Seine Sorge darüber, dass viele Menschen möglicherweise immer noch nicht recht begriffen haben, was die Kernfrage der gegenwärtigen gesamtwirtschaftlichen Krisensituation eigentlich ausmacht und welch fundamentale Frage sich daraus ergibt, war vor diesem Auditorium sicherlich unbegründet. Doch als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ohne Pathos bemerkte „Wir haben eine Systemkrise“, schien sich auch unter den über 300 Gästen beim Festakt aus Anlass des 60. Geburtstages des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) eine auffallende Nachdenklichkeit bemerkbar zu machen. „Es geht nicht nur um die Wirtschaft, sondern es geht um das Ganze, um den Verlust elementarer Maßstäbe“, beschrieb der CDU-Politiker die aktuelle Situation und fügte hinzu: „Das rein materialistische Denken muss verschwinden, um die Grundlagen unserer Gesellschaft zu erhalten, und es muss verschwinden, wenn wir das Erbe der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich in die Zukunft tragen wollen.“
Denn das gerade die Soziale Marktwirtschaft einer dieser elementaren Maßstäbe ist, um den ungebremsten Materialismus in Teilen der Wirtschaft mit den global so offenkundigen dramatischen Auswirkungen zu überwinden, daran ließ Rüttgers keinen Zweifel. Es mag vielleicht gerade hier die Chance für die in den Augen des Politikers erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialordnung der deutschen Geschichte liegen, deren Spielregeln weltweit zur Geltung zu bringen. Rüttgers jedenfalls sieht darin eine zentrale Aufgabe der Gegenwart, die er als Politiker mitgestalten will. „Ich suche Verbündete, die bereit sind, das Innere der Sozialen Marktwirtschaft zu vertreten und zu zeigen, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zusammengehören und möglich sind.“
Den BKU kann Rüttgers, der sich immer deutlicher als der sozialpolitische Vordenker unter den Christdemokraten profiliert, sicher an seiner Seite wissen – und das nicht erst seit der Systemkrise. Unter dem dankbaren und lang anhaltendem Beifall der Festgesellschaft hatte Rüttgers bei der Feier im Katholisch-Sozialen Institut in Bad Honnef dem BKU attestiert, großen Anteil an der Mitarbeit zur Verwirklichung des Traums vom Wohlstand für alle zu haben. In 60 Jahren engagierten Einsatzes für die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft habe der BKU vorgelebt, dass es eben nicht nur auf Profit ankomme. „Es kommt darauf an, Verantwortung zu übernehmen, für das Unternehmen, für die Mitarbeiter, für die Heimat und für die Schöpfung.“ Gedanken, die der BKU-Ehrenvorsitzende Cornelius Fetsch in seinen Schlussworten bestätigte: „Zu der Verantwortung über den eigenen Betrieb hinaus gehören auch die Fragen nach Sinn und Werten und eben auch der religiöse Horizont.“
Gegenwärtig fühlen sich rund 1250 Unternehmer, Selbständige und leitende Angestellte in bundesweit 36 Diözesangruppen diesem Selbstverständnis verpflichtet. Seit seinem Bestehen im Jahr 1949 hat sich der Verband stets mit innovativen Konzepten und dezidierten Überlegungen in die aktuelle Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebracht. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die dynamische Rente, die Wilfried Schreiber 1954 im Auftrage des BKU entwickelte oder auch an die federführende Mitwirkung am viel beachteten Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, das die Evangelische und Katholische Kirche 1997 vorlegten. Aktuelle Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit waren Modelle zur Unternehmenssteuerreform, zur Mikrofinanz in der Entwicklungspolitik oder zur Bildungsfinanzierung. Gegenwärtig wird ein Papier zur Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft in Zeiten der Globalisierung erarbeitet. Stets ging und geht es dabei darum, aus Sicht der Katholischen Soziallehre, grundgelegt in den Enzykliken „Rerum novarum“ und „Quadragesimo anno“, die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mitzugestalten. Die Botschaft des Sozialen Friedens sei, wie Wilfried Schreiber einmal betonte, die Kernbotschaft der Sozialen Marktwirtschaft.
