Buchenwald, Häftlingsfreikauf und die Witwe Körner

Neulich erhielt ich, vom Dreilindenverlag in Berlin zugeschickt, das Erinnerungsbuch des Pariser Germanisten Jean-Pierre Hammer (1927) „Es war einmal die DDR…Bericht eines Augenzeugen aus Frankreich“. Von diesem Buch wusste ich seit Jahren durch meine Freunde Martin und Irmgard Hosemann, ein Lehrerehepaar in der Rheinpfalz. Martin Hosemann (1934-2014), dem in diesem Buch ein Kapitel gewidmet ist, stammte aus Halle, wo er als Student der Germanistik und Geschichte am 20. Juni 1957 von der „Staatssicherheit“ verhaftet wurde und einige Monate in Untersuchungshaft saß. Nach der Entlassung floh er nach Westdeutschland, wo er an der Universität Mainz bei seinem ehemaligen Hallenser Professor, dem Altgermanisten Karl Bischoff (1905-1983), das bereits in Halle absolvierte Examen wiederholen musste, weil es hierzulande nicht anerkannt wurde. Martin Hosemann war 1957 geflüchtet, sein Professor Karl Bischoff 1959.
Irmgard Hosemann, die Anglistik und Romanistik studiert hat, kennt Jean-Pierre Hammer seit ihrem Studium in Frankreich. Sie hat auch Teile des Buches übersetzt, deshalb wusste ich seit Jahren davon. Schon beim ersten Blättern fiel mir auf: Nirgendwo sind der französische Titel, das Erscheinungsjahr der französischen und der deutschen Ausgabe und die Namen der Übersetzer genannt. Lediglich einem Interview „Vom Ehrengast zur Persona non grata“ im NEUEN DEUTSCHLAND vom 26. Mai 2011 kann man Einzelheiten über den Autor und sein Buch entnehmen. Der französische Titel des 2010 erschienenen Buches lautet in Übersetzung „Das wahre Gesicht der DDR zwischen Stasi und demokratischer Opposition“. Im Interview erfährt man, Jean-Pierre Hammer, der heute 88 Jahre alt ist, hätte 15 Jahre lang, von 1962 bis 1977, in die DDR einreisen dürfen. Er war bei der ersten Reise 1962 gerade aus der „Kommunistischen Partei Frankreichs“ (KPF) ausgeschlossen worden (eingetreten war er 1949), bekam wider Erwarten ein Visum für die ganze DDR und wurde von SED-Funktionären begleitet, die ihn hofierten und alle Wege ebneten bei der Suche nach Manuskripten des deutsch-ungarischen Dichters Nikolaus Lenau (1802-1850). Außerdem war er auf der Suche nach deutschen Büchern, weil er von der madagassischen Regierung den Auftrag erhalten hatte, auf der französischsprachigen Insel Madagaskar ein Germanistisches Institut aufzubauen. Durch ihn hofften nun die DDR-Außenpolitiker, auf Madagaskar Fuß fassen zu können. Im Sommer 1963 aber musste er fünf Stunden am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße warten und hatte Schwierigkeiten, ein Hotelzimmer zu bekommen. Das ist mein erster Eindruck von diesem Buch, das ich in einigen Wochen lesen werde!
Nun habe ich vor einigen Wochen, am 4. Februar 2015, die Todesanzeige „meines“ MfS-Vernehmungsoffiziers Rudolf Körner (1929-2013) im INTERNET gefunden. Er hatte mich, damals 32 Jahre alt und Leutnant, vom 9. Dezember 1961 bis zum Prozess vor dem Leipziger Bezirksgericht am 22./23. Januar 1962 vernommen. Ich wurde zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt und nach drei Jahren aus dem Zuchthaus Waldheim freigekauft. Dann kamen der Mauerfall und die Öffnung der Stasi-Archive. Ich fand seinen Namen am 20. April 1993 in meinen Akten und schrieb ihn an. Am 18. Mai 1993 rief er mich in Bonn an, wobei mir das Herz bis zum Hals schlug. Am 20. Mai trafen wir uns im Operncafé am Schwanenteich hinter der Leipziger Oper und sprachen anderthalb Stunden miteinander. Er erzählte mir damals, er wäre im Dezember 1989 mit 60 Jahren beim MfS im Range eines Majors ausgeschieden. Seitdem habe ich ihn nie wieder getroffen, nur dieses eine Mal, aber ich schrieb mehrmals in den letzten Jahren die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG an, um zu erfahren, ob seine Todesanzeige schon gedruckt wäre. Am 4. Februar 2015 fand ich die Todesanzeige im INTERNET. Er ist am 15. November 1929 geboren und am 13. Juni 2013 in Leipzig gestorben.
