Tübingen, 15. Oktober 2019Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.
In diesen heil’gen
Hallen
Kennt man die Rache nicht.
Und ist ein Mensch gefallen,
Führt Liebe ihn zur Pflicht […]
In diesen heil’gen
Mauern
Wo Mensch den Menschen liebt,
Kann kein Verräter lauern,
Weil man dem Feind vergibt.
Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht, ein Mensch zu sein.
Mit diesen heil’gen Hallen ist selbstverständlich nicht der Festsaal der Universität Tübingen gemeint und auch nicht deren Hörsäle und Seminarräume. Aber so ganz falsch wäre es auch wieder nicht, eine Beziehung herzustellen zwischen der humanen Utopie, die in diesem Gesang des Sarastro aus der Zauberflöte die Zuhörer immer wieder anrührt, und dem, was hier in Tübingen zum ersten Mal bedacht wurde, der Idee des Weltethos nämlich.
Lohnt es sich aber noch, darüber zu sprechen? Ist das alles bestenfalls nur ein Traum dichterischer und musikalischer Kunst? Ist es in dieser so zerrissenen Welt – oder auch nur in unserer eigenen deutschen Gesellschaft – überhaupt noch möglich oder gar aussichtsreich, sich über gemeinsames Ethos, gemeinsame Wertgrundlagen unseres Zusammenlebens zu verständigen? Macht sich nicht vielfach Resignation breit?
Jürgen Habermas, der nun neunzigjährige Nestor der deutschen Philosophie, wird im nächsten Monat ein neues, sage und schreibe fast 1.800-seitiges Buch veröffentlichen mit dem Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Dieses gewaltige Opus handelt, kurz gesagt, von der weit über tausendjährigen Geschichte des Verhältnisses von Glaube und Wissen, von Religion und aufgeklärtem Denken, ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Konfrontation. Es wird aber, soviel konnte ich bei einem ersten Durchsehen der freundlicherweise überlassenen Druckfahnen feststellen, auch von genau dieser Frage angetrieben: Welche „motivationalen Ressourcen“ haben wir noch, um Kraft zum autonomen Handeln schöpfen zu können, damit wir in „Wahrnehmung unausweichlicher Probleme uns selbst und gegenseitig die Spontaneität vernünftiger Freiheit sowohl zutrauen wie zumuten“.
Dabei konstatiert er als ein Hauptproblem einen empfindlichen, ja zerstörerischen Mangel an öffentlicher Kommunikation über Grundlagen des Zusammenlebens. Im typischen Habermas-Sound: „Die ausgetrockneten nationalen Öffentlichkeiten, in die viele relevante Themen gar nicht mehr vordringen, verwandeln sich in Arenen der Ablenkung und der Verdrossenheit und zunehmend auch des nationalistischen Ressentiments.“
Es ist auffällig, dass Jürgen Habermas in dieser Sorge und dieser Problemanzeige auch auf Fragen trifft, die die von Hans Küng initiierte Idee des Weltethos aufwirft. Einigkeit also, zumindest in der Problemanzeige, bei den beiden heute wohl weltweit bekanntesten lebenden deutschsprachigen Geisteswissenschaftlern, die nicht Papst geworden sind.
Zu den folgenden bescheidenen Gedanken zu einem politischen Ethos und zum Zusammenleben in der Welt von heute möchte ich mich ganz bewusst von diesem Ort hier, von Tübingen, inspirieren lassen und deswegen immer wieder von Tübinger Geschichte, Ereignissen und natürlich Personen ausgehen.
Sie erlauben mir deswegen, wenn ich zunächst einmal ganz herzlich Hans Küng grüße, ohne den es weder die Idee des Weltethos noch die gleichnamige Stiftung und auch nicht diese jährliche Weltethos-Rede geben würde.
Die Einladung, die Rede in diesem Jahr zu halten, habe ich gern aus Respekt für und Verehrung von Hans Küng angenommen, dem großen Gelehrten, der – obwohl bis heute Schweizer Staatsbürger – über Jahrzehnte hinweg weltweit den Ruf Deutschlands als Ort von Theologie und Universitätsgelehrsamkeit gestärkt hat.
