Cesare Pavese – ein Dichter der Einsamkeit

parkplatz mann stadt person allein einsam lichter, Quelle: harutmovsisyan, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Cesare Pavese (1908 – 1950) ist ein Klassiker der Moderne in der italienischen Literatur. Er schrieb vor allem Romane, Erzählungen und Gedichte. Bereits in jungen Jahren galt er als erfolgreicher Schriftsteller. Im Jahr 1950 – kurz vor vor seinem Suizid – erhielt der den höchsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Einige seiner Werke zählen zur Pflichtlektüre an italienischen Gymnasien. In seinen Werken und in seinen Tagebüchern schreibt er sehr oft von Einsamkeit, so dass er durchaus als „Dichter der Einsamkeit“ bezeichnet werden darf.

Kurzes biographisches Porträt

Cesare Pavese wurde am 9. September in Santo Stefano Belbo, einem kleinen Ort südlich von Turin im Piemont geboren. Sein Vater war Justizbeamter und er hatte noch fünf Geschwister. Von diesen sind jedoch drei in frühzeitig gestorben. Als er sechs Jahre alt war, verlor er seinen Vater durch einen Hirntumor. Seine Mutter hatte innerhalb kurzer Zeit vier Mitglieder der Familie verloren – den Ehemann und drei Kinder. Sie war zunehmend verzweifelt und depressiv. Sie wirkte abwesend und „wie eine tote Mutter“ (André Green). Sie konnte dem kleinen Cesare weder Geborgenheit noch liebevolle Zuwendung vermitteln. Insofern wuchs er auf wie ein „emotionaler Vollwaise“.  In Turin machte der das Abitur und dort studierte er Literaturgeschichte. Er schloss sein Studium erfolgreich ab und promovierte über den amerikanischen Dichter Walt Whitman. Nach dem Studium verdiente er seinen Lebensunterhalt als Übersetzer und schrieb erste eigene Werke. Er übersetzte vor allem die Werke von erfolgreichen amerikanischen Dichtern ins Italienische. Herman Melville, William Faulkner, Daniel Defoe, James Joyce und Charles Dickens waren bei den Übersetzungen seine Lieblingsautoren. Im Alter von 20 Jahren begann er Gedichte zu schreiben. Im Jahr 1936 erschien sein erster Gedichtband „Lavorare stanca“ (deutsch: Arbeit macht müde). Zur Zeit des italienischen Faschismus war er auf der Seite der Antifaschisten. Er wurde verhaftet und verbrachte acht Monate in einem Gefängnis in Kalabrien. Mit 30 Jahren wurde er fester Angestellter im renommierten Turiner Verlagshaus Einaudi. Cesare Pavese blieb lebenslang Junggeselle. All seine Frauenbeziehungen verliefen unglücklich. Den zweiten Weltkrieg verbrachte er mit der Familie seiner Schwester auf dem Land. Nach dem Krieg kehrte er nach den Stationen Rom und Mailand wieder nach Turin zurück. Dort nahm er sich am 27. August 1950 durch eine Überdosis von Barbituraten das Leben (Hösle 1964, Albath 2008, 2010).

Sowohl seine Übersetzerin Maja Pflug als auch seine Schriftsteller-Kollegin Natalie Ginzburg, mit der er eine Jahrzehntelange Freundschaft hatte, charakterisierten Cesare Pavese als einen abgrundtief einsamen Menschen. Natalie Ginzburg (1963) fasste dies wie folgt zusammen:

„Er hatte nie eine Frau oder Kinder oder ein eigenes Heim. Er wohnte bei einer verheirateten Schwester, die ihn gern hatte und die er auch gern hatte; aber er behielt auch im Familienkreis seine üblichen rauen Umgangsformen und benahm sich wie ein Junge oder ein Fremder.“

„Die einsamen Frauen“ (1949)