Unterschrieben hatte seine Witwe Ruth Körner, die noch unter der Anschrift zu finden war, an die ich 1993 geschrieben hatte. Was wollte ich von ihr mit diesem Brief? Lediglich Informationen über ihren Mann, der mir schließlich drei Jahre meines Lebens gestohlen hatte. Deshalb schimpfte ich auch nicht auf diesen verbrecherischen SED-Staat, sondern schrieb ihr, dass ihr Mann mir immer vorgeworfen hätte, die DDR überhaupt nicht zu kennen, ich sie aber in den drei Zuchthausjahren in Torgau, Rositz bei Altenburg, Leipzig und Waldheim gründlich kennen gelernt hätte, „wenn auch nur aus der Perspektive des Strafgefangenen“. Mein Brief war vom 6. Februar, schon am 9. antwortete sie und stieg voll auf meine Bemerkung ein: „Übrigens möchte ich die Behauptung meines Mannes, dass Sie die DDR nicht kannten und nicht kennen, unterstreichen. Selbst dann aus der Vogelperspektive, Verzeihung aus dem Gefängnis, konnten Sie unser Leben nicht kennen lernen. Sie haben doch nur das gesehen und geglaubt, was DDR-Gegner von sich gaben. Wir haben ein gutes und sehr ruhiges Leben geführt.“
Ich meine, bei solchen Ansichten, die im Bewusstsein dieser Stasi-Leute fest einmontiert sind, lässt sich schwer gegenargumentieren, vor allem nicht brieflich. Nach den Unterlagen, die Dr. Wolfgang Mayer mir geschickt hat, handelt es sich bei den Körners in Leipzig um eine ganze Stasi-Dynastie, die alle der ISOR angehörten oder angehören. Die ISOR heißt aufgelöst „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR“ und ist ein am 6. Juni 1991 gegründeter „Stasi-Traditionsverein“ (Konrad Weiß, Ex-DDR-Bürgerrechtler), der 24 000 Mitglieder aufweist und am Berliner Franz-Mehring-Platz 1 residiert, im selben Gebäude, in dem auch die Redaktion des NEUEN DEUTSCHLAND untergebracht ist. In ihren politischen Zielen ist die ISOR, so Konrad Weiß „mit der HIAG vergleichbar“. Die HIAG war die „Hilfsorganisation auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS“. In seinem Buch „Die Täter sind unter uns“ (2007) hat Hubertus Knabe der ISOR unter dem Titel „Tätergewerkschaft“ ein Kapitel (S.309-318) gewidmet, wo er zu erstaunlichen Erkenntnissen kommt. Demnach setzt dieser „Kampfverband für Luxusrenten“ polemisch den Begriff „Rentenstrafrecht“ ein, den es im Strafgesetzbuch nicht gibt. So sind die ISOR-Leute mit Hilfe des Berliner Anwaltsbüros Benno Bleiberg und Mark Schippert gegen 15 000 Rentenbescheide vorgegangen und haben, obwohl sie eigentlich Verächter der bürgerlichem Demokratie sind, allein zwischen 1996 und 1999 rund 4500 Eingaben an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags gerichtet. Zu DDR-Zeiten wäre eine solche Fülle von Eingaben als Behinderung der Behörden strafrechtlich verfolgt worden! Allein diese Vorgänge, dass der deutsche Steuerzahler heute die Luxusrenten der Angehörigen der „herrschenden Klasse“ der DDR bezahlt, ist ein starker Beweis dafür, aber beileibe nicht der einzige, dass die Wiedervereinigung gescheitert ist.
