Sehr geehrte Frau Neubauer,
„Ich bin in der leicht vertrackten Situation, dass ich hier erzählen kann, was ich möchte, aber Sie haben schon längst ein Bild im Kopf. Sie haben schon längst Meinungen und Vorurteile und positive und negative Assoziationen im Kopf. Bevor ich nur einen einzigen Satz gesagt habe, haben Sie eine Idee wer ich bin und wer ich nicht bin. Und das ist logisch und trotzdem möchte ich einen Vorschlag machen: Ich möchte Sie einladen, mit mir zusammen nachzudenken, ganz unabhängig davon, wie Sie meinen letzten Tweet finden.“ So haben Sie Ihre Rede am 22. Juni anlässlich der Tübinger Mediendozentur begonnen. Ich habe diese Einladung zum Nachdenken gerne angenommen und möchte Ihnen mit diesem Brief dasselbe Angebot zur folgenden Frage machen: Sind Sie im Begriff, die Klimabewegung in einen Kampf zu führen, der niemals zu gewinnen ist?
Hermann Scheer, der leider viel zu früh verstorbene Energievisionär der SPD, war ein Freund meiner Familie. Er hat mir in den 80er Jahren folgendes Rätsel gestellt: An einer Weggabelung in der arabischen Wüste leben zwei Beduinen in einem Zelt. Der eine sagt immer die Wahrheit. Der andere lügt immer. Der eine Weg endet in der Wüste und bedeutet den Tod durch Verdursten. Der andere Weg führt nach Mekka. Du stehst an der Weggabel und kannst dem ersten, der aus dem Zelt heraus schaut, genau eine Frage stellen. Dann musst du weiter gehen. Welche Frage bringt dir absolute Gewissheit über den Weg nach Mekka?
Sie haben in Ihrem Vortrag davon berichtet, dass Hermann Scheers Buch „Der energethische Imperativ“ einen wichtigen Platz im Bücherregal Ihrer Großmutter hat. Auch ich halte ein persönlich gewidmetes Exemplar in Ehren. Es war Hermann Scheer, der am 11. Januar 2007 die Rede zu meiner Amtseinsetzung redete, und zwar über Klimaschutz in der Kommune. Denn ich hatte angekündigt, diesen ins Zentrum meiner Arbeit als Oberbürgermeister zu stellen. Von der entscheidenden Rolle der Kommunen im Übergang von einer fossil-atomaren Energieversorgung aus Großkraftwerken zu erneuerbarer Energie aus dezentralen Quellen waren wir beide vollständig überzeugt.
Mit dem EEG hat Hermann Scheer dafür die Grundlage gelegt. Die Stadtwerke Tübingen haben just am Tag Ihrer Rede bekannt gegeben, dass sie mit dem Bau eines weiteren Windparks auf der nahen Alb bereits im kommenden Jahr 75% des in ganz Tübingen benötigten Stroms in eigenen Anlagen aus erneuerbarer Energie erzeugen werden. Als Hermann Scheer die Rede zu meiner Amtseinsetzung hielt, lag dieser Wert noch bei 3%. Seine große Vision waren 100% erneuerbare Energie. Tübingen wird dieses Ziel in der Stromerzeugung bis 2030 erreichen. Wir beide, Sie und ich, sind aus derselben Denkschule hervorgegangen.
Ich vermute, dass auch die zentrale These Ihrer Rede, nämlich dass die eigentliche Aufgabe im Klimaschutz darin bestehe, die „Fossilität“ zu überwinden, auf Hermann Scheer zurückgeht. Er wurde in der Tat nie müde, die großen Energiekonzerne zu geißeln und vertrat vehement die Auffassung, dass die erneuerbaren Energien nur im Kampf gegen die alte Energiewirtschaft durchgesetzt werden können.