Die Universität Tübingen, aber auch die deutschen Geisteswissenschaften insgesamt haben allen Grund, Hans Küng dankbar zu sein. Er hat nicht nur sein Fach, die katholische und ökumenische Theologie, für breite Kreise verständlich vertreten, wovon die hohen Auflagen und die Übersetzungen seiner Werke in so viele Sprachen der Welt zeugen, er hat auch in engagierter Zeitgenossenschaft immer das politische und geistige Leben kritisch und konstruktiv begleitet.
In seiner eidgenössischen Unbestechlichkeit und auch in seinem eidgenössischen Eigensinn ist er dabei keinem Streit und keiner Auseinandersetzung ausgewichen. Ein bleibendes Vorbild eines Universitätslehrers, der gleichzeitig engagierter Mitbürger ist. Solche Köpfe sind Vorbilder, solche Lebenshaltungen verkörpern selber schon ein Ethos, an dem man Maß nehmen kann. Von dieser Stelle aus also: Vielen Dank für alles, sehr verehrter, lieber Hans Küng. Wenn Ihnen auch die körperlichen Kräfte verwehren, heute hier zu sein, so sind Sie doch mit Ihrer Idee und mit Ihrer Geisteshaltung umso mehr bei uns.
Hans Küngs Engagement für den Frieden und für die Verständigung unter den Religionen wurde für mich noch vor Kurzem wie in einem Spiegel sichtbar, als ich im August in Lindau die Weltversammlung von Religions for Peace eröffnen durfte. Ein Stück Tübingen in Lindau. Derselbe Geist nämlich, der aus der Konzeption des Weltethos spricht, hat auch die Teilnehmer dieser Versammlung beseelt. „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ – diese Kurzformel, die auch viele Veranstaltungen dort bestimmte, haben Küng und die Stiftung Weltethos immer wieder betont und bekräftigt.
Diese Formel wurde mit wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten für ein internationales Publikum wirkungsvoll anschaulich und plausibel gemacht. Hoffen wir alle zusammen, dass diese Saat weiter aufgeht. Wie sehr das notwendig ist, wurde in Lindau unmissverständlich deutlich. Wie gut das aber auch gelingen kann und wie es vom Willen so vieler getragen wird, auch das habe ich dort spüren können. Zusammenarbeit der Religionen in weltethischer Absicht, das ist etwas, dessen Notwendigkeit ja auch Diplomatie und auswärtige Politik erkannt haben und wofür ich mich aus großer Überzeugung auch selber engagiere.
Im alltäglichen Leben vieler Gesellschaften ist Religion ja durchaus ein mächtiger Faktor. Und für die praktische Weltpolitik spielen die Religionen erst recht, wie immer deutlicher wird, eine gar nicht zu überschätzende Rolle. Deswegen müssen sich alle, die sich über gemeinsame ethische Grundlagen und über das Ethos des Zusammenlebens verständigen wollen, mit der tatsächlichen heutigen Gestalt von Religionen in ihrer kulturprägenden Wirkung beschäftigen. Das kann, wie Hans Küng eher als andere gesehen hat, nicht genug betont werden.
Wie kam Hans Küng zu seiner Fragestellung und wo formulierte er sie? So wie es Orte gibt, die für die Idee unserer Demokratie eine paradigmatische Bedeutung haben, Orte der Freiheitsrevolution und des parlamentarischen Neuanfangs, so gibt es auch besondere Orte eines Denkens, das sich der Welt zuwendet. Das akademische Leben von Hans Küng ist ohne Tübingen nicht zu denken, jene kleine, große Stadt, von der Walter Jens einmal sinngemäß gesagt hat: Köln hat eine Universität, Hamburg leistet sich eine Universität – Tübingen ist eine Universität.