Zurück zu Ruth Körners Brief vom 9. Februar! Ich hatte ihr am 6. Februar geschrieben, dass ihr Mann, Leutnant Rudolf Körner, mir während der Untersuchungshaft erzählt hätte, er wäre von Beruf Feinblechner gewesen. In unserer Diskussion damals war es um die „antagonistischen Widersprüche“ in der DDR-Gesellschaft gegangen. Er hatte mir weismachen wollten, wenn die „antagonistischen Widersprüche“ aufgelöst wären, brauchte man auch keine „Staatssicherheit“ mehr. Ich konterte: „Was werden Sie dann machen?“ Da hob er theatralisch die Hände und rief, dann ginge er wieder in die Fabrik arbeiten. Ich musste mich zurückhalten, um nicht zu rufen: „Warum sind Sie nicht gleich dabei geblieben?“ Seine Frau widersprach mir, er wäre zwar Feinblechner gewesen, hätte aber 1969/72 Jura studiert (vermutlich an der MfS-Hochschule in Potsdam-Eiche) und wäre von 1972 an als Dezernatsleiter bei der Leipziger Bezirksbehörde der DEUTSCHEN VOLKSPOLIZEI eingesetzt gewesen. Die Angelegenheit „Rudolf Körner“, der sich in meiner Gegenwart am Telefon immer 3/5 nannte, werde ich weiter verfolgen. Am 8.März,dem „Internationalen Frauentag“, habe ich der Witwe Ruth Körner noch einmal einen Brief geschrieben, der bis heute 19. April) ohne Antwort blieb! Auch heute, 8. Mai 2015, liegt keine Antwort vor!
Neulich, im Januar 2015, fand in der Laurentiuskirche in Meeder, einem Dorf, das zwischen Coburg und Rodach liegt, die Trauerfeier für meinen Jugendfreund Friedemann Wagner (1936-2015) statt, der im Alter von 79 Jahren gestorben ist. Er kam mit seinen Eltern und Geschwistern nach dem Kriegsende 1945 von Dresden nach Rodach, wo seine Großmutter lebte, später haben wir gemeinsam in Berlin studiert, als wir beide der „Landsmannschaft Altschlesien“ angehörten. Friedemann wollte nie Karriere machen, er blieb nach dem Examen in Rodach und wurde Bankangestellter in einem Nachbardorf. Seine Leidenschaft waren die Jagd und der Aufenthalt in der freien Natur.
Am Freitag, 17. April, sah ich in ARD-ALPHA den DEFA-Film „Der Frühling braucht Zeit“ des DDR-Regisseurs Günter Stahnke. Der Film, am 26. November 1965 uraufgeführt, wurde auf dem berüchtigten XI.Plenum (16.-18. Dezember 1965) mit einer Reihe anderer Filme und mit mehreren Romanen (Manfred Bieler, Werner Bräunig) verboten, er gehörte somit zu den „Kaninchenfilmen“, weil der Film „Das Kaninchen bin ich“ nach dem Roman Manfred Bielers (1969 nur im Westen erschienen) der bekannteste dieser verbotenen Filme war, die ARD-ALPHA jetzt zeigt (24. März „Karla“).
Bei dem Film „Der Frühling braucht Zeit“ weiß der Zuschauer nicht, ob er wegen Kritik an den SED-Funktionären oder wegen 76 Minuten penetranter Langeweile verboten wurde. Es geht um eine Ferngasleitung im Norden der DDR, also im Bezirk Rostock, die mitten im Winter ausgefallen ist. Der parteilose Ingenieur Heinz Solter schafft es, den Schaden zu beheben, wird aber von Werkdirektor Erhard Faber gezwungen, die Leitung vorzeitig freizugeben, gegen alle Sicherheitsvorschriften. Dadurch kommt es zu einer Havarie, die einen Schaden von einer halben Million DDR-Mark verursacht. Heinz Solter wird verhaftet und soll wegen Sabotage verurteilt werden.
Nichts ist überzeugend in diesem Film. Der Ingenieur wird nicht der „Staatssicherheit“ zugeführt, was bei diesem Delikt zwingend notwendig gewesen wäre, sondern der Kriminalpolizei. Die Verhöre dort sind ein Witz: Der Gefangene wird in Zivil (!) dem Richter vorgeführt, mit dem er sich stehend drei Minuten unterhält. Dann ist der Richter überzeugt, dass der Gefangene unschuldig ist. Er fährt mit ihm zur Leitungssitzung seines Betriebes, wo er, nachdem er fristlos entlassen worden war, nach Abstimmung wieder eingestellt wird, während der Betriebsleiter Erhard Faber das Weite sucht.