Sie sind jedoch einen entscheidenden Schritt weiter – wie ich meine: zu weit – gegangen. „Fossilität“, das ist in Ihrer Rede nicht einfach nur das Geschäftsmodell von Ölkonzernen. Sie beantworten Ihre Leitfrage, wie es gelungen sei, die Menschen für immer mehr Klimazerstörung zu gewinnen, mit dem Satz: „Mit Fantastilliarden an Werbegeldern wurden Menschen in fossile Wohlstandsmodelle hinein chauffiert. Emissionen wurden erstrebenswert.“ Fossiles Leben, fossiler Konsum, fossiler Fortschritt sei uns eingetrichtert worden. Die Beispiele, die Sie dafür nennen, reichen vom Lebenstraum Eigenheim und dem eigenen Auto über „dreimal täglich Fleisch“ und „12 Fast-Fashion Kollektionen pro Jahr“ bis zur Kreuzfahrtreise und zum Flugtourismus. Es fehlt in Ihrer Liste eigentlich nur das neueste Handy – warum eigentlich? In Summe ist das nichts anderes als ein Frontalangriff auf das westliche Wohlstandsmodell, dem heute fast die ganze Welt nacheifert. Und wenn mich entsprechende Andeutungen nicht täuschen, dann zählen Sie zur „Fossilität“, die im Kampf um die Macht zu überwinden ist, auch das Patriarchat, die Kolonialschuld und die Herrschaft der Superreichen.
Aus einem mächtigen, aber Isolierbaren Gegner, nämlich den Energiekonzernen, haben Sie so ohne Not einen allgegenwärtigen, übermächtigen Gegner erschaffen, nämlich nahezu alles, worauf die globale Wirtschaft und Gesellschaft fußt. Vattenfall und RWE kann man besiegen, sie sind sowieso nur noch ein Schatten ihrer selbst. Den Kampf für den Klimaschutz auszuweiten auf fast alles, was das Leben der meisten Menschen lebenswert macht oder als erstrebenswert gilt, erscheint mir hingegen von vornherein aussichtslos und deshalb von vornherein falsch, selbst wenn das notwendig wäre. Dafür kann ich aber gar keinen Grund erkennen. Ihre These, dass wir alle Verführte sind, die ihr Leben nach den Botschaften der Werbung für fossile Produkte ausrichten, ist mir zu paternalistisch und verkennt, dass dieselben Botschaften auch nach dem Umstieg auf erneuerbare Energien funktionieren können. James Bond kann auch im emissionsfreien Tesla den Helden geben. Vor allem übersehen Sie, dass die Nutzung fossiler Energie nicht nur den unbestreitbaren Nachteil hat, die Erde langfristig zu erwärmen, sondern der Menschheit den Ausweg aus allgegenwärtiger Not und einem täglichen Überlebenskampf ermöglicht hat. Technologisch kommt die mechanische Dampfmaschine auf der Basis von Feuer und Wasser zwangsläufig lange vor der Entdeckung des Halbleitereffekts für Solaranlagen. Ein fossiles Übergangsstadium war daher in der Menschheitsgeschichte nicht vermeidbar.
In „Factfulness“ hat Hans Rosling eindrucksvoll zusammengetragen, dass der Eindruck eines konstant wachsenden globalen Elends und unausweichlichen Niedergangs der Zivilisation vor allem eine Fehlwahrnehmung der gebildeten Schichten in den entwickelten Ländern ist. Tatsächlich weist er nach, welch fantastische Fortschritte die Weltgemeinschaft in den letzten 50 Jahren bei der Überwindung der großen Geißeln der Menschheit – Hunger, Seuchen und Kriege – gemacht hat, in welch atemberaubenden Tempo das Bildungswesen und das Gesundheitsysstem ausgebaut und die Versorgung der Menschen mit Gütern des täglichen Bedarfs ausgeweitet wurde. Nichts davon wäre ohne die Nutzung einfach und günstig verfügbarer fossiler Energiequellen möglich gewesen. Bis heute ist 90% des Weltenergiesystems fossil gespeist. Ohne Öl, Kohle und Gas hätten wir kein Klimaproblem, aber der Preis wäre Armut, Siechtum und Elend in großen Teilen der Welt. Milliarden Menschen, die heute noch Leben, wären in ihrer Kindheit gestorben. Eine gute Zukunft der Menschheit ist ein komplexes Entwicklungsproblem und nicht gelöst, wenn man nur „echten Klimaschutz“ macht, was in Ihrer Rede so klingt, als setze echter Klimaschutz voraus, alle anderen Belange zurückzustellen.