Es ist wohl nicht zufällig, dass eine solche Konzeption wie die des Weltethos ausgerechnet hier geboren wurde. Goethe hat einmal über Weimar gesagt: „Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt.“ Er wollte seinem Assistenten Eckermann damit auch bedeuten, dass es in der großen Welt nichts von Relevanz gebe, das nicht auch im kleinen Weimar ankommen, kritisch bedacht und geistig und politisch bewertet würde. Das gilt erst recht für Tübingen.
Das begründet ja die Idee des universalen Geltungsanspruchs von Werten, die Bewusstmachung von globalem Ethos, für Weltverantwortung: dass uns alles erreicht, dass uns alles etwas angeht, was uns durch unsere analogen oder digitalen Tore und Straßen aus allen Enden der Welt erreicht.
Die heute mit wutverzerrter Miene vorgetragenen Verheißungen des neuen Nationalismus oder Fundamentalismus meinen, die Tore und Wege ließen sich zusperren, die globalen Verbindungen abbrechen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die globalen Verbindungen, Abhängigkeiten, Probleme und Näheverhältnisse nehmen noch immer zu. Sie sind technisch-ökonomischer, ökologischer, aber doch vor allem auch ideeller und kultureller Natur. Das früher Entfernte rückt in unsere Nähe. Ich denke dabei nicht nur an Flucht und Migration, sondern auch an den digitalen Kommunikationsraum, der jedes emotional aufwühlende Ereignis, jede Idee, jeden Appell, jede Ideologie unverzüglich vor unsere Augen und in unsere Sinne spielt. Nähe heißt dann Reibung, Zumutung, Forderung. In dem Maße, in dem dies zur modernen conditio humana geworden ist und weiter wird, brauchen wir erst recht die normative Verständigung.
Wir haben miteinander zu tun. Wir sind in der Welt – und die Welt ist bei uns.
Normative Verständigung heißt also beides: eine stetige Arbeit an der Friedensfähigkeit unserer wechselseitigen internationalen Beziehungen und in eins damit am inneren Frieden unserer eigenen Gesellschaften.
Darüber denken wir heute hier in Tübingen nach. Der Genius Loci Tübingens war oft und immer wieder vom Geist des Gesprächs, der gelehrten Disputation, der friedlichen Auseinandersetzung großer Geister geprägt. Die berühmte Trias der Stiftsstudenten Hölderlin, Schelling, Hegel steht dafür beispielhaft.
Einer von ihnen, Friedrich Hölderlin, hat einige der wunderbarsten Gedichte deutscher Sprache geschrieben, bevor er die zweite Hälfte seines Lebens in sogenannter geistiger Umnachtung hier in Tübingen verbrachte. In seinem Gedicht „Friedensfeier“ gibt es die Zeile: „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, […].“
„Seit ein Gespräch wir sind“: Das scheint mir ein angemessener und auch eindrücklicher Leitgedanke für die Möglichkeit und Wirklichkeit eines Weltethos zu sein.
„Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“: So wird eine zivile, friedliebende Art der Auseinandersetzung in sehr nobler und zurückhaltender Weise ausgedrückt, ein Gespräch in „vernünftiger Freiheit“, wie Jürgen Habermas das nennt. Ein Gespräch zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugung und Einstellung.
Wenn ich mir nur vorstelle, wer hier in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts an ein und derselben Universität zu finden war – und zwar gleichzeitig: der Marxist Ernst Bloch, der gerade „Atheismus im Christentum“ geschrieben hatte, und Joseph Ratzinger, der spätere Papst, der seinen Bestseller „Einführung in das Christentum“ veröffentlichte, um paradigmatisch nur diese zwei zu nennen.
Fremde und geradezu gegensätzliche Welten verkörpernd – aber doch in Auseinandersetzung miteinander und nicht jeder in seinem safe space. Blochs knapper, großartiger Satz: „Denken heißt Überschreiten“, der hier in Tübingen auf seinem Grabstein steht, meint ja immer auch das Überschreiten der eigenen, immer ja auch beschränkten Welt, um sich vom anderen ein anderes Stück Welt, eine andere Perspektive zeigen zu lassen.