Dieser Film ist ein sozialistisches Märchen: Die Stasi wäre zuständig gewesen, sie hätte den Verhafteten wochenlang angebrüllt, Schlafentzug angeordnet, ihn verdächtigt, Westsender zu hören und im Auftrag des „Klassenfeinds“ Sabotage begangen zu haben. Acht bis zehn Jahre Zuchthaus wären ihm sicher gewesen. Aber hier löst sich die ganze Handlung in Wohlgefallen auf. Freilich missfiel dem Politbüro , dass ein verdienter Genosse wie der Werkdirektor Schuld auf sich geladen hat. So handelten führende Genossen nicht! Der Regisseur Günter Stahnke hat nach diesem Film nur noch unpolitische Themen behandelt!
In meiner „Lieblingszeitung“ NEUES DEUTSCHLAND stand neulich ein aufgeregter Artikel von Karlen Vesper über die vom ISLAMISCHEN STAAT im Irak betriebene „Kulturschande“, nämlich: alte Kulturdenkmäler aus der Zeit vor 3000 Jahren zu zerstören und damit Geschichte auszulöschen. Das sind ohne Zweifel ungeheuerliche Vorgänge, die auch niemals wieder rückgängig gemacht werden können! Nur frage ich mich, wieso NEUES DEUTSCHLAND das Recht hat, solche Schandtaten aufzugreifen und zu kritisieren. Der atheistische und geschichtsferne Bilderstürmer Walter Ulbricht (1893-1973) hat sich nach 1949, als er die unumschränkte Macht im SED-Staat hatte, genauso verhalten wie die arabischen Terroristen: Schloss Schönhausen in der Altmark, das Geburtshaus (1.April 1815) Otto von Bismarcks, des Reichskanzlers nach 1871, wurde am 2. August 1950 als „Symbol des preußischen Militarismus“ gesprengt; das Berliner Stadtschloss der Hohenzollern, gebaut 1442 im Auftrag der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, wurde, nach einem Beschluss Walter Ulbrichts auf dem III.SED-Parteitag vom 23. Juli 1950, am 7. September 1950 gesprengt; die Potsdamer Garnisonkirche, erbaut 1730/35 auf Anordnung König Friedrich Wilhelms I. ,wurde im Mai/Juni 1968 auf Befehl Walter Ulbrichts gesprengt; die Leipziger Universitätskirche, auch Paulinerkirche genannt, wo Martin Luther gepredigt und Johann Sebastian Bach musiziert hat, wurde auf Befehl Walter Ulbrichts am 30. Mai 1968 gesprengt, Erich Loest hat das eindringlich in seinem Roman „Völkerschlachtdenkmal“ beschrieben. Ist das alles schon vergessen?
Gestern Abend um 19.00 Uhr war im Gemeindesaal der Lukaskirche, die gegenüber unserer Wohnung liegt, ein Vortragsabend mir Elisabeth Freyer, die aus Sonneberg/Thüringen stammt, mit Eltern und Bruder nach Crimmitschau/Sachsen zwangsausgesiedelt wurde und heute in Neustadt bei Coburg lebt. Eingeladen zum Vortrag hatte die Gruppe „Coburg ist bunt“ („Netzwerk für Menschenrechte und Demokratie“), rund 15 Leute waren gekommen. Es war ein hochinteressanter und spannender Abend, auch wenn man einschränken muss, dass die Westdeutschen, zumal die Coburger, deren Wohnort unmittelbar an der innerdeutschen Grenze lag, herzlich wenig über die Zustände im SED-Staat wussten und wissen. Deshalb hätten einige von der Referentin verwendete Begriffe wie VPKA und „Bonner Ultras“ erklärt werden müssen. Der Vater Elisabeth Freyers, der in Sonneberg einen kleinen Fahrradhandel betrieb, wurde nach dem Mauerbau von einem “agent provocateur“ zu staatsfeindlichen Aussagen verleitet und danach zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der Rest der Familie wurde dann gegen ihren Willen nach Crimmitschau verschleppt und stellte dort beim „Rat der Stadt“ ununterbrochen Ausreiseanträge, die schließlich 1974 (!) genehmigt wurden. Die Verantwortlichen dieses Staatsterrors gegen eine völlig unschuldige Familie wurden, trotz Anzeige nach der Wiedervereinigung, nie bestraft!