Nur ein Anliegen über alles zu stellen, birgt logisch die Gefahr, ins Totalitäre abzurutschen. Das unterstelle ich Ihnen nicht, aber bei Vertretern der letzten Generation sind solche Gedanken durchaus schon zu erkennen. Wir sollten dabei bleiben, vernünftige Abwägungen zuzulassen und dabei auch Güter einzubeziehen, die uns selbst entbehrlich erscheinen. Ihre Kritik an George W. Bush und dessen Absage an „echten Klimaschutz“ auf dem Erdgipfel in Rio 1992 mit dem Hinweis, der amerikanische Lebensstil sei nicht verhandelbar, bringt schnellen Beifall und bedient alte Reflexe. Aber vielleicht ist die Realität einfach die: Die große Mehrheit der Menschen will mehr vom amerikanischen Way of Life genießen, weil sie davon bisher noch sehr wenig hatte. Verzicht mag aus Sicht einer saturierten Oberschicht der Welt eine plausible Option sein. Ein Modell, dass sich schnell weltweit verbreiten ließe, steckt darin aber sicher nicht.
Sie erkennen das Problem insoweit an, als Sie uns dazu auffordern, einen klimafreundlichen Lebensstil zu propagieren, der es an Attraktivität mit der Werbung für schnelle Autos aufnehmen kann. Doch leider fehlt mir jeder Hinweis, was das sein sollte. Vegane Ernährung? Fahrradfahren? Urlaub auf der schwäbischen Alb? Sicher lassen sich da Nischen besetzen. Aber wir müssen sehen, wo wir derzeit stehen. Ich sage auch gerne, dass in Tübingen bereits 75% aller Wege ohne Auto zurück gelegt werden. Doch das ändert nichts daran, dass in Personenkilometern gerechnet rund 80% des Verkehrs in Deutschland Autoverkehr ist. Dieses CO2-Problem durch einen Wechsel des Verkehrsmittels zu lösen und zum Beispiel den ÖPNV mit seinen kümmerlichen 8% Verkehrsleistung als Ersatz anzusehen, ist schlicht zum Scheitern verurteilt. Da ändert auch das 9-Euro-Ticket nix. Die Verkehrswende ist ein Projekt zur Verbesserung der Lebensqualität in Städten, die Effekte für das Klima bleiben überschaubar. Für das Klima kann nur noch die Antriebswende rechtzeitig kommen. Ohne Autos wird es absehbar nicht gehen, ohne Auspuff schon. Hermann Scheer übrigens hat in seinem Buch „Solare Weltschaft“ eine Zukunft beschrieben, die aus dem unermesslichen Reichtum erneuerbarer Energien ein besseres Leben für alle Menschen macht. Warum schließen wir uns nicht dieser Vision an, die ohne Verzichts- und Bußrhetorik auskommt?
Die Aufgabe, vor der wir stehen, heißt nicht, die Klimakrise in Deutschland durch “Verhaltensänderungen inklusive kulturellen Muskelkaters und zeitweiligen Verzichts zu heilen“, wie Ihr Co-Autor Bernd Ulrich in der ZEIT just am Tag Ihrer Tübinger Rede geschrieben hat. Denn das Ergebnis wäre absehbar nicht nur das Ende jeder Regierung, die das zum Programm machen würde, sondern im unwahrscheinlichen Erfolgsfall nur Deindustrialisierung und Verarmung hierzulande. Aufstrebende Wirtschaftsmächte würden mit Handkuss übernehmen, was wir aufgeben, und dabei höhere Emissionen jederzeit in Kauf nehmen. Wenn wir das Klima retten wollen, dann kann das nur gelingen, indem wir einen universalistischen Ansatz wählen, also ein Modell entwickeln, dass tatsächlich so attraktiv ist, wie der von ihnen so bezeichnete fossile Lebensstil, nur eben ohne CO2-Emissionen.
