Welche Bedeutung hat Helmut Kohl für Sie?
Ich habe Helmut Kohl persönlich erst kennengelernt, als er schon von dem schweren Sturz gezeichnet war, der sich 2008 kurz vor meiner Amtseinführung als Bischof von Speyer ereignet hat. Dabei spielt der gemeinsame Bezug zum Speyrer Dom die entscheidende Rolle. Helmut Kohl war Vorsitzender des Kuratoriums der Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war. Der Dom zu Speyer war ihm zutiefst ans Herz gewachsen. Er selbst sprach einmal von einer „Liebesgeschichte“, die bis tief in seine Kindheit zurückreiche. Der Dom barg für ihn den Atem der Geschichte. Er war ihm Ausdruck der gemeinsamen geistigen, kulturellen und religiösen Wurzeln Europas. Und gleichzeitig war er ihm Symbol und Inbegriff seiner pfälzischen Heimat mitsamt deren bewegter Geschichte. Dass man zugleich Europäer und Patriot sein kann, dass beides nicht nur kein Gegensatz ist, sondern sich nur gemeinsam entfalten kann, dafür stand für ihn in besonderer Weise der Dom zu Speyer, der die Spuren des Auf und Ab der Geschichte in sich trägt, des zerstörerischen Potentials des Menschen wie auch des größeren Atem eines positiven Grundvertrauens in das Leben und den Schöpfer des Lebens. Vom Dom, so sagte er, könne man einen „realistischen Optimismus“ lernen, der die Grundlage seiner Vision eines versöhnten und friedlichen Europas war, für die er sich nicht zuletzt aus den bitteren Erfahrungen seiner Kindheit in den Kriegsjahren heraus mit ganzer Kraft einsetzte. Deshalb führte er in seiner aktiven Zeit viele Staatsführer bei ihren Deutschlandbesuchen gezielt auch in den Speyrer Dom, dem er auf diese Weise internationale Aufmerksamkeit zukommen ließ. Das nicht spannungsfreie, aber einen großen geistigen und kulturellen Raum schaffende Zueinander von weltlichem und geistlichem Bereich war für ihn unmittelbar in den tausend Jahre alten Mauern der Speyrer Kathedrale zu erfahren. In dieser Wertschätzung für den Dom und dem Einsatz für sein geistiges, kulturelles und religiöses Erbe für unsere Zeit wurzelt die Bedeutung, die Helmut Kohl für mich als Bischof von Speyer hatte.
Was schätzten Sie besonders an Helmut Kohl?
In meiner Predigt in der Totenmesse für den verstorbenen Bundeskanzler habe ich Gedanken meines Vorvorgängers als Bischof von Speyer, Kardinal Friedrich Wetter, aufgenommen, die er angesichts des vom Land Rheinland-Pfalz dem Dom zum 900jährigen Jubiläum geschenkten neuen Hauptportals äußerte. Als dieses Geschenk dem Dom übergeben wurde, war Helmut Kohl Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Kardinal Wetter hat dieses Geschenk als besonders sinnfällig im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Staat und das Selbstverständnis des christlichen Politikers Helmut Kohl charakterisiert. Ein Portal trenne nicht nur die unterschiedlichen Bereiche klar voneinander, sondern es verbinde sie auch miteinander. Dieses „befruchtende Zueinander des Politikers und des gläubigen Christen“ hat Kohl zutiefst geprägt und ihn, wie ich in dem Gottesdienst ausgeführt habe, „zu einem herausragenden Staatsmann und zu einer weltweit geachteten Persönlichkeit“ werden lassen. Es hat mich beeindruckt, wenn dieser Mann, der mit der deutschen Einheit Weltgeschichte geschrieben hat, im Rollstuhl von seiner Frau in den Dom geführt, sich ganz einfach unter die Gläubigen einreihte. Und bei den letzten Begegnungen mit ihm im Dom hat mich sein schlichter kindlicher Glaube berührt, den er von seiner Mutter ererbt hatte. Bei allem, was auch an Unversöhntheit bis zuletzt über seinem Leben stand, in ihm war das Wissen darum, dass der Mensch einer größeren Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bedarf. Das berührt mich an ihm bis heute. Ich habe es in der Totenmesse so ausgedrückt: „Vielleicht ist Helmut Kohl auch deswegen immer wieder in diesen Dom gekommen, weil ihm durch seinen Glauben bewusst war, dass der Mensch allein sein Werk nicht vollenden kann. Ja, noch mehr, dass nicht nur das Unvollendete, sondern auch das Unversöhnte und das Schuldhafte im Leben nur in Gott Erlösung finden kann. Es war nicht nur der große Atem menschlicher Geschichte, sondern auch der große Atem des Gebetes unzähliger Menschen und Generationen, der für ihn in diesem Haus existentiell spürbar war. Er kam in das Haus Gottes immer auch als Beter.“
Welchen Stellenwert hat Helmut Kohl in der deutschen / europäischen Geschichte?