Jetzt am 1. April wurde eine Neuverfilmung des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“ (1958) von Bruno Apitz (1900-1979) gezeigt. Dieser Film war wesentlich realistischer als der DEFA-Film von 1963, den sie uns noch 1964 zur „Umerziehung“ in Waldheim gezeigt haben. Da der Film auf dem Roman basiert, konnte man die Geschichte mit dem dreijährigen Kind im Koffer, die höchst unglaubwürdig ist, nicht weglassen. Aber anders als im DEFA-Film, der die nie stattgefundene „Selbstbefreiung“ der Häftlinge glorifiziert, wird in der Neuverfilmung gezeigt, wie es wirklich war: Die SS-Leute hatten Stunden zuvor das Lager Buchenwald verlassen und waren in die umliegenden Wälder geflüchtet, nur einige wenige waren von den Häftlingen festgenommen worden, die Wachtürme aber, von wo aus auf die Häftlinge im Lager geschossen wurde, waren nicht mehr besetzt, als die Amerikaner einrückten. Dennoch wurde der Bildhauer Fritz Cremer( 1906-1963) 1958 gezwungen, in seine Buchenwald-Gruppe einen Sowjetsoldaten aufzunehmen, was nichts als Geschichtsklitterung ist, denn die „ruhmreiche Sowjetarmee“ ist nie in Buchenwald gewesen, sie marschierte erst am 4. Juli 1945 in Westsachsen und Thüringen ein. In der Neuverfilmung sind einige drastische Szenen zu sehen, die offensichtlich der Realität im Konzentrationslager Buchenwald entsprechen und für den Zuschauer kaum auszuhalten sind.
Am 1. April standen in allen Zeitungen Vorberichte zum Film „Nackt unter Wölfen“. Ich habe nun außer dem NEUEN DEUTSCHLAND auch das DKP-Zentralorgan UNSERE ZEIT abonniert. Man muss ja wissen, was der Klassenfeind treibt! Dort hat Prof. Dr. Rüdiger Bernhard (1940), bis 1993 Germanist an der Universität Halle, über den Film geschrieben, wobei er dem Regisseur „Antikommunismus“ vorwirft. Der Professor ist vier Jahre nach dem Mauerfall aus der Universität Halle gefeuert worden, weil er intensiv für die „Genossen von der Sicherheit“ (Wolf Biermann) gearbeitet hat. Er verfertigte auch „Gutachten“ und nannte den Erzähler Detlev Opitz wegen eines Manuskripts über Martin Luther „psychisch labil… vielleicht auch psychisch gestört“, was fast der Aufforderung gleichkommt, ihn in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen. Heute lebt der Professor unbehelligt in Bergen/Vogtland, wo er das Haus seiner Eltern geerbt hat. In Joachim Walthers Buch „Sicherungsbereich Literatur“ (1996) wird ausführlich über sein verhängnisvolles Wirken berichtet.
Aber im Kontext des Buchenwald-Films stieß ich auf Lars Förster in Chemnitz, der über Bruno Apitz eine „politische Biographie“ veröffentlicht hat (die leider 36.00 Euro kostet). Ursprünglich war das eine Dissertation, die er dann zu einem spannenden Buch umgearbeitet hat. Ich habe mit ihm mehrmals gemailt und dann auch mit Freude festgestellt, dass er im Literaturverzeichnis seines Buches meinen Aufsatz „Deutung über Buchenwald“ aus der JUNGEN FREIHEIT vom 9. April 2012 aufgenommen hat. Ich habe auch mit meinem Waldheimer Mithäftling Baldur Haase (1939) in Jena über Buch und Film gesprochen. Er war ja 1959 im Alter von 20 Jahren verhaftet worden, weil er sich von einem Freund in Duisburg George Orwells Roman „1984“ hatte schicken lassen, der in der DDR streng verboten war. Dafür hatte er drei Jahre Zuchthaus bekommen und 2003 ein Buch darüber geschrieben „Briefe, die ins Zuchthaus führten“.- Seinem Freund hatte er als Gegengeschenk den Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958) geschickt. Während der Vernehmung bei der MfS-Bezirksverwaltung Gera fragte der MfS-Offizier: „Warum haben Sie Ihrem Freund keinen fortschrittlichen DDR-Roman geschickt, sondern ein Tierbuch?“
Überhaupt stelle ich mit Beglückung fest, dass an den ehemaligen DDR-Universitäten, aber auch in Westberlin zunehmend die DDR-Literatur und die Geschichte der DDR-Häftlinge aufgearbeitet werden. Heute Morgen um 6.45 Uhr, als ich nach dem Schwimmen um 6.00 Uhr meine Post aus dem Schließfach holte, fand ich dort Heft 2/2015 der vom BUND DER VERTRIEBENEN in Bonn edierten Zeitschrift DEUTSCHER OSTDIENST, und darin ein Interview mit Karl Wilhelm Fricke (1929) und Susanne Muhle. Unser Haftkollege Karl Wilhelm Fricke ist 1955 von Agenten der „Staatssicherheit“ in einer Westberliner Wohnung betäubt und nach Ostberlin entführt worden, vier Jahre saß er dann in Bautzen II. In seinem Buch „Akteneinsicht“ (2011) hat er darüber berichtet. Er ist eine der wichtigsten und vor allem unbestechlichsten DDR-Forscher. Er wurde von Bernd Kallina, Redakteur beim Kölner DEUTSCHLANDFUNK, interviewt. Susanne Muhle, die auch interviewt wurde, hat ein umfangreiches Buch (678 Seiten) geschrieben: „Auftrag Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR“ (2015), das leider auch 50.00 Euro kostet.
