Aber Scheidler nutzt eben nicht nur den Begriff „Megamaschine“, sondern baut auch auf Mumfords Buch „Mythos der Maschine“ vorgestellten Analysen. Auch im neuen Buch „Chaos“ scheint „Megamaschine“ das häufigste Wort des Stichwortverzeichnisses sein.
Bei einer Maschine denkt man unwillkürlich an eine technische Apparatur. Doch handelt es sich um eine gesellschaftliche Organisationsform, die dem Anschein nach wie eine Maschine funktioniert. „Ich sage ausdrücklich ‚scheint‘, denn bei allen systemischen Zwängen besteht die Maschinerie letztlich aus Menschen, die sie tagtäglich neu erschaffen und damit… auch aufhören können.“ (Scheidler, Megamaschine) Um Mumford Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, seien im Folgenden einige Ergebnisse seiner Darstellung rekapituliert. Wie sieht Mumfords Analyse dieser Megamaschine aus, die wir prinzipiell abstellen können?
Allein Könige, die sich auf Religion und eine differenzierte Himmelskunde stützen konnten und der Mythos vom Gottkönigtum, sind laut Mumford imstande gewesen, die Megamaschine zusammenzufügen. Erstmals sei dies in Ägypten oder Mesopotamien geschehen, wo die Megamaschine als Arbeitsmaschine im Wesentlichen aus beherrschten Menschen zusammengesetzt wurde. Auch wenn die Megamaschine in ihrer Gestalt als Arbeitsmaschine vor der Gestalt der Kriegsmaschine ausgebildet worden sein mag, so erkennt Mumford in den ägyptischen und mesopotamischen Bergbaukolonnen immer schon die Anwesenheit auch eines militärischen Moments. Der ägyptische Beamte habe die Kolonne immer nur als Kollektiv gesehen und den einzelnen Arbeiter ebenso wenig wahrgenommen wie der einzelne Soldat für den Armeechef existiert. Dies sei das niemals geänderte Urmuster der Megamaschine.
Mumford schildert die Transformation der Arbeitsmaschine in eine noch negativere Megamaschine, nämlich in die Megamaschine als Kriegsmaschine. Diese Megamaschine, deren Schwerpunkt auf dem Aspekt der Destruktion liegt, habe sich über dem Kommen und Gehen von Zivilisationen über Jahrtausende erhalten, indem sie jeweils an spätere Zivilisationen weitergegeben worden sei. Hierdurch sei der Krieg zu einem bis auf den heutigen Tag integralen Bestandteil von Zivilisation geworden. Eine erste Zügelung der Megamaschine erkennt Mumford interessanterweise in der Einrichtung des Sabbath, nach dessen Einführung die Megamaschine wenigstens periodisch zum Stillstand gebracht wurde.
Ein genuin maschinelles Element wurde der Megamaschine in der Analyse Mumfords – vielleicht verblüffenderweise – innerhalb der Geschichte des Christentums. Ort des Geschehens waren die Klöster der Benedektiner, in denen die Arbeit nicht länger als Fluch, sondern als Segen und die technologische Unterstützung der Arbeit erstmals als geboten angesehen wurden. An die Stelle der gleichsam menschenfressenden Megamaschine der Alten Reiche trat in den Klöstern der Benedektiner der Prototyp einer arbeitssparenden Megamaschine. In diesen Klöstern war die Last der Arbeit zumindest theoretisch gleichmäßig verteilt. Es gab keine menschlichen Untergebenen, denen sie hätte aufgebürdet werden können. Mit ihrer streng geregelten Zeiteinteilung und Verwaltung der Güter hätten die Mönchsorden der Benedektiner und Zisterzienser gleichsam als Transmissionsriemen bei der frühneuzeitlichen Wiederauferstehung der untergegangenen römischen Megamaschine gewirkt. Für eine Würdigung dieses von Mumford betonten Motivs der Technikentwicklung, (das einer an Max Weber geschulten Denkweise fremd vorkommen mag, da Weber die Rolle des Protestantismus/Calvinismus hervorhob) vergleiche man Hartmut Böhmes für das Aufkommen der frühneuzeitlichen Megamaschine bedeutenden Beitrag „Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie“ (1988)
Mit den technischen Erfindungen oder Verbesserungen von Wassermühle, Windmühle und Zeitmessung wurden nach Mumford die Grundlagen für die Auferstehung und die weltweite Expansion der frühneuzeitlichen Megamaschine gelegt, als der politische Absolutismus mit militärischer Reglementierung verschmolz. Und nicht einmal auf dem Gipfel seiner Macht sei dem Römischen Reich mittels allgemeiner Zwangsaushebungen eine derart totale Verfügbarmachung großer Bevölkerungsanteile möglich gewesen.
Den wichtigsten institutionellen Unterschied zwischen der antiken und der frühneuzeitlichen Megamaschine erkennt Mumford in der geldwirtschaftlichen – auf rascher Kapitalakkumulation mit hohen Profiten beruhenden – ökonomischen Dynamik. Das Bündnis zwischen Geldmacht und politischer Macht wurde zum Wesensmerkmal des monarchischen Absolutismus, dessen Militärmaschine von der Massenproduktion von Waffen abhängig wurde wofür er Steuern eintreiben musste.
Soweit die sehr komprimiert vorgestellte Analyse Mumfords, der in den Registern der Bücher „Megamaschine“ und „Chaos“ nicht vorkommt, obwohl Scheidler ihm mehr verdanken dürfte als die Metapher „Megamaschine“.
Der militärisch-metallurgische Münzgeld-Komplex
Zwar sieht Mumford in den ägyptischen und mesopotamischen Bergbaukolonnen immer auch die Anwesenheit eines militärischen Moments. Ein Manko seiner Zivilisationskritik ist es, den metallurgischen Komplex der frühen Neuzeit nicht gebührend erörtert zu haben. Diesbezüglich sprach der Historiker Jean Gimpel von einem Eisengewinnungs-Komplex bei den mittelalterlichen Zisterziensern. Während Politiker wie Boris Jelzin oder Angela Merkel in den Registern von Scheidlers Büchern vorkommen, hält man darin nicht nur nach Mumford vergeblich Ausschau, sondern auch nach David Graeber. Dies erstaunt, da Graeber in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ ausführlich den „militärischen Münzgeld- und Sklaverei-Komplex“ behandelt. Graeber selbst gibt an, diesen Begriff unter Rückgriff auf Geoffrey Inghams Rede vom „militärischen Münzgeld-Komplex“ gebildet zu haben. Bedauerlich ist es auch, dass Scheidler ausführlich vom frühneuzeitlichen Wiedererstarken des „metallurgischen Komplexes“ handelt, ohne jedoch Karl Georg Zinns bedeutende Studie zu eben diesem Thema: „Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. Und 15. Jahrhundert“ zu erwähnen. Zinn ist Scheidler kein Unbekannter, da er 2010 dem Bankentribunal von ATTAC angehörte. Auf der entsprechenden Internetseite von ATTAC soll man sich im Falle von Rückfragen wenden an: Fabian Scheidler.