Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Europa ist dann am stärksten, wenn es zusammensteht“

fahne flagge europa europafahne europaflagge, Quelle: Ralphs_Fotos, pixabay, Kostenlose Nutzung unter der Inhaltslizenz Kein Bildnachweis nötig
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Zur Verleihung des Internationalen Preises des Westfälischen Friedens hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Laudatio auf den Präsidenten der Französischen Republik, Emmanuel Macron, gehalten.

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Die große Gefährdung und das große Problem der gegenwärtigen Situation besteht in der Überalterung der Dinge, die im Kampf liegt mit der Neuheit der Ideen. Was sich so aktuell anhört, so passend zu unserer Zeit scheint, ist in Wahrheit schon 175 Jahre alt – es ist ein Tagebucheintrag von Victor Hugo aus dem Jahr 1848.

Hugos Gedanken sind ein Dokument einer Zeit, als der gesamte Kontinent im Umbruch war, als die Demokratie auf dem Vormarsch war in Europa. „Europäischer Völkerfrühling“ nennt Christopher Clark die Zeit. Aus den Worten Hugos spricht eine tiefe Zerrissenheit zwischen progressiven Ideen und dem Festhalten an Vertrautem. Man spürt aber auch seine Verzweiflung über den Status quo. Lieben heißt handeln, so lautete schließlich einer der letzten Einträge Hugos in seinem Tagebuch, gerade einmal drei Tage vor seinem Tod im Mai 1885.

Lieben heißt handeln. Meine Damen und Herren, es wird Sie kaum überraschen, dass ich dabei unweigerlich an meinen Freund Emmanuel Macron denken muss.

Auch Du bist jemand, der sich schwer mit dem Status quo abfinden kann. Du bist „en marche“ – immer in Bewegung. In Deinem Büro hängt eine Sentenz, die gut zu Deinem politischen, ja, ich würde sogar sagen, zu Deinem Lebensweg passt. Da steht: Diejenigen, die glauben, es sei nicht möglich, werden gebeten, diejenigen nicht zu stören, die es versuchen.

Keine Frage, zu welcher Gruppe Du gehörst. Du lässt Dich nicht stören. Du bist unbeirrbar, wenn es um eine Sache geht, von der Du überzeugt bist. Du bist nicht nur ein Macher, Du bist ein Mutmacher. Wo andere von Grenzen sprechen, redest Du von Horizonten. So wie schon bei Deiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2017, als Du ausgerufen hast: Das Beste liegt vor uns; davon warst Du schon damals überzeugt. Und damit willst Du aktivieren, wachrütteln. Manchmal mit durchaus drastischen Worten. Mahnend, aber nie hoffnungslos, hast Du stets deutlich gemacht: Wir haben unser Schicksal in unserer Hand. Niemals willst Du zulassen, dass das Schicksal uns in der Hand hat.

Lieben heißt handeln – der Satz von Victor Hugo hätte als Motto in Deinem Büro sicher genauso gut Platz. Es ist mir eine große Ehre und ich bin stolz, dass ich Dir für Deinen Einsatz für die deutsch-französische Freundschaft und den Frieden in Europa heute den Internationalen Preis des Westfälischen Friedens überreichen darf.

Der Westfälische Frieden von 1648 beendete einen furchtbaren Krieg, der dreißig Jahre gewütet hatte in der Mitte unseres Kontinents. Die Verhandlungen für den Friedensvertrag dauerten zähe fünf Jahre, hier in Münster war der Sitz der französischen Gesandten.

Auch heute müssen wir wieder um den Frieden in Europa ringen. Ja, wir alle würden lieber in einem friedlichen Europa leben, mit einer intakten Sicherheitsordnung für den gesamten Kontinent. Und ja, wir – Frankreich und Deutschland – haben alles dafür gegeben, um genau das zu erreichen: Frieden und ein verlässliches Auskommen, auch mit Russland. Wir haben versucht, auf politischem Weg einen Krieg zu verhindern. Aber unser gemeinsames Bemühen um den Frieden in Europa ist an Moskau gescheitert. Putin hat dieses Bemühen brutal zerschlagen. Er hat den Krieg nach Europa zurückgebracht, einen grausamen Angriffskrieg, von dem wir gehofft hatten, dass wir ihn nie wieder erleben müssen in Europa.

Der russische Krieg gegen die Ukraine bringt unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine. Er zerstört Häuser, ganze Städte. Aber er zerstört viel mehr: die Zukunftspläne so vieler Ukrainerinnen und Ukrainer. Er zerstört aber auch unsere Idee eines gemeinsamen Hauses Europa. Putin greift nicht nur die Souveränität der Ukraine an, sondern er legt die gesamte europäische Sicherheitsordnung in Trümmer. Darauf mussten wir reagieren, darauf haben wir reagiert. Wir haben als Europäer und als Alliierte eine gemeinsame Antwort auf Putin gegeben. Wir unterstützen die Ukraine – militärisch, finanziell, humanitär. Wir lassen uns nicht auseinandertreiben. Und wir lassen die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Kampf um die Freiheit nicht im Stich.