Der Roman „Die einsamen Frauen“ ist einer seiner bekanntesten Romane. Es geht viel um Einsamkeit und Selbstmord. Viele Kenner von Pavese glauben, dass dieser Roman auch ein „Vorspiel“ oder Drehbuch für den eigenen Suizid darstellt. Der Roman beginnt mit einem gescheiterten Suizidversuch und endet mit einem gelungenen. Er beschreibt das Leben von jungen Frauen in Turin in der Nachkriegszeit. Die Protagonisten und Ich-Erzählerin Clelia ist eine erfolgreich in der Modebranche tätig, lebte lange Zeit in Rom und kehr nach 17 Jahren in ihre Heimatstadt Turin zurück, um dort eine Filiale ihres gut gehenden Modegeschäftes aufzubauen. Sie trifft andere Frauen ihres Alters – vor allem Rosetta und die zynische Momina. Rosetta ist die Stellvertreterin des Selbstmordes. Zu Beginn des Romans erfolgt ein misslungener Suizid – am Ende ein gelungener. Clelia ist umgeben von gleichaltrigen Frauen, die wohlhabend sind und es nicht nötig haben zu arbeiten. Sie empfinden Langeweile und Überdruss. Zum Zeitvertreib stürzen sie sich in allerlei fragwürdige Vergnügungen und Laster. Clelia ist da ganz anders. Sie kennt nur ein Laster: Die Lust am Alleinsein. Sie meidet enge Beziehungen und stürzt sich in die Arbeit. Ihre Arbeitssucht hat die Funktion, ihre Einsamkeit zu überdecken (Auffermann 2008, Hirsch 2008).

Ein Jahr nach Erscheinen des Erfolgsromans bringt sich der Romanautor Cesare Pavese in gleicher Weise um wie Rosetta – in einem Hotelzimmer mit einer Überdosis Schlaftabletten. Der Schriftstellerfreund Italo Calvino nennt diesen Roman eine „autobiografische Projektion“ des ganzen Lebens von Pavese. Der Literaturwissenschaftler Steffen Richter betont dazu: „Selten aber hat ein Stück Literatur so entsetzlich das Leben vorweggenommen.“

Der Roman „Die einsamen Frauen“ ist der dritte Roman in der sog. Turiner Trilogie. Diese umfasst auch die früheren Romane „Der schöne Sommer“ und „Der Teufel auf den Hügeln“. Alle drei Romane spielen in Turin und Umgebung. Der zuerst erschienene Roman „Der schöne Sommer“ gab der Trilogie den Titel. Eine Neuauflage ist im Jahr 2021 im Schweizer Rotpunktverlag herausgekommen.

„Hunger nach Einsamkeit“ – Gesammelte Gedichte

Als im Fischer Verlag in Frankfurt im Jahr 1962 eine deutsche Übersetzung der Gesammelten Gedichte von Cesare Pavese erscheint, erhält diese den Titel „Hunger nach Einsamkeit“. In seinen Gedichten taucht die Einsamkeit derart häufig in Metaphern und prosaischen Bildern auf, dass der Verlag und Herausgeber diesen Buchtitel für besonders zutreffend hielten.

In seinem Gedicht „Der Morgenstern“ sind folgende Verse zu lesen:

„Der einsame Mann erhebt sich, wenn das Meer noch dunkel ist

Und die Sterne flimmern. Ein lauer Hauch

Steigt vom Ufer empor, dort wo das Bett des Meeres ist,

und sänftigt das Atmen. Dies ist die Stunde, in der nichts

geschehen kann.

Nichts Bittreres gibt es als den Dämmer eines Tages,

an dem nichts geschehen wird. Nichts Bittreres gibt es,

als nutzlos zu sein. Müd hängt am Himmel

ein grünlicher Stern, vom Tag überrascht.“

Die „Arbeits-Einsamkeit“ („Arbeit macht müde“)

Der erste im Jahr 1936 erschienene Gedichtband trägt italienisch den Titel „Lavorare stanca“ (deutsch „Arbeit macht müde“). Da Cesare Pavese sehr viel einsam und allein war, keine Familie und keine längeren Frauenbeziehungen hatte, war für ihn die Arbeit das wichtigste Ablenkungsmanöver. Wie bei seiner Roman-Protagonistin Clelia in „Die einsamen Frauen“ hat auch bei Pavese die Arbeitssucht die Funktion, die quälende und leidvolle Einsamkeit zu überdecken. Sein Freund und Schriftsteller-Kollege Italo Calvino sah bei Pavese „Eine ungeheure, dickschädelige , verschlingende Liebe zur Arbeit.“ Das „System Arbeits-Einsamkeit“ sollte ihn retten. Dieser Rettungsversuch ist jedoch misslungen und führte in den Suizid.