Um es mit Habermas auf eine politisch-soziologische Ebene zu heben: „Die gegenseitige Perspektivenübernahme führt symmetrisch zur Entdeckung neuer Züge am jeweils anderen. Sie zielt auf etwas anderes als auf eine einseitige Inklusion eines anderen in den eigenen Horizont; vielmehr müssen beide Parteien herausfinden, in welchem konstruktiv zu entwerfenden Horizont von geteilten Verhaltenserwartungen sie gemeinsam leben wollen.“ Mit anderen Worten: Wirkliche Begegnung verändert die, die sich begegnen, und diese Veränderung bringt die Möglichkeit wirklicher Gemeinsamkeit.
Ein gemeinsames Ethos, das unserem Zusammenleben in unserer eigenen Gesellschaft, aber eben auch weltweit zugrunde liegen soll, ermöglicht und braucht genau solches Gespräch und Hören voneinander.
„Seit ein Gespräch wir sind“: Nicht immer ging es an den deutschen Universitäten in jenen 1960er und 1970er Jahren friedlich zu. Und der Terrorismus, der vorgab, die Ziele der revoltierenden Jugend radikal zu verwirklichen, fand im Oktober 1977, dem sogenannten Deutschen Herbst, seinen Höhepunkt. Ausgerechnet in jenen Tagen zwischen der Entführung Hanns Martin Schleyers und der des Flugzeugs Landshut fanden dann hier in Tübingen die Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum der Eberhard Karls Universität statt.
Drei Reden, die zu diesem Anlass gehalten wurden, sind ein beeindruckendes Zeugnis einer gleichzeitig besonnenen und entschiedenen Reaktion in aufgeheizten Zeiten, in einer für das Gemeinwesen und seine gemeinsamen ethischen Grundlagen äußerst bedrohlichen Situation.
Die erste – eine bedeutende, weil sehr selbstkritische – Rede von Bundespräsident Walter Scheel klingt fast wie ein einziges Gesprächsangebot gerade an die revoltierenden Studenten. Er versuchte, deren echte Anliegen aufzunehmen. Und zwar angesichts der Gefahr, wie er sagte, dass unser Land „in zwei feindliche Lager auseinanderfällt“. Er spricht von ganzen Gruppen, „die kein gutes Haar an diesem Staat lassen“, sondern die „Regierung, Parlament, Gewerkschaften, Gerichte, Behörden lächerlich machen“. Sie verachteten sogar die staatlichen Instanzen als „Feinde des Volkes“. Ist das nicht auf bestürzende Weise aktuell? In vielen unserer westlichen Gesellschaften und eben auch bei uns sind wir zurzeit ja mit strukturell analogen Erscheinungen konfrontiert. Scheel prägte damals den dann berühmt gewordenen Begriff der kritischen Sympathie, die das Verhältnis der Bürger zum Staat prägen sollte.
Solche kritische Sympathie setzt das ernsthafte Gespräch voraus, Ich glaube, dass es auch heute genau darauf ankommt: die Souveränität zu besitzen, Ruhe und Besonnenheit walten zu lassen, Gespräche zu führen, wo Gespräche möglich sind, die infame Rede von den „Feinden des Volkes“ als böse Verlogenheit zu entlarven und die Anliegen derer, die sich ungehört oder unverstanden glauben, mit ehrlicher, glaubhafter Offenheit aufzunehmen.