Der 24. Februar 2022 war der Beginn einer neuen Epoche. Er hat uns vor Augen geführt, dass wir wehrhafter werden müssen. In dieser neuen Epoche müssen wir nicht nur Abhängigkeiten verringern, wir müssen vor allem mehr für unsere Sicherheit und Verteidigung tun. Du warst es, der die Idee von strategischer Autonomie konsequent und mit großer Weitsicht und Verve vorangetrieben hat. Du warst es, der lange vor dem russischen Angriff die europäische Souveränität beschworen hat. Ein Europa, das seine Interessen offensiv und eigenständig vertritt – politisch, technologisch und militärisch.

Wenn uns unsere Geschichte eines gelehrt hat, dann das: Europa ist dann am stärksten, wenn es zusammensteht. Was für ein wunderbares, wahrhaft europäisches Zeichen ist es, dass der zweite diesjährige Preisträger des Internationalen Preises des Westfälischen Friedens das Deutsch-Polnische Jugendwerk ist. Auch an Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, meine allerherzlichsten Glückwünsche!

Lieber Emmanuel, Du bist zutiefst überzeugt, dass wir eine gemeinsame Sicherheitspolitik, eine gemeinsame europäische Verteidigung und auch ein gemeinsames Handeln bei der inneren Sicherheit brauchen. Dabei warst Du nie naiv, aber Du hast trotz aller Unterschiede unserer beiden Länder immer daran geglaubt, dass eine gemeinsame Politik nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Auf der einen Seite Frankreich, die Atommacht, international vielfach engagiert, auch militärisch. Und auf der anderen Seite Deutschland, in der Mitte Europas, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich vernetzt mit der Welt – und zugleich geprägt von der Erfahrung, verantwortlich zu sein für zwei Weltkriege, die Europa in Schutt und Asche legten.

Du bist überzeugt von der deutsch-französischen Balance, die es immer wieder herzustellen gilt, wenn Europa vorkommen will, wenn es vorankommen will. 2021 sagtest Du, dass es auf unsere Fähigkeit ankommt, das Gleichgewicht zwischen unseren beiden Ländern, zwischen verschiedenen Temperamenten und Geschichten zu finden, wenn wir überzeugen wollen.

Dass Frankreich und Deutschland sich heute so nah sind, liegt nicht zuletzt an Menschen wie Dir. Du bist immer bereit, auf Deutschland zuzugehen, eröffnest die Diskussion, versuchst uns auch hier und da aus der Reserve zu locken. Das liegt nicht nur an Deiner Überzeugung, dass wir nur gemeinsam Frieden, Wohlstand und Sicherheit erhalten können. Es liegt an Deinem aufrichtigen Interesse an Deutschland, das Du Dir, wie Du selbst einmal gesagt hast, durch die Literatur erschlossen hast.

Aber Dein Interesse an Deutschland ist keineswegs auf Kultur und Geschichte beschränkt. Als wir uns vor zwölf, dreizehn Jahren kennenlernten, war ich gerade nicht mehr – und Du noch nicht – in Regierungsverantwortung. Wir haben viel Zeit verbracht im Gespräch über unsere Länder; ein Gespräch, das in all den Jahren danach nie zum Stillstand gekommen ist und in dem Du mich mit Fragen über Deutschland immer wieder überrascht hast und mich dazu gebracht hast, meine Antworten zu schärfen. Ich habe in unseren Gesprächen viel über Frankreich, aber auch manches über Deutschland gelernt.

Und Dein Interesse an Deutschland ist nicht erst in politischen Ämtern gewachsen. Schon in der Schulzeit warst Du zweimal zum Schüleraustausch in Dortmund, hast Deutsch gelernt. Im Deutschen Bundestag und noch einmal gestern in Dresden hast Du auf Deutsch gesprochen. Ich kann es nicht anders sagen: Was für eine Ehre, was für eine Freude ist das für uns Deutsche – ein französischer Präsident, der in Deutschland auf Deutsch spricht. Für diese Zuneigung zu Deutschland und zur deutschen Kultur sind Dir die Menschen in meinem Land sehr dankbar. Das hast Du in Berlin und Dresden gespürt, und Du wirst es gleich hier in Münster auf dem Balkon des Rathauses erleben.