Einsamkeit als „absurdes Laster“

Cesare Pavese selbst hat die Einsamkeit ein „absurdes Laster“ genannt. In seinen zahlreichen Ausführungen zur Einsamkeit betont er die hohe Ambivalenz von einsamen Menschen. Sie wollen menschliche Nähe und Beziehung und sie fliehen auch davor. Einsame Menschen manövrieren sich selbst in die Position der sozialen Isolation, unter der sie leiden. Sie begeben sich in eine selbstgewählte Abwärtsspirale, die sie immer einsamer macht. Pavese war im Umgang mit seinen wenigen Freunden sehr ruppig und abweisend, redete manchmal den ganzen Abend kein Wort und reagierte nicht auf die Kommunikationsversuche der Freunde. Er konnte abweisend sein und andere vor den Kopf stoßen.

Seine langjährige Freundin und Schriftstellerin Natalie Ginzburg beschrieb dies wie folgt:

„Seine Traurigkeit kam uns vor wie die eines Jungen, wie die wollüstige und unbestimmte Melancholie des Jungen, der die Erde noch nicht berührt hat und sich in der trockenen und einsamen Welt seiner Träume bewegt. Manchmal besuchte er uns am Abend; er saß bleich mit seinem Schal um den Hals da, ringelte sich die Haare um die Finger oder zerknitterte ein Blatt Papier; den ganzen Abend sagte er kein einziges Wort, antwortete auf keine unserer Fragen. Schließlich nahm er unvermittelt seinen Mantel und ging weg. Wir fragten uns gedemütigt, ob unsere Gesellschaft ihn enttäuscht habe, ob er versucht habe, sich bei uns aufzuheitern, ohne dass ihm das gelang, oder ob er sich einfach vorgenommen habe, den Abend schweigsam unter einer Lampe zuzubringen, die nicht seine war.“

(Natalie Ginzburg 1963)

Das Schriftsteller-Ehepaar Leone und Natalie Ginzburg war seit der Schulzeit mit Cesare Pavese eng befreundet. Die oben beschriebene Szene stammt aus der Zeit, in der bereits alle drei im Einaudi-Verlag tätig waren und Pavese angesehener Schriftsteller war. Die Schilderungen von Natalie Ginzburg verdeutlichen die Ambivalenz und den Nähe-Distanz-Konflikt von Pavese. Er gestaltete und inszenierte seine Einsamkeit. Und er war ihr Opfer. Insofern passt seine Formulierung von der Einsamkeit als „absurdes Laster“ sehr gut.

Im Roman „Die einsamen Frauen“ heißt es, die Protagonistin Clelia habe im Vergleich zu ihren lasterhaften Freundinnen nur ein Laster – „die Lust am Alleinsein“ (Hirsch 2008). Nach Pavese ist hinter dem Leiden der Einsamkeit ein lustvolles Verlangen verborgen. Dies hat Merkmale einer eigenartigen Form von Angstlust. Diesen Januskopf der Einsamkeit hatte die Rezensentin Verena Auffermann (2008) im Blick, wenn sie ihrem Beitrag den Titel „Lust und Last der Einsamkeit“ gab.