Auch die zweite Rede schlägt einen besonnenen Ton an, der aus dem Ethos des Gesprächs und der Verständigung kommt: die Festrede Hans Küngs vom selben Tag. Es war übrigens eine kleine Sensation, ausgerechnet Hans Küng, den Katholiken, die Festrede der doch traditionell sehr protestantischen Universität sprechen zu lassen. Ein vielbeachtetes Beispiel für den irenischen Geist der damaligen Universitätsverantwortlichen. Er sprach über das spannungsreiche Verhältnis von Glauben und rationaler Wissenschaft. Beide je für sich genommen können zu gefährlicher Hybris werden: Reine Wissenschaft ohne Auseinandersetzung mit ethischen oder transzendenten Überzeugungen kann orientierungslose Allmachtsfantasien entwickeln. Und Religion, die sich nicht der Vernunft stellt, kann blind gegenüber der Wirklichkeit und zu unbeirrbarer Rechthaberei verführt werden, mit furchtbaren Konsequenzen – eine der vielleicht katastrophalsten Bedrohungen eines gemeinsamen Ethos. Auch das sehen wir in unseren Tagen wieder mit aller Deutlichkeit.
Gespräch hat immer mit Geduld zu tun, zumindest wenn es wirklich um Verstehen und Verständigung geht. Das gilt, wie gesagt, innerstaatlich; das gilt erst recht im außenpolitischen Bereich, in der Diplomatie; das gilt in Vertragsverhandlungen, im vorsichtigen, respektvollen, unbeirrbar lösungsorientierten Dialog. Eine der wichtigsten Erfahrungen meines politischen Lebens hat mir das unvergesslich vor Augen geführt: die zwölfjährigen Verhandlungen über das Atomabkommen mit dem Iran.
Wie oft musste ich da an jenes fromme Bild denken, in der Kunstgeschichte einmalig, das man in Augsburg findet: ein Bild von der Himmelskönigin Maria als Knotenlöserin. In der Hand hält sie ein verwickeltes Fadenknäuel, einen Knoten, aus dem sie mit unendlicher, man könnte sagen: himmlischer Geduld die Fäden aus dem scheinbar unentwirrbaren Knoten löst.
Besteht nicht politisches Ethos verantwortlich handelnder Politiker im bescheidenen, unbeirrbaren, geduldigen Knotenlösen? Knotenlösen begreife ich als ethisches Prinzip politischen Engagements gerade heute.
Was aber, wenn jedes Gesprächsangebot auf taube Ohren stößt? Die dritte Tübinger Jubiläumsrede benannte deutlich dieses Problem: eine Predigt des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel am nächsten Tag. Er legte dar, wie Lüge und Halbwahrheiten jedes vernünftige Gespräch zerstören oder gar nicht erst zustande kommen lassen. Und dass zu einem Gespräch auch gehört, anderen unangenehme Wahrheiten zuzumuten, den Partner oder Gegner nicht zu schonen. In diesem Sinne sprach er die Terroristen direkt an: „Kehren Sie um, nicht bevor, sondern obwohl es längst zu spät ist. […] Allein das Eingeständnis der harten und unerbittlichen Wahrheit, dass Sie nicht nur Feinde der menschlichen Gesellschaft geworden sind, sondern dass Sie selbst keine ärgeren Feinde haben als sich selbst, kann Ihnen noch helfen. Allein diese Wahrheit kann Sie von sich selbst befreien.“
Kann man also, soll man also auch mit oder zumindest zu Unvernünftigen vernünftig reden? Zum Ethos des Gesprächs gehört das freie und entschiedene Wort, gerade wenn die Chance, überhaupt noch gehört zu werden, minimal ist. Aber mit Unvernünftigen zu reden, darf nicht bedeuten, sich auf das gleiche Niveau zu begeben. Auch mit Unvernünftigen vernünftig zu reden versuchen, ihnen zu sagen, was sie nicht hören wollen: das bedeutet ja gerade, der eigenen ethischen Überzeugung treu zu bleiben. Es bedeutet, dem anderen zuzumuten, aber auch zuzutrauen, eine gemeinsame ethische Grundlage zu entdecken oder wiederzuentdecken. Es bedeutet, klar und deutlich zu demonstrieren, dass niemand von der gemeinsamen ethischen Grundlage ausgeschlossen oder von der gemeinsamen ethischen Verpflichtung dispensiert werden kann.