Seine Bedeutung in der deutschen und der europäischen Geschichte ist tief damit verbunden, dass er, vorgeprägt durch die großen visionären Wegbereiter des neuen Europas, darunter vor allem Robert Schuman und Konrad Adenauer, die entscheidende Stunde seines politischen Lebens und der Weltgeschichte erkannt und ergriffen hat: die Möglichkeit zur deutschen Einheit in fester europäischer Einbindung. In Rom findet sich in der deutschen Nationalkirche, der „Anima“, das Grabmal des letzten deutschen Papstes vor Benedikt XVI. Der humanistisch gebildete Papst musste trotz seiner Bemühungen, die auch ein Schuldgeständnis der Kirche umfassten, erleben, dass es zu spät war, die Kirchenspaltung infolge der Reformation aufzuhalten. „O weh, wie viel hängt davon ab, in welche Zeiten auch des besten Mannes Wirken fällt!“ steht deshalb als Inschrift auf seinem Grab. Bei Helmut Kohl können wir die positive Möglichkeit dieses Spruches entdecken. Er hat im entscheidenden Moment das Zeitfenster, das sich auftat, erkannt. Das Zusammentreffen der Gunst der Stunde mit dem Menschen, der sie ergreift, bildet das Geheimnis der Geschichte. Der Fall der Mauer und die Einheit selbst waren ein Werk vieler, vor allem der mutigen Menschen im Osten Deutschlands. Dennoch: Die deutsche Einheit, fest eingebunden in die Europäische Gemeinschaft, wird zu Recht immer mit Helmut Kohls Namen verbunden bleiben.
Welche Begegnung mit Helmut Kohl ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Unvergesslich bleiben für mich die letzten beiden Besuche zusammen mit seiner Ehefrau jeweils kurz vor Weihnachten im Speyrer Dom, die schon ganz von seinem körperlichen Verfall geprägt waren. Aber in seinen glänzenden Augen konnte ich ablesen, wieviel ihm diese letzten Besuche in seinem geliebten Dom bedeuteten. Da strahlte für einen Augenblick auch ganz ohne Worte sein ganzes Lebenswerk, die Leidenschaft seines Lebens, die Vision, die ihn trug, auf. Es waren nur wenige Leute im Dom. Fast unerkannt zündeten wir eine Kerze an, beteten miteinander ganz schlicht ein Vaterunser und ein Ave Maria. An den Bewegungen in seinem starr gewordenen Gesicht merkte ich, dass er mitbetete. Was er alles damit verband, bleibt das Geheimnis zwischen ihm und dem eigentlichen Herrn des Lebens und der Geschichte. Mich jedenfalls haben diese letzten Begegnungen mit dem lebenden Helmut Kohl unvergesslich berührt.
Helmut Kohl war als christlicher Politiker und gläubiger Mensch zutiefst geprägt von der Grundüberzeugung: „Nie wieder Krieg“ und von der Vision eines friedlichen Deutschlands fest eingebunden in ein miteinander versöhntes Europa.
Helmut Kohl hat deshalb, bei allem Fragwürdigen und Unversöhnten, das sein Leben auch umgab, zurecht einen Platz in der Reihe der großen europäischen Politiker und Visionäre unserer Zeit inne.