Hermann Scheer wusste das. Sein Ziel war ganz simpel: 100% erneuerbar. Damit ist das Klimaproblem gelöst. Von diesem einfachen, mehrheitsfähigen und kommunizierbaren Ziel haben Sie sich mit der Ausrufung des Kampfes gegen die „Fossilität“ für meine Begriffe verabschiedet. Mehr noch, sie beschwören eine neue Gegnerschaft herauf, wo wir schon so weit waren, breite gesellschaftliche Bündnisse unter Einschluss aller relevanten Akteure auch aus der Wirtschaft zu schmieden. Ich verstehe die Verzweiflung, ich verstehe die Dringlichkeit, ich verstehe das Anliegen. Und doch komme ich zu dem Schluss, dass der von Ihnen vorgeschlagene Weg in die Irre führt.
Was ich sicher sagen kann: Für das Ziel meines politischen Wirkens, Tübingen bis 2030 klimaneutral zu machen, ist ihr Ansatz in keiner Weise hilfreich. Sie besprechen nicht die Hindernisse auf dem Weg der Umsetzung, sondern Probleme, die ich in der Praxis nicht auffinden kann. „Fossilität“ und Gegnerschaft zur Klimawende stehen einem klimaneutralen Tübingen nicht im Weg. Im Gegenteil, ich sehe bei der Planung, Genehmigung und Umsetzung von Klimaschutzprojekten überall genau dieselben Hürden und Probleme, die auch der Wirtschaft und den Bürgern das Leben schwer machen. Diese realen Hindernisse zu analysieren und aus dem Weg zu schaffen, würde uns viel schneller voranbringen als die Konstruktion eines gesellschaftlichen Großkonflikts zwischen „Fossilität“ und Klimaschutz.
Würden Sie über diese Gedanken einmal diskutieren wollen? Ich lade Sie gerne ein, nochmal nach Tübingen zu kommen und Ihnen zu zeigen, wie wir in nur 16 Jahren fast die Hälfte des CO2-Problems in der Stadt eliminiert haben und was wir dafür tun müssen, um bis 2030 den ganzen Weg zur Klimaneutralität gehen zu können. Wenn der Klimaschutz auch nicht über allen anderen Anliegen steht, so ist er doch eine herausragende Aufgabe unserer Zeit, die wir nur bewältigen können, wenn wir alle einbeziehen, die daran ernsthaft mitarbeiten wollen, auch wenn sie in anderen Fragen wie zum Beispiel Migration oder Gendersprache völlig verschiedener Meinung sind.
Hermann Scheers Rätsel vermochte ich als Jugendlicher übrigens nicht zu lösen. Er klärte mich daher selbst auf: Da der Wanderer nicht weiß, wer zuerst aus dem Zelt schaut, fragt er: „Welchen Weg würde dein Zeltnachbar mir nach Mekka weisen?“ Die Antwort ist immer falsch, weil der Lügner weiß, dass sein Nachbar den richtigen Weg zeigen würde und folglich das Gegenteil sagt, während der Wahrheitsliebende weiß, dass sein Nachbar den falschen Weg weisen würde und dies korrekt wiedergibt. Sich nur mit dem Wahrheitsliebenden Menschen zu befassen, bringt den Wanderer nicht weiter. Sicher zum Ziel führt ihn also nur, beide einzubeziehen, neben dem Wahrheitsliebenden auch den notorischen Lügner. Nicht moralische Distanzierung, sondern planvolle Klugheit bringt die Rettung.
Quelle: Facebook