Die Einsamkeit von Cesare Pavese selbst

In seinen Tagebüchern „Handwerk des Lebens“ schreibt Pavese immer wieder über das Leiden und die Schmerzen der wiederkehrenden Einsamkeit. Seine Tragik war, dass er aufgrund seiner traumatisierenden Kindheit nie gelernt hat, Beziehungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Seine sechs Jahre ältere Schwester war der einzige Mensch, der ihn lebenslang begleitet hat. Bei ihr und deren Familie lebte und wohnte er wie ein zusätzliches Kind. Sie war für ihn eine Art Ersatz-Mutter und Vertraute. Am Tag vor seinem Suizid packte sie ihm noch einen kleinen Koffer für eine kurze Reise. Dass es absolut die letzte Reise von Cesare Pavese sein sollte, ahnte sie nicht. Sein Mangel an tragfähigen Beziehungen erzeugte die Einsamkeit und hielt sie aufrecht – bis zum Suizid. So starb er als ein sehr einsamer Mensch in einem anonymen Hotel genau in der Stadt, die seine war, in der er berühmt und anerkannt war.

Einsamkeit und Suizid

In psychologischen Studien zur Einsamkeit taucht immer wieder der Zusammenhang von Einsamkeit und Suizid auf. Zahlreiche Forscher betrachten die Einsamkeit als einen signifikanten Risikofaktor für Depression und Suizid (Csef 2018, 2022). Einsamkeit ist methodisch schwer zu erfassen und ein sehr langdauerndes und fluktuierendes Phänomen. Die Suizidmotive bleiben auch oft im Dunkeln, vor allem wenn es keine Abschiedsbriefe, Tagebücher oder Vorankündigungen gibt. Insofern sind hier noch viele Fragen offen. Bei Cesare Pavese scheint der Wechselwirkung von Einsamkeit und Suizid evident. Seine Tagebücher belegen dies. In diesen schreibt er immer wieder von Einsamkeit und Selbstmord. Bereits seit seiner Jugendzeit beschäftigten ihn Gedanken an Selbstmord. Mit 28 Jahren wollte er sich erstmals ernsthaft umbringen. Einem Freund teilte er mit, dass „das geölte Seil bereit liege“ zum Erhängen. Der Literaturjournalist Tomas Fitzel kommentierte die permanent wiederkehrenden Selbstmordimpulse wie folgt:

„Wer sein Leben lang davon spricht, muss einmal wirklich ernst machen, damit man ihn noch weiter ernst nimmt.“

(Tomas Fitzel, 2000 zum 50. Todestag)

Bei Cesare Pavese wurde die Einsamkeit chronisch. Sie wurde zur langdauernden Lebensbegleiterin, die ihm viel Schmerzen und Leid zumutete. Er wurde sie nie mehr los. Und an seinem inneren Drehbuch für den Selbstmord arbeitete er seit seiner Jugendzeit – fleißig und unermüdlich.

Literatur

Albath, Maike (2008) Ein scheuer, spröder Mensch. Zum hundertsten Geburtstag von Cesare Pavese. Deutschlandfunk vom 9. September 2008

Albath, Maike (2010) Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943. Berenberg, Berlin

Auffermann, Verena (2008) Lust und Last der Einsamkeit. Deutschlandradio Kultur vom 3. September 2008

Csef, Herbert (2018) Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2/2018, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2022) Psychologie der Einsamkeit. Gesundheitspolitische Herausforderungen durch die zunehmende Einsamkeit. Tabularasa Magazin vom 6. Mai 2022

Fitzel, Tomas (2000) Das Symbol einer Generation. Vor 50 Jahren nahm sich der Romancier Cesare Pavese das Leben. Die Welt vom 26. August 2000

Ginzburg, Natalie (1963) Porträt eines Freundes. Neue Züricher Zeitung 1963

Hirsch, Antje (2008) Die Lust am Alleinsein. FAZ vom 3. September 2008

Hösle, Johannes (1964) Cesare Pavese. De Gruyter, Berlin, 2. Aufl.

Pavese, Cesare (1992) Hunger nach Einsamkeit. Gesammelte Gedichte. Fischer, Frankfurt

Pavese, Cesare (2000) Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935 – 1950. Claassen, Berlin

Pavese, Cesare (2021) Der schöne Sommer. Drei Romane. Rotpunktverlag, Zürich

Richter, Steffen (2008) Der Unzulängliche. Der Tagesspiegel vom 8. September 2008

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

Finanzen

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.