Die Friktionen, die sich gegenwärtig innerhalb der einzelnen westlichen Gesellschaften zeigen, und die Friktionen, die innerhalb der Weltgesellschaft zutage treten, lassen das, was ich gerade – zugegebenermaßen sehr kurz – gesagt habe, wie die berühmte Arbeit des Sisyphus erscheinen. Eine Arbeit, die mitunter müde machen kann und die auch gelegentlich Stunden der Ratlosigkeit oder gar der Verzweiflung kennt. Aber gibt es dazu eine Alternative? Eine Alternative außer dem Freund-Feind-Denken, außer unversöhnlichem Hass? Dem schnell auch ein Freund-Feind-Handeln, also gewalttätige Auseinandersetzung, Bürgerkrieg und Krieg folgen können und historisch auch meistens gefolgt sind?
Nein, die Idee des Weltethos ist keinesfalls obsolet geworden. Sie ist im Gegenteil von unerhörter historischer Dringlichkeit. Aber Welt-Ethos, Ethos überhaupt, ist nicht zuerst Schrift und Papier. Es steckt darin – wenn ich den bekannten Begriff Kants einmal im übertragenen Sinn gebrauchen darf –, es steckt darin ein kategorischer Imperativ, der die Menschen guten Willens, der uns alle verpflichtet. Und zwar zur beharrlichen, auch beschwerlichen, zur zielgerichteten, wenn auch oft kleinteiligen Arbeit an Verständigung und Frieden. Im Lösen der verwickeltsten Knoten. Im Hören aufeinander. Im geduldigen Gespräch.
Was aber ist – so werden manche, und zwar mit vollem Recht, einwenden –, wenn uns die Zeit davonläuft? Wenn für geduldiges Gespräch, für endlose Verhandlungsrunden, für Bedenken und Abwägen, wenn für Argumente und Gegenargumente anscheinend gar keine Zeit mehr ist? Was ist, wenn eine junge Generation noch nicht entscheiden und exekutieren kann, was ihr als absolut notwendige Politik erscheint, wenn sie aber die Folgen des Nicht-Handelns noch erleben muss? Und wenn eine ältere Generation notwendiges Handeln von einem zum anderen Jahr aufschiebt, dessen schreckliche Konsequenzen sie nicht mehr erleben wird?
Klingt uns nicht das „How dare you?“ kürzlich aus New York – wie immer man dieses heftige Pathos des jungen Mädchens auch empfunden haben mag – mit einem gewissen Recht im Ohr und im Gewissen nach? Und stellt nicht die Frage der Verantwortung der einen Generation für die nächste und alle folgenden noch einmal ganz neue Fragen an Formulierung und praktische Umsetzung eines Weltethos?
Und gibt es angesichts des Verschwindens der Biodiversität – jedes Jahr, jeden Monat, ja jeden Tag verschwinden Arten – nicht auch eine ganz neue ethische Dimension und Herausforderung zu bedenken, die kürzlich probeweise als Rechte-Revolution der Natur bezeichnet wurde?
Tagtäglich sehen wir die Folgen des Klimawandels. Dessen wenigstens zum größten Teil menschengemachte Ursachen kann kein vernünftiger Mensch mehr bestreiten. Drängt er uns nicht, Entscheidungen zu treffen, die mit sofortiger Wirkung Konsequenzen haben?
Peter Graf von Kielmannsegg hat neulich in einem bedenkenswerten Aufsatz die Frage aufgeworfen, ob die Demokratie in ihrer jetzigen Verfasstheit und mit ihren Verfahrenswegen und unendlichen Einspruchsmöglichkeiten überhaupt noch in der Lage sei, die notwendigen Entscheidungen in die Praxis umzusetzen, oder ob uns nicht nur noch so etwas wie eine Ökodiktatur überhaupt retten könne. Ohne Zweifel stellen uns die globalen Fragen des Klimas und der Biodiversität vor neue politische und auch politiktheoretische Fragen. Fragen, die auch Theorie und Praxis des Weltethos angehen.
