Kurz vor seinem Tod im Oktober 2015 resümierte der Schriftsteller Henning Mankell: „Leben besteht im Grunde aus zwei Dingen: zu überleben und herauszufinden, was nicht stimmt.“ Er beschreibt damit ein Lebensgefühl, das mit der Generation Y zur Grundhaltung wurde und einem philosophischen Urimpuls entspricht: Was soll das Ganze? „Was gibt uns das Zeitalter, in dem wir leben? Welche Dinge haben einen Wert? Welche Dinge haben keinen Wert?“ (Alain Badiou) Wer so fragt, stößt meist, wie schon Sokrates, auf Ungereimtheiten oder gar Missstände.
Glaubt man den Gazetten, so leben wir in einer schwierigen Zeit: Krise hat Konjunktur. In jedem zweiten Editorial wird mittlerweile Hamlet falsch übersetzt: Die Welt sei aus den Fugen. Und in der Tat fiele es leicht, Ereignisse der jüngsten Zeit aufzuzählen, die Bestürzung ausgelöst haben. Die Frage muss also lauten, inwieweit es um mehr geht als eine Ausweitung der kulturellen Kampfzone und inwieweit das Unbehagen in der Gesellschaft etwas zu tun mit der „äußeren“ Bedrohungslage.
Zu konstatieren ist, dass man durch eine möglichst durchgängige Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse („Neoliberalismus“) den Daseinskampf auch im Westen in Lebensbereiche getragen hat, die bisher davon weitgehend unberührt geblieben waren: Die Nischen sterben aus; Amüsement und Therapie werden ununterscheidbar; jede Lebensäußerung wird zum Asset des Arbeitskraftunternehmers seiner selbst.
Wo also stehen wir? 10 Thesen zur geistigen Situation der Zeit.
Spiegelverkehrt oder Todestrieb und Gleichschaltung. Die Zivilisation nach westlichem Modell siegt sich zu Tode. Sowohl in der äußeren als auch in der inneren Wirklichkeit kolonisiert sie die Welt und die Menschen, sie ist eine monotheistische Maschine, die sich alles anähnelt. Ihr Gebot lautet: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Dem weichen Totalitarismus des Westens, der mit seinen Banken, Industrien und Agenturen aller Art die Erde umwälzt (schöpferische Zerstörung), entspricht als Gegenbewegung der Terrorismus, der zur Artikulation eines spirituellen Lebens ebenso unfähig ist und deshalb im Namen einer obsoleten Religion auf reine Zerstörung setzt. Beiden gemein ist die subjektive Leere, die sich jenseits automatisierter Lebensvollzüge keinen Rat mehr weiß.
Günther Anders reloaded. Jede Art von Progressivismus ist heute technisch grundiert; die technologische Eigendynamik ist es, die die Vorstellung von Fortschritt durchgehend bestimmt. Die Träume der Transhumanisten formen die Wahrnehmung des Wirklichen in seiner Ausrichtung auf Zukunft: Warten nicht auf Godot, sondern auf das nächste Gadget.
Ersticken an der Oberfläche. Im grassierenden Urbanismus des 21. Jahrhunderts geht die Fähigkeit verloren, „den Dingen auf den Grund zu gehen“. Die nicht zuletzt durch die Smartphone-Revolution befeuerte Fragmentierung der Erfahrung untergräbt die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. „Reale“ und „virtuelle“ Ereignisse werden im Trommelfeuer ununterbrochener „Kommunikation“ ununterscheidbar – zudem sind Macht und Medien in unheilvoller Weise verklammert: Gestützt auf die Herrschaft des Diskurses verhindern sie Erfahrungsfähigkeit durch die Hegemonie konformistischer Erschlossenheit sowie eingeübter Redeweisen und Deutungen.
Systemischer Irrationalismus. An die Stelle der sinnstiftenden Totalität („Gott“) ist das Apriori der arbeitsteiligen Gesellschaft mit ihren verselbständigten Teilsystemen getreten, die in der Weise des sich gegeneinander Abschließens und Beharrens auf der je eigenen funktionalen Rationalität Ergebnisse produzieren, die vom Standpunkt einer Vernunft, die den Menschen als Zweck begreift (Kant), irrational und absurd wirken.
