… bis Sindbads Schiff am Magnetberg zerschellt – Die Münchner Philharmoniker mit Rafael Payare am Pult: Jubel und Triumph der Jugend

Gerade dann, wenn die Konzertmeister-Violine in filigranen Tönen die E-Saite schwelgerisch traktiert, um Scheherezade von Sindbad, dem Seefahrer und des Prinzen Kalenders werbende Ausfahrt erzählen zu lassen, rutschen einem Orchestergeiger die Noten vom Pult. Kein böser Blick des Dirigenten, der anstelle des zuerst vorgesehenen Lorin Maazel agiert. Scheherezade darf weiter phantasieren. Rafael Payare, mit 35 Jahren einer der erstaunlichsten unter den reüssierenden Dirigenten, nimmt den Zwischenfall gelassen. Konzentriert sich aufs märchenhaft-üppige Epos, das Nikolaj Rimskij-Korsakow 1888 so wuchtig wie zauberhaft, so emotionsgeladen wie orientalisch verschnörkelt, so exotisch wie erotisch in Töne fasste: Episoden aus „Tausend und eine Nacht“. Der Venezulaner, der als Hornist bei „El Sistema“ des legendären José Antonio Abreu begann und seit 10 Jahren die dirigentische Karriereleiter hochkraxelt, spart nicht, so schmal und zerbrechlich er wirkt,mit Brio und Energie. Lässt die Münchner Philharmoniker ins Meer einer wunderbaren Orchester-Erzählung abtauchen, ohne Anstrengung, mit Verve und Sinn fürs orchestrale Detail, bei Fagott und Horn hinten nicht weniger als beim 1. Sologeiger vorne links neben ihm. Das Matinee-Publikum horcht gebannt, wagt keinen Muckser. Bricht am Ende, aber erst nach einer Viertelminute absoluter Durchatmens-Ruhe, in Jubel aus. Die Ekstase baute sich orgiastisch auf – bis Sindbads Schiff an den Klippen des Magnetbergs zerschellte.
Heftigen Applaus spendeten die Zuhörer schon vor der Pause. Er galt den sich völlig eins gewordenen Interpreten von Jean Sibelius` 90 Jahre altem Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47: denbombensicheren, einfühlsamen Philharmonikern, ihrem fähigen Lorin Maazel-Ersatz am Pult, aberinsonderheit dem seinen Ruf als Weltklasse-Geiger in München festigenden Sergey Khachatryan. Der 30-Jährige stellt sich mutig der diffizilen Aufgabe, Sibelius` zermürbender Melancholie beredten Ausdruck zu geben – und gewinnt auf der ganzen Linie. Geschmacksicherheit und Intensität, womit sich der Armenier in Sibelius` schwierig zu spielendes wie spröde zu rezeptierendes Werk, gewidmet einem großen (deutschen) Violinisten seiner Zeit, Willy Burmeister, vertieft und es mit ausgeklügelter Raffinesse meistert, ästimiert das Publikum rückhaltlos. Es findet unter den zeitgenössischen jungen Instrumentalisten einen neu aufgehenden Stern, der nun auch über München strahlt. Khachatryan und Payare: ein Triumph-Gespann hochkarätiger jugendlicher Klassik-Interpretation.
Das Duftige gewann das von Payare offenbar angetane Orchester bereits eingangs einem Werk ab, das eigentlich heroisch daherkommt, den Inbegriff der musikalisch gefassten Klage eines politisch widerrechtlich Inhaftierten darstellend: Beethovens 3. Leonoren-Ouvertüre von 1806. Die glutvolle Widerspiegelung von Verzweiflung und Hoffnung auf Rettung kostete Payare, bei manchmal allzu kräftig geratenen Tutti-Stellen, bis ins Letzte aus. „Fidelio“ ganz zu hören, unter Rafael Payares Leitung – dieser Wunsch formulierte sich am Ende der 12-minütigen Einleitung eines nachhaltig erlebten, jugendlich dominierten Konzerts in der Philharmonie am Münchner Gasteig. Hans Gärtner
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Dirigent Rafael Payare und Soloviolinist Sergey Khachatryan nehmen in der Philharmonie am Münchner Gasteig den starken Beifall des Konzert-Publikums entgegen. (Foto: Hans Gärtner )

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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