Meine Überzeugung ist entschieden diese: Gerade jetzt, gerade im Angesicht der drängenden ökologischen Fragen sollten wir uns davor hüten, die Möglichkeiten der Demokratie gegen die bedrohliche, ja geradezu apokalyptische Größe der Herausforderung kleinzureden. Wir sollten uns hüten, in der Demokratie die einen gegen die anderen auszuspielen: etwa die Leidenschaft und Entschiedenheit der jungen Menschen auf der Straße gegen die vermeintliche Verfahrensversessenheit und überaus nüchterne Behäbigkeit der demokratischen Institutionen. Sondern gerade jetzt müssen wir das zu nutzen wissen, was einzig die Demokratie als Staatsform uns bietet: den Raum zum gemeinsamen Knotenlösen. Leidenschaft und Entschiedenheit haben darin ebenso ihren Platz wie Dialogbereitschaft und Vernunft. Demokratinnen und Demokraten müssen beides sein: radikal verständigungsbereit und leidenschaftlich vernünftig, wie Carsten Brosda schreibt. Aus beidem gemeinsam kann und muss der Mut erwachsen, Entscheidungen zu treffen.
Ich zitiere noch einmal aus Walter Scheels Tübinger Rede: „Es gehört, ich spreche aus eigener Erfahrung, oft ein verteufelter Mut dazu, als Politiker in einer so komplexen, unendlich vielgliedrigen, für einen Einzelnen nicht mehr überschaubaren Gesellschaft überhaupt eine Entscheidung zu treffen.“ Das war 1977! Wenn, wie ich gelegentlich gesagt habe, Demokratie als Staatsform der Mutigen zu begreifen ist, dann muss Mut, Mut zur Entscheidung vor allem, zum Ethos des Politikers gehören.
Entscheidungsmut heißt aber nicht – wie in der aktuellen Wiederbelebung autoritärer Weltbilder angelegt –, den sprichwörtlichen gordischen Knoten täglich mit Führerpathos und scharfem Schwert zu bearbeiten. Dabei geht nämlich meistens viel mehr kaputt als nur der Knoten. Nein: Entschieden und beharrlich und konsequent am Knotenlösen festzuhalten, auch die am kürzeren Ende des Fadens mitzunehmen, darum geht es. Auch da, wo Entscheidungen schnell fallen und umgesetzt werden müssen.
Jürgen Habermas macht am Ende seines neuen Werkes Mut dazu, auf die Kraft der vernünftigen Freiheit zu vertrauen. Es sei vor allem wichtig, dass „die handelnde politische Klasse“, wie er sagt, „nicht kapituliert“. Dass sie sich nicht „durch die Wahrnehmung der angeblich systemischen Überkomplexität regelungsbedürftiger Probleme einschüchtern lässt“.
Nein, wir lassen uns nicht einschüchtern. Nicht von den angeblich überkomplexen Problemen, aber auch nicht von den schrecklichen Vereinfachern, die die Welt in Freund und Feind spalten wollen und schon die Lösungen wissen, bevor sie die Aufgaben begriffen haben.
Wir wissen, dass es ein Paradies auf Erden nicht gibt. Und wer immer es in der Vergangenheit erschaffen wollte – und den neuen Menschen gleich dazu –, er hat nichts als Verderben angerichtet. Wir wissen, dass die Utopie aus der Zauberflöte ein poetischer Traum ist, nach dem wir zwar eine tiefe Sehnsucht haben, aber den wir nicht selber verwirklichen können.
Diese Einsicht bedeutet nicht, die Welt so zu lassen, wie sie ist. Wir können sie Stück für Stück besser machen. Wir können uns nach dem einen Knoten den nächsten zu lösen vornehmen. Und uns bei dieser geduldigen Arbeit von dem Anspruch leiten lassen, den ich noch einmal mit den berühmten Worten eines Tübingers formulieren möchte, dem Lehrer der Hoffnung, Ernst Bloch, dass nämlich die Welt für uns Menschen zu dem werde, was „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“.
Vielen Dank!
Quelle: Bundespräsident.de