Auf meinem Nachttisch liegen drei Bücher, die dem Freikauf von DDR-Häftlingen 1964/89 gewidmet sind. Das erste stammt von Ludwig A. Rehlinger (1927), der zuletzt Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen war. Die letzte Ministerin dort war übrigens die unsägliche Dorothee Wilms (1929), die Rheinländerin war und von der DDR keine Ahnung hatte. Leider wurde dieses Ministerium 1991 aufgelöst, als es am nötigsten gewesen wäre. Ludwig A. Rehlingers Buch erschien zuerst 1991 und dann 2011 in zweiter und überarbeiteter Auflage im MITTELDEUTSCHEN VERLAG in Halle. Der Titel „Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989“. Das war der Erfahrungsbericht eines Politikers, der mit dem Freikauf befasst war.
Aber 2014 erschienen dann auch zwei umfangreiche Dissertationen über den Freikauf, die sich wie Kriminalromane lesen: Die Heidelberger Dissertation Alexander Kochs „Der Häftlingsfreikauf. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte“ (456 Seiten) und die Potsdamer Dissertation Jan Philipp Wölberns „Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen“ (568 Seiten). Das hätten wir freigekauften Häftlinge uns im Sommer 1964 nicht träumen lassen, dass ein halbes Jahrhundert danach über unsere Geschichte Dissertationen geschrieben würden. Habe ich oben nicht geschrieben, diese beiden Bücher läsen sich wie Kriminalromane? Es sind Kriminalromane, wir sind bei der Verhaftung Kriminellen in die Hände gefallen, der Gangsterbande der „Staatssicherheit“, die behaupteten, im Auftrag der „Weltrevolution“ zu handeln und deshalb angeblich das Recht hätten, uns für freie Meinungsäußerung, was sie „staatsfeindliche Hetze“ nannten, einzusperren. Und dann wurden wir während der Haft (worüber wir, trotz allem, sehr glücklich waren!) vom obersten Gangsterboss Walter Ulbricht gegen Westgeld an die westdeutschen „Kapitalisten“ verkauft! Wenn das kein Kriminalroman ist!
Am Dienstag, 5. Mai, sprach ich um 19.00 Uhr in der Bamberger Kolping-Akademie über meine Waldheimer Erlebnisse. Das sollte nun kein Vortrag sein, sondern eine Befragung durch den Meininger Journalisten Hans Joachim Föller (1958), der schon im November 2013 in der Volkshochschule Hildburghausen meine Haftkollegin Ellen Thiemann interviewt hatte. Als wir um 18.10 Uhr von Coburg aus eingetroffen waren, war noch niemand da, von den Angestellten erfuhren wir, es lägen vier Voranmeldungen vor. Aber dann kamen doch so viele Zuhörer, dass fast alle Plätze im Raum „Florenz“ besetzt waren. Nach 20.00 Uhr fragte Hans Joachim Föller nicht mehr, sondern überließ mir das Wort. Das Publikum saß wie gebannt vor mir, das konnte ich sehen. Es waren auch mehrere Sachsen im Saal, darunter eine jüngere Frau aus Döbeln, die 1989/90 von dort nach Bamberg gegangen war. Sie konnte alles bestätigen, was ich erzählte, auch deshalb, weil Waldheim im Landkreis Döbeln liegt. Die einstündige Diskussion war belebend und erfrischend. Um 21.30 Uhr (nur zwei Zuhörer waren inzwischen gegangen!) beendeten wir die Veranstaltung: Ich war erschöpft, hungrig und glücklich!

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Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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