Nach den Ideologien. „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ (Peter Sloterdijk) Auf der einen Seite die Erfahrung nie gekannter Menschenverachtung und Zerstörung durch Weltkriege und politische Verbrecherbanden, auf der anderen Seite die Erkenntnis, das dem Denken, dem Begriff selbst, eine Mitschuld zukommt: Die so erhaben wirkende Arbeit des Gedankens ist von Ideologie und Herrschaft nicht zweifelsfrei zu unterscheiden; jede Philosophie ist nicht nur „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, sondern eben auch nur eine elaborierte Form von Meinung, die bestimmte Interessen vertritt: Kant war ein Frauenfeind. Marx war Antisemit.
Die Illusion der Inklusion. Wenn wir versuchen, das Bürgertum sub specie aeternitatis als historische Formation zu begreifen, die irgendwann zu Ende geht – was wären seine Insignien? Unter Vermeidung des Begriffs Kapitalismus als einerseits abstrakt, andererseits überdeterminiert wird Exklusion in all ihren Formen zur bürgerlichen Kategorie par excellence: der Nicht-Weißen, der Arbeiter, der Frauen, der Andersdenkenden, der Unfähigen und derjenigen, die für uns in fern und nah die Drecksarbeit machen: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die der anderen.“ (Stephan Lessenich).
Der neue Mensch oder Kommunismus als Geschäftsmodell. Die durch die Digitalisierung potenzierte planetare Technik schafft das, wonach die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts vergeblich strebten: den neuen Menschen – marktkompatibel, glaubenslos und Spaß dabei, dabei allzeit zum „elbowing“ bereit. Dem entspricht der Siegeszug des Plattformkapitalismus: Er kommerzialisiert Bereiche, die bisher dem menschlichen Miteinander vorbehalten waren: So wird mit AirBnB das Teilen der eigenen Wohnung zum Geschäft, und damit, nach einem Gedanken von Byung-Chul Han, der Kommunismus als „community“ zum Produkt des Kapitalismus.
Philosophie als Sich-Offenhalten für das Andere. Philosophisches Denken bezieht seine Stärke aus dem theoretischen Abbau geronnener Verhältnisse. Es entlarvt den Herrschaftscharakter der gängigen Phrasen und Floskeln und dekonstruiert die Diskurse, die das Bestehende zum alleinigen Maßstab des Seins und Denkens erklären – es bringt die verfestigten Zustände wieder zum Tanzen, um die Aussicht auf Anderes überhaupt wach zu halten.
Survival of the fittest. Aus der religiösen Vergangenheit geblieben ist der Umstand, dass das ganze Leben als Anpassungs- und Gesinnungsprüfung erscheint, als Glaubenstest der Begrenztheit des bürgerlichen Daseins, als Vermählung mit der Endlichkeit des Unausweichlichen: „Calm, fitter, healthier, and more productive“ (Radiohead). Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, wenigstens daran hat sich seit 1840 nicht viel geändert.
Kein richtiges Leben im falschen. Aus Sicht asiatischer Lebensweisheit haben wir ein absurdes Verhältnis von Leben und Tod eingenommen: „Wir sind zu lebendig, um zu sterben, und zu tot, um zu leben.“ (Byung-Chul Han, zitiert nach ZDF Aspekte). Die Lebensführung im Ganzen ist es, der Sinn abgeht: „Der Mensch lebt, als würde er nie sterben, und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.“ (Tenzin Gyatso) Die konsumistische „Lebensersatzhygiene“ (Habermas) kennt offenbar nur ein Ziel: das der Fortsetzung ihrer auf Raubbau angelegten Lebensweise um jeden Preis.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch in der verwalteten Welt lässt es sich prima leben, wenn man sich von Fanatismus, den Ausgeschlossenen und dem „integralen Unfall“ (Paul Virilio) nicht weiter stören lässt.
Was aber wäre eine Kolumne ohne Trump? Die Fratze des hässlichen Amerikaner ist wieder da, und man weiß oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Dabei lieferten die Erklärung für das Phänomen „The Donald“ schon vor einiger Zeit zwei seiner Landsleute. Der Dunning-Kruger-Effekt besagt sinngemäß: Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er im Grunde gar nicht wissen, dass er inkompetent ist – so einfach ist das!
Folgerichtig fallen in Trumps Selbstlob nach 100 Tagen, es sei der beste Start einer Präsidentschaft in der Geschichte der USA gewesen, Satire und Realität auf eine Weise zusammen, die jede Parodie oder gar Kritik obsolet erscheinen lässt: Am Sieg des totalen Selbstmarketings des blender of the blenders werden weitere unheilvolle Tendenzen des Zeitalters offenbar: Overstatement statt Verantwortung, Selbstsuggestion statt Moral.
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