Du hast so viel für unsere Freundschaft getan, dafür, dass wir gemeinsam voranschreiten. Viele Durchbrüche in Europa wären anders gar nicht möglich gewesen. Und das in unterschiedlichsten Bereichen, vom gemeinsamen Handeln in der Covid-Pandemie bis zu europäischen Industrie- und Rüstungsprojekten. Dass Deutschland und Frankreich bei vielen Themen erfolgreich zusammenarbeiten, zeigt, wie wertvoll und kraftvoll die Europäische Union ist. Und: Wie wertvoll unsere beiden Länder für die Europäische Union sind. Wir sind nicht gleich. Wir haben unsere unterschiedlichen Traditionen, Geschichten, Gewohnheiten und Mentalitäten. Nein, wir sind nicht gleich, und ich wollte das auch gar nicht. Denn ich bin fest überzeugt: Deutsche und Franzosen, wir lieben uns gerade auch wegen der Unterschiede. Und Europa erwartet nicht, dass wir Unterschiede aufgeben. Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis, wenn kritisiert wird, die Europäer seien sich ja nicht einig. Das wussten die Gründermütter und -väter der EU sehr genau. Der zivilisatorische Fortschritt der EU liegt darin, dass sie uns den Rahmen gibt, in dem wir trotz unterschiedlicher Geschichte und Interessen Formen des friedlichen Ausgleichs gefunden haben. Mühsam oft, aber nach wie vor lohnend!

Deine Liebe, Deine Leidenschaft, lieber Emmanuel, gilt diesem vereinten Europa. Und damit dieses Europa auch in Zukunft geeint und stark ist, deshalb handelst Du. Das beste Beispiel für die Fortschreibung der europäischen Idee ist der Wiederaufbauplan Next Generation EU – ein Wachstumspaket der Europäischen Union, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-Pandemie abzufedern. Du hast maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Zukunftsprojekt entstanden ist.

Ich bin dankbar, einen so leidenschaftlichen Europäer wie Dich an der Spitze einer der wichtigsten Industrienationen Europas, an der Spitze unseres Nachbarlandes zu wissen. Immer hast Du das gemeinsame Ziel vor Augen und kämpfst dafür: Europas Souveränität, aber auch seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und auszubauen. Zu spüren war das auch, als Du kürzlich bereits zum zweiten Mal an der Sorbonne Deine Ideen für Europa vorgestellt hast. Lieber Emmanuel, Du begeisterst die Menschen, Du gibst Impulse und öffnest den Blick für das große Ganze. Dabei stellst Du auch Bewährtes in Frage. Denkverbote sind Dir fremd. Und das ist gut so.

Ich möchte noch einmal auf den großen Victor Hugo zurückkommen. Er schrieb – wohlgemerkt über sich selbst: Es ist eine schlechte Lobrede auf einen Mann, wenn man von ihm sagt: seine politische Meinung hat sich in den letzten vierzig Jahren nicht geändert. Das bedeutet, dass er weder tägliche Erfahrungen gemacht noch nachgedacht noch seine Gedanken angesichts der Tatsachen zurückgenommen hat.

So etwas wird man über Dich, lieber Emmanuel, jedenfalls nicht sagen können. Du bist jemand, der Grenzen auch gedanklich immer wieder in Frage stellt. Richtig ist: Du kennst nur Horizonte, keine roten Linien, habe ich gesagt. Aber noch etwas zeichnet Dich aus: Dein großes Interesse für das Gegenüber. Du bist bereit zuzuhören – und für Deine Ziele zu werben. Dein Engagement in Debatten ist berühmt, teils gefürchtet – Stunden um Stunden diskutierst Du mit Landwirten in der Auvergne, mit Intellektuellen in Paris oder Staatenlenkern rund um die Welt. Deine Neugier, Dein intellektueller Hunger sind geradezu unstillbar. Und so erweiterst Du immer auch Horizonte, Deine eigenen und die der anderen.

Das ist der rote Faden in Deiner Biographie: das Gegebene nicht hinnehmen, den politischen Raum erweitern. Du gehst mutig voran – in eine ungewisse Zukunft, ohne Erfolgsgarantie oder doppelte Böden. Du gehst ins Risiko – auch ins Risiko des Scheiterns. Du handelst – auch wenn die Geschichtsbücher ihr Urteil noch nicht gefällt haben.

Spätere Kritiker mögen mit dem Wissen von morgen rufen: Was ist denn aus Macrons großen Worten, aus seinen Visionen geworden? Ich sage: Nur die Zukunft wird es wissen. Aber eines weiß ich schon heute: Ohne den Versuch, ausgetretene Wege zu verlassen, neu zu denken, wären wir der Größe unserer Aufgaben nicht gewachsen. Ohne Mut wäre unser Europa verloren. Ohne den Mut zum großen Wurf wäre das vereinte Europa gar nie entstanden.

Europa lieben – das ist einfach, das tun viele. Aber für Dich heißt Europa lieben stets auch: für Europa handeln.

Ich gratuliere Dir herzlich zum Internationalen Preis des Westfälischen Friedens!“

Quelle: Bundespräsident.de

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Über Frank-Walter Steinmeier 14 Artikel
Frank-Walter Steinmeier ist ein deutscher Politiker (SPD). Er ist seit 19. März 2017 der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Steinmeier wurde bei der Wahl am 13. Februar 2022 wiedergewählt. Von 1999 bis 2005 war Steinmeier Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder, von 2005 bis 2009 (Kabinett Merkel I) Außenminister und ab 2007 auch Vizekanzler der Bundesrepublik. Seine zweite Amtszeit als Außenminister dauerte von 2013 bis 2017 (Kabinett Merkel III).