Dennoch: Trotz eines so prominenten Bekenntnisses wie das des Vorstandsvorsitzenden der RAG-Stiftung, Wilhelm Bonse-Geuking, der in Bad Honnef die Soziale Marktwirtschaft als unverzichtbar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft lobte und sich daher die Frage nach ihrer Aktualität so gar nicht stelle, warfen auch die vielen nachdenklichen Stimmen und Gedanken beim Festakt doch auch die Frage auf, in wie weit dieses Bewusstsein denn tatsächlich vorausgesetzt und als allgemein anerkannt gewertet werden könne. So stellte Marie-Luise Dött, BKU-Bundesvorsitzende, fest: „Gerade heute müssen wir daran erinnern, auf welchen Säulen unsere Soziale Marktwirtschaft steht. Es ist sicher nicht nur die CDU-Bundestagsabgeordnete, die mit Besorgnis beobachtet, dass die ordnungspolitischen Aussagen der Sozialen Marktwirtschaft zunehmend verdrängt werden. Übrigens auch mit Bezug auf ihre wirtschaftswissenschaftliche Fortführung. Gegenwärtig ist an einigen Hochschulstandorten wie etwa in Köln, wo die Soziale Marktwirtschaft seit Jahrzehnten so etwas wie ihre wissenschaftliche Heimstatt besaß, die Zurücknahme der bewährten ordnungspolitischen Lehre zugunsten anders gelagerter volkswirtschaftlicher Lehrsysteme zu beobachten.
Ob der fachliche Rat eines so vitalen Verbands wie des BKU solche Entwicklungen entscheidend zu beeinflussen vermag, muss sich freilich noch erweisen. Dass der Verband immer häufiger in Politik und Kirche nachgefragt wird, ist jedoch wohl unbestritten. Prälat Karl Jüsten, der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, schilderte aus seinem tagtäglichen Umgang mit der Politik, dass trotz des gesellschaftlich immer wieder gefühlten Relevanzverluste der Kirchen, diese im politischen Meinungsbildungsprozess von erheblicher Bedeutung sind. „Entscheidend ist es, die Positionen etwa in sozialen und moralischen Fragen so vorzutragen, dass sie Eingang in die Politik und den Gesetzgebungsprozess finden.“ Dass die Kirchen dabei selbst auf Expertenwissen angewiesen sind, machte der Geistliche am Beispiel der gegenwärtigen Krisenszenarien deutlich: „Statt vordergründiger Betroffenheitslyrik geht es um die Erinnerung an die Grundlagen der christlichen Soziallehre und Sozialen Marktwirtschaft.“ Der BKU als die wohl einzig anerkannte Stimme der Wirtschaft in der Kirche habe hier eine besondere Verantwortung, die Kirche bei ihrem advokatorischen Eintreten für eine gesellschaftliche und soziale Wertorientierung, die dem Wohl aller diene, zu unterstützen.
Auch Ministerpräsident Rüttgers hatte in diesem Sinne eine stärkere Orientierung der Gesellschaft an christlichen Grundwerten eingefordert: „Wir müssen aufpassen, dass die Krise der Wirtschaft nicht zu einer Krise der Gesellschaft wird und die Einheit der Gesellschaft gefährdet.“ Orientierung an christlichen Grundwerten bedeute für ihn, Verantwortung zu übernehmen und sich für andere einzusetzen. Der BKU als Verband und seine einzelnen Mitglieder lebten das vor, und es klang wohl den anwesenden Mitgliedern wie eine Bestärkung in ihrem persönlichen Selbstverständnis und unternehmerischen Tun als Rüttgers betonte: „Wenn es den BKU nicht schon gäbe, müsste man ihn gründen.“
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