Buchbesprechung von Wolfgang Schlott – Yasmine Chami. Tief ins Fleisch

Yasmine Chami. Tief ins Fleisch

Die Trennung Ismails von seiner Ehefrau Médée –nach über dreißig Jahren – erweist sich für beide als ein schreckliches Ereignis. Mit diesen Worten leitet die auktoriale Erzählerin des Romans „Tief ins Fleisch“ ihren Roman über eine marokkanische Mittelstandsfamilie ein. Es ist eine weitverzweigte Sippe, deren Mitglieder in dem Vorspann des Buches aufgelistet  sind. Auf diese Weise erfahren Leser*innen sofort, dass Ismail auch Vater zweier Töchter, Aya und Samuga, und des Sohnes Adam ist.

Die Vielzahl der aufgelisteten Personen hat die Autorin Chami sicherlich bewogen, den Part der alleinigen Erzählerin zu übernehmen, ein Verfahren, dass ihr nicht zuletzt aufgrund ihrer differenzierten Erzählweise überzeugend gelungen ist. Die 1966 in Casablanca geborene Yasmine Chami studierte Philosophie an der Ecole nationale Superieure in Paris. Sie ist Professorin der Anthropologie, engagiert sich an der Weltlesebühne e.V., ist T.V.- Redakteurin einer Filmgesellschaft in Marokko. Diese hochqualifizierten professionellen Tätigkeiten spiegeln sich auch in den unterschiedlichen Erzählweisen ihres Romans wider. Sie zeichnen sich durch eine kongeniale Verbindung von Denk- und Handlungsweisen aus. Die auf diese Weise sich abbildende atemberaubende Universalität ihrer Schreibweise erlaubt ihr, die sehr unterschiedlichen  Denkstrukturen, die sich aufgrund der unterschiedlichen Handlungsweisen ihrer männlichen Figuren zu einem spannenden Plot zu fügen. Auf diese Weise vermag sie jugendliche Sprachweisen ebenso wie Sprachformen von älteren Akteuren in Einklang zu bringen, wie z.B. diejenigen von J. Hourya, der  Mutter von Ismail oder jnen von Youssef, der Kinderfrau von Ismail. Die Leser*innen erfahren auf diese Weise nicht nur etwas über Lebens- und Denkweisen in den einzelnen Familien, sondern werden auch mit Verhaltensweisen in der nordafrikanischen Monarchie vertraut gemacht. Wesentlich ist dabei die freimütige Darlegung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, in der weibliche Personen allerdings sehr oft in den gesellschaftlich relevanten Hintergrund gedrängt werden. Auf diese Weise wird z.B. die Benachteiligung der weiblichen Personen im staatlichen und privaten Gesundheitswesen deutlich.

Der Verdrängungskampf wird jedoch vor allem auch innerhalb der Familien durch unerwartet aggressive Handlungsweisen erkennbar. So zum Beispiel ist am Schluss der Romanhandlung der plötzliche gewaltsame Tod von Ismail, verursacht durch seinen Bruder Jawad, auch ein Kennzeichen dieser aggressiven Verhaltensweisen und ein Symptom einer spätfeudalistischen Gesellschaft. Dieses komplexe Handlungsgefüge, dessen Beschreibung mit wenigen Ausnahmen aus dem Blickwinkel der multifunktionalen Erzählerin erfolgt, nur selten durch dialogische Handlungsweisen unterbrochen wird, entwirft und beherrscht Yasmine Chami glänzend. Ebenso wie Claudia Steinitz, die kongeniale Übersetzerin des Romans. Sie wurde für ihre zahlreichen Übertragungen von Romanen aus der französischen Gegenwartsliteratur wie auch als Co-Autorin für ihre Zusammenarbeit mit Tobias Scheffel bei der Übersetzung des Romans Vom Rauschen und Rumoren der Welt von Belinda Cannone ausgezeichnet.

Letztendlich erweist sich die kritisch Anmerkung, dass manche Leser*innen möglicherweise von den komplexen Aussagen in manchen Passagen in Tief ins Fleisch so überrascht sind, dass der sprachlich gelungene „Rausch“ an ihnen vorübereilt, ohne die beabsichtigte, tiefschürfende Wirkung zu erzielen. Vielleicht aber war der Rezensent selbst überrascht von manchen glänzenden Aussagen des Romans, für den zweifellos die Wertung großartig, wundervoll, mit großem sozialen Engagement geschrieben, bleiben wird. Und eine solche Wertung trifft vor allem auf Erzählpassagen zu, in denen die männlichen Akteure sich oft selbstkritisch gegenüber ihren weiblichen Familienmitgliedern äußern. Die auf diese Weise sich entfaltende Emanzipation fand im Jahr 2017 ihren Ausdruck in der Verleihung des Arabischen Kulturpreis an Yasmine Chami.

Yasmine Chami. Tief ins Fleisch

Yasmine Chami. Tief ins Fleisch. Edition Converso (Karlsruhe ) 2024, 189 S. 23,80 EUR. ISDN 78-3-